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"Ungarn schießen nicht auf Ungarn"

Von Rolf Steininger

Reflexionen

Vor 60 Jahren, am 23. Oktober 1956, begann der ungarische Volksaufstand, der - nach ersten Erfolgen - von den Sowjets rasch niedergeschlagen wurde.


Am 4. November 1956, um 5.19 Uhr, unterbrach der Sender Budapest mit folgender Meldung sein Programm: "Achtung! Achtung! Achtung! Ministerpräsident Nagy wendet sich jetzt an das ungarische Volk." Dann meldete sich Imre Nagy mit den Worten: "Hier spricht Ministerpräsident Imre Nagy. Sowjetische Truppen haben im Morgengrauen zu einem Angriff auf unsere Hauptstadt angesetzt, mit der eindeutigen Absicht, die gesetzmäßige demokratische Regierung der Ungarischen Volksrepublik zu stürzen. Unsere Truppen stehen im Kampf. Die Regierung ist auf ihrem Platz. Ich bringe diese Tatsache unserem Land und der ganzen Welt zur Kenntnis."

"Bester Schüler Stalins"

Nach dem Abspielen der ungarischen Nationalhymne wurde die Erklärung Nagys im Abstand von zwei Minuten mehrfach auf Englisch, Französisch, Deutsch und Russisch wiederholt. Wenige Stunden zuvor waren 200.000 Rotarmisten mit 5500 Panzern zum Angriff gegen Ungarn und seine Hauptstadt angetreten. Das Ziel war die Zerschlagung einer Regierung, die mit ihrer Politik offensichtlich zu katastrophalen Konsequenzen für die sowjetische Kontrolle Osteuropas geführt hätte. Zumindest war das Moskaus Befürchtung.

Wie allen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang hatte Stalin nach 1945 auch Ungarn seinen Stempel aufgedrückt und das Land in eine kommunistische Diktatur verwandelt. Helfershelfer war Mátyás S. Rakosy, der sich selbst als "besten Schüler Stalins" bezeichnete. Während seiner Herrschaft bis zum Tode Stalins im März 1953 wurden mehr als 2000 Ungarn exekutiert und zwischen 100.000 und 200.000 inhaftiert.

In der Unsicherheit der Stalin-Nachfolge entfaltete die neue sowjetische Führung wenige Tage nach dem Tod des Diktators eine bemerkenswerte Aktivität. Es begann jene "Tauwetterperiode", die im Westen allerdings nur als taktisches Manöver zur Machtkonsolidierung, nicht aber als grundsätzliche Änderung des außenpolitischen Kurses der neuen Kremlführung gewertet wurde. Immerhin wurde Rakosy im Juni 1953 abgelöst und durch den unbelasteten Imre Nagy ersetzt.

Nagy war ein liberaler Kommunist, der in seiner Regierungserklärung neue Ziele und Methoden verkündete, die viele als wirkliche Reformen betrachteten. Rakosy war zwar nicht mehr Regierungschef, spielte allerdings als Parteichef nach wie vor eine wichtige Rolle im Hintergrund. Im Frühjahr 1955 musste Nagy zurücktreten, Rakosy und seine Gruppe übernahmen erneut die Macht.

Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 rechnete der neue starke Mann der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, mit Stalin und dem Stalinismus ab. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles nannte die Rede "die schlimmste Verurteilung eines despotischen Regimes durch einen Despoten".

Was Chruschtschow wohl nicht vorausgesehen und wohl auch nicht beabsichtigt hatte: Seine Rede führte innerhalb der kommunistischen Parteien in Osteuropa zu schweren Erschütterungen. Im Gefolge der Entstalinisierung kam es zunächst im Juni in Polen zum Aufstand der Arbeiter. Und dann in Ungarn.

Es begann am 23. Oktober, als Studenten der Technischen Universität Budapest eine Demonstration aus Solidarität mit den polnischen Arbeitern durchführten. Erkennbar ging es um eine Demonstration gegen die Herrschaft der kommunistischen Partei, der sich schon sehr bald Tausende anschlossen.

