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Diagnose: "Patient"

Von Birgit Schwaner

Reflexionen

Wer sich für längere Zeit im Spital aufhalten muss, lebt in einem halböffentlichen Raum und ist damit konfrontiert, nur noch ein Objekt der medizinischen Behandlung zu sein. Ein Erfahrungsbericht.


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Ein Krankenhaus mag der Ort sein, wo einem das Leben gerettet wird, aber niemals der, an dem man gesundet. Ersteres verdankt sich denen, die hier arbeiten. Zweiteres jenen, die sie behindern. Denn Krankenhäuser, wie wir sie kennen, sind auch Institutionen eines zunehmend bürokratisierten und ökonomisierten Gesundheitssystems. Darin wird letztlich nur geduldet, wer den entsprechenden Verwaltungen, Ämtern und Kassen zuarbeitet: aktiv, indem er Formulare ausfüllt, Berichte und Ansuchen schreibt, Erklärungen unterschreibt usw. - und passiv, indem er sich verwalten lässt. So ist das Heilen und Geheiltwerden ans Verwalten und Verwaltetwerden gebunden.<p>Dieser Zwiespalt zeigt sich schon im Begriff "Krankenhausbetrieb": Ein Krankenhaus sollte der Behandlung und Genesung von Kranken dienen, was wiederum mit Betriebsamkeit - oder, um eine aktuelle Worthülse anzuführen: Effizienz - nicht gut vereinbar ist. Und doch sind unsere Krankenhäuser Betriebe, und werden, soweit nicht eingespart, weiter dazu gemacht. Sie gelten als funktionierend, wenn alle Beteiligten die für sie vorgesehenen Rollen erfüllen und darin möglichst zuverlässig, berechen- und einplanbar bleiben.

<p>Das ist die eine Seite, und es gibt auch prinzipiell wenig gegen eine Tugend wie Zuverlässigkeit einzuwenden - außer, dass im Einzelfall kein zuverlässiger Arzt, keine verlässliche Ärztin, keine erfahrene Stationsschwester, zugleich zuverlässig einplanbar sein wird. Warum auch? Weder das Leben ist’s, noch der Tod, und ebenso wenig die Krankheiten und Gebrechen, mit denen man es in diesem Betrieb zu tun hat - der eben darum nicht zu sehr zum "Betrieb" gemacht werden darf. Oder dürfte - im Interesse der Menschen, die behandelt und automatisch in eine "verwaltbare" Rolle gestupst wurden: jene der Patienten.<p>

Jeder ist ein Einzelfall

<p>Dabei ist, präzise betrachtet, jeder Patient nicht nur ein Individuum, sondern auch ein Einzelfall, dem die auf Mittelwerten beruhenden Studien und Statistiken - die Daten, auf die sich Wissenschaft und Bürokratie berufen - zwar wohl ab und zu beinahe, aber nie ganz gerecht werden können.<p>Das Wort "Patient" stammt aus dem Lateinischen, tauchte erstmals in einem medizinischen Handbuch im 16. Jahrhundert auf und bezeichnet sinngemäß eine Person, die ärztliche Behandlung erduldet, erträgt, sich gefallen lässt. So weit, so klar: Sie fühlen sich krank, gehen zu einem Arzt und müssen, weil Sie geheilt werden wollen, eine mehr oder weniger unangenehme Behandlung über sich ergehen lassen: Medizin schlucken, übelriechende Salben anwenden oder auch eine Opera-tion erleiden, bei der Sie sterben könnten.<p>Das Ganze ist doppelt unangenehm, weil Sie als Kranke(r) nicht im Vollbesitz Ihrer Kräfte sind. Sie suchen also in einer Situation der Geschwächtheit und Hilflosigkeit den medizinischen Fachmann auf (oder hier stets gleichberechtigt mitgedacht: die Fachfrau) und lassen sich untersuchen. Sie begeben sich damit teilweise in die passive Rolle eines Objekts, das genau betrachtet, befragt, abgeklopft, zur Blutprobe gestochen, in diverse Apparaturen geschickt, vermessen oder durchleuchtet wird, bis dessen Krankheit diagnostiziert ist. Dessen Krankheit? Oder Ihre?<p>Womit wir zur "Sprache" kommen - und zu Wilhelm von Humboldts Satz: "Der Mensch ist nur Mensch durch die Sprache". Denn solange Sie denken und sich sprachlich verständigen können (bzw. solange die Roboter uns nicht im Denken und Artikulieren überflügeln und die Daseinsform "Mensch" nach anderen Kriterien definiert werden muss), solange können Sie auch Ihre Ärzte darauf aufmerksam machen, dass Sie keineswegs nur ein "Körper" sind bzw. die Verkörperung einer Krankheitsgeschichte, d.h. eine Sammlung an Labordaten, Herztönen, Röntgenbildern und CTs.<p>

Kranke und Gesunde

<p>Allerdings ist besonders im Krankenhausbetrieb genau das kein leichtes Unterfangen. Denn im Gegensatz zu den Großbetrieben, Konzernen oder Ämtern, den Verwaltungssystemen und ihren Vertretern und Vertreterinnen, die ihn als Kundennummer oder Datei behandeln, ist der