Bewaffneter Aufstand

Am Abend versammelten sich rund 250.000 Menschen. Ihre Forderungen: Abzug aller Sowjettruppen, Abschaffung des Russischunterrichts, Pressefreiheit, Streikrecht für die Arbeiter, freie und geheime Wahlen und vor allen Dingen Imre Nagy als neuen Regierungschef. Am Rundfunkhaus wurde die Veröffentlichung dieser Parolen gefordert. Als dies nicht gestattet wurde, wurde das Gebäude gestürmt. Dabei eröffnete der Geheimdienst das Feuer und tötete mehrere Studenten. Aus einer friedlichen Demonstration war endgültig ein bewaffneter Aufstand gegen das kommunistische Regime geworden.

In den Morgenstunden des 24. Oktober wurden das Rundfunkgebäude und mehrere Zeitungshäuser besetzt, während erstmals sowjetische Panzer in Budapest auftauchten, über das der Ausnahmezustand verhängt worden war.

Noch am selben Tag wurde Imre Nagy zum Ministerpräsidenten ernannt. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass am nächsten Tag vor dem Parlamentsgebäude die Geheimpolizei ein Blutbad anrichtete und über 100 Menschen tötete. Inzwischen hatten die Demonstranten auch das 30 Meter hohe Stalin-Denkmal gestürmt, dessen Kopf abgeschlagen und durch die Straßen geschleift.

ZK-Entscheidung

In dieser Situation sprach der sowjetische Botschafter in Budapest, Juri Andropow (der 1982 Generalsekretär der KPdSU werden sollte), "von einer außerordentlich gefährlichen Situation und der Notwendigkeit für ein sowjetisches militärisches Eingreifen". Das ZK der KPdSU sprach sich am Abend des 23. Oktober für den Einsatz der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen aus. Diese erreichten am Morgen des 24. Oktober Budapest und eroberten das Rundfunkgebäude zurück. Die Aufständischen kämpften lediglich mit Handfeuerwaffen und Molotow-Cocktails, erzielten aber dennoch beträchtliche Erfolge: so setzten sie einige sowjetische Panzer in Brand und töteten zahlreiche Soldaten.

Zur Schlüsselfigur wurde dann Oberst Maléter, der sich mit seinen Truppen auf die Seite der Aufständischen gegen die Sowjets stellte - mit der Parole: "Ungarn schießen nicht auf Ungarn". Am 27. Oktober flauten die Kämpfe ab, nachdem Nagy eine neue Regierung gebildet hatte - unter Beteiligung bürgerlicher Politiker. Mit den ersten Maßnahmen erfüllte diese Regierung maßgebliche Forderungen der Aufständischen: sofortige Feuereinstellung, Amnestie für die Hauptbeteiligten, Auflösung der verhassten Staatssicherheit, Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ungarn.

In den frühen Morgenstunden des 30. Oktober erklärte Maléter - inzwischen Verteidigungsminister -, er habe den sowjetischen Oberkommandierenden um den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Stadtgebiet von Budapest ersucht, und fuhr dann fort: "Nach der erfolgten Zustimmung des Oberbefehlshabers werden die sowjetischen Truppen am 30. Oktober, 16.00 Uhr, mit ihrem Abzug beginnen."

Bis zum Morgen des 31. Oktober sollte der Abzug planmäßig abgeschlossen sein.

Am selben Tag gab Nagy die Abschaffung der Einparteienherrschaft und die Wiederherstellung einer demokratischen Regierungsform bekannt. Das sozialistische Wirtschaftssystem sollte aber beibehalten werden. Gleichzeitig wurden politische Häftlinge befreit, unter anderem Kardinal Jószef Mindszenty, der im Februar 1949 in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er war inzwischen zu einer Symbolfigur des antikommunistischen Widerstands geworden und wandte sich am 3. November, einen Tag vor der sowjetischen Militärintervention, im Rundfunk an seine Landsleute. Er rief sie zu Ruhe und Besonnenheit auf und meinte: "Wir, eine kleine Nation, möchten sowohl mit den Vereinigten Staaten von Amerika als auch mit dem mächtigen russischen Reich in Freundschaft und gegenseitiger Achtung leben. Unsere gesamte Lage und unsere Zukunft werden im Augenblick durch die Frage bestimmt, was das 200-Millionen-Reich der Sowjets mit seiner militärischen Gewalt innerhalb unserer Grenzen zu tun beabsichtigt. Wir sind neutral, wir geben dem Russischen Reich keinen Anlass zum Blutvergießen."

Drei Tage vorher hatte Nagy allerdings in einem Schreiben an die UNO der Welt mitgeteilt, "dass die ungarische Regierung die Sowjetbotschaft in Budapest von der Tatsache in Kenntnis gesetzt hat, dass der Warschauer Pakt gekündigt und die Neutralität Ungarns erklärt und die Vereinten Nationen gebeten wurden, die Neutralität des Landes zu garantieren".

Die Intervention

Die öffentliche Ankündigung der Absichten Ungarns war in dieser unglaublich gespannten Situation aber zumindest naiv und hat in Moskau mit zu der Entscheidung geführt, militärisch einzugreifen. Aus neuen Dokumenten wissen wir inzwischen auch, dass Chinas Mao Zedong auf eine Intervention gedrängt hat - unter Hinweis auf die nicht abzusehenden Auswirkungen auf das kommunistische Lager insgesamt.

Am 30. Oktober hatte die sowjetische Führung eine Erklärung veröffentlicht, in der es hieß, dass die sozialistischen Länder ihre gegenseitigen Beziehungen "nur auf den Prinzipien der völligen Gleichberechtigung, der Achtung der territorialen Integrität, der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität sowie der gegenseitigen Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten aufbauen" könnten. In Budapest wähnten sich einige am Beginn einer neuen Ära, während der sowjetische Generalstab bereits Pläne für die Operation "Wirbelsturm" - die abschließende militärische Operation gegen Ungarn - ausarbeitete.

Noch am 30. Oktober plädierte Chruschtschow für einen Abzug, änderte am nächsten Tag allerdings seine Meinung. Mitentscheidend dafür war der Angriff von Israelis, Briten und Franzosen gegen Ägypten, der am selben Tag begonnen hatte. Chruschtschow jetzt: "Wenn wir uns aus Ungarn zurückziehen, gibt das den Amerikanern, Engländern und Franzosen - den Imperialisten - großen Auftrieb. Sie werden es als Schwäche unsererseits auslegen und in die Offensive gehen. Zu Ägypten werden sie dann Ungarn hinzufügen. Wir haben keine andere Wahl."

Am Morgen des 4. November begann der Angriff. Während die Sowjets auf Budapest vorrückten, bildeten sie mit János Kádár in der ostungarischen Stadt Szolnok eine kommunistische Gegenregierung. Um 5.05 Uhr teilte Kádár über Radio Szolnok mit, seine Regierung habe die Sowjetunion um Hilfe ersucht, "die dunklen reaktionären Kräfte zu vernichten und Ruhe und Ordnung im Lande wiederherzustellen". (Später hat sich die Sowjetunion zur Rechtfertigung ihrer Intervention immer wieder auf diesen sogenannten Hilferuf der Kádár-Regierung berufen.)

Eine Viertelstunde später verlas Nagy die am Anfang dieses Beitrages erwähnte Erklärung. Wenig später löste sich die Regierung auf, Kardinal Mindszenty flüchtete in die amerikanische Botschaft, wo er mit Zustimmung von US-Präsident Eisenhower Asyl erhielt. Er blieb dort bis 1971. Danach lebte er in Wien im Exil, wo er 1975 starb. Am 7. November 1956 kehrte Kádár nach Budapest zurück. Nagy war in die jugoslawische Botschaft geflüchtet, die die Sowjets abgeriegelten.

Haltung des Westens

Hat der Westen damals versagt? Als sowjetische Truppen den Angriff auf Budapest begannen und in den Straßen der ungarischen Hauptstadt gekämpft wurde, rechneten viele Ungarn, die Radio Free Europe - ein Sender des amerikanischen Geheimdienstes CIA - gehört hatten, damit, dass der Westen ihnen militärisch zu Hilfe kommen würde. Aber von den USA kam keine Hilfe. (Siehe dazu Artikel über Radio Free Europe.)

Der Nationale Sicherheitsrat in Washington befasste sich am 26. Oktober erstmals mit den Vorgängen in Ungarn. Und da wurde besonders deutlich, dass die amerikanische roll-back-Politik der Eisenhower-Regierung - Befreiung der von den Kommunisten unterdrückten Völker - reine Befreiungsrhetorik war und Ungarn zu keinem Zeitpunkt eine besonders wichtige Rolle zugestanden wurde. Von der CIA wurde dem Land seit Anfang der 1950er Jahre die niedrigste Priorität unter allen Ostblockstaaten beigemessen; es gab dort keine CIA-Aktivitäten.

Die CIA wurde denn auch von den Ereignissen völlig überrascht. Eisenhower sah in der Sitzung am 26. Oktober in erster Linie die Gefahr, dass Moskau überreagieren würde und es zu einem Krieg kommen könnte. Sein Berater für Abrüstungsfragen, Harold Stassen, machte daraufhin folgenden, bemerkenswerten Vorschlag: Die US-Regierung solle Moskau unverzüglich versichern, dass sie keinerlei Interesse daran habe, Ungarn in die NATO zu ziehen und vielmehr eine Neutralität nach dem Vorbild Österreichs erwäge.

Am Ende bat Eisenhower seinen Außenminister John Foster Dulles, diesen Vorschlag zu prüfen. Der erklärte am nächsten Tag öffentlich, die USA betrachteten Ungarn und Polen nicht als potentielle militärische Verbündete. Entsprechend informierte der amerikanische Botschafter in Moskau, Charles Bohlen, den Kreml. Das war nichts anderes als ein Freibrief für sowjetisches Eingreifen in Ungarn. Dem entsprach die Anweisung der CIA-Zentrale vom 29. Oktober, dass es "nicht erlaubt war, amerikanische Waffen nach Ungarn zu transportieren", obwohl Radio Free Europe das Gegenteil verbreitete. Das war verwerflich. Washington beschränkte sich auf einen scharfen Protest im Kreml. Die "New York Times" nannte die Dinge beim Namen. Sie warf der Sowjetunion den "gemeinsten Verrat und die niederträchtigste Hinterlist seit Menschengedenken" vor und verurteilte die Invasion Budapests als "monströses Verbrechen am ungarischen Volk", das "niemals verziehen werden kann". Die USA wurden nicht erwähnt.

Fast zeitgleich mit der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes gab es die Suezkrise (siehe Artikel). Der sowjetische Regierungschef Bulganin warnte Eisenhower, die Kämpfe im Nahen Osten könnten zu einem Weltkrieg führen, und schlug vor, gemeinsam mit den USA militärisch einzuschreiten. Eisenhower wies den sowjetischen Vorschlag verärgert zurück. Immerhin ging man mit den Sowjets im UN-Sicherheitsrat zusammen, um in einer Resolution gegen Briten, Franzosen und Israelis die Kämpfe am Suezkanal zu beenden. Das löste allerdings im Westen Kritik gegenüber den Amerikanern aus, weil sie zu einem Zeitpunkt mit den Sowjets zusammengingen, als diese den Aufstand in Ungarn blutig niederschlugen. In jedem Fall war es das Ende der gemeinsamen Aktion.

200.000 Flüchtlinge

Am Ende gab es in Ungarn 2652 tote Kämpfer und rund 19.000 Verwundete; die Sowjets verloren etwa 2000 Soldaten. Nagy verließ am 22. November die jugoslawische Botschaft. Die von Kádár zugesicherte Amnestie wurde nicht eingehalten: Nagy wurde 1958 hingerichtet, und nach 1989 offiziell rehabilitiert. Auch Kardinal Mindszenty wurde postum rehabilitiert, die Urteile gegen ihn wurden aufgehoben.

Im Gefolge des Aufstands wurden 500 Menschen wegen Beteiligung zum Tode verurteilt. Von den 10.000 Verhafteten erhielt die Mehrheit langjährige Gefängnisstrafen . Etwa 1000 Aufständische - unter ihnen auch Kinder - wurden in die Sowjetunion deportiert. 200.000 Ungarn flüchteten damals ins westliche Ausland, 180.000 davon nach Österreich, wo rund 18.000 blieben.

1991 hob das ungarische Parlament die Verjährung der Verbrechen rund um den Aufstand auf, um noch lebende Personen vor Gericht stellen zu können.

Rolf Steininger war von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2010 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck; von ihm ist soeben erschienen: "Der Kalte Krieg. Die neue Geschichte", LZT Verlag, Erfurt 2016, 172 S. www.rolf steininger.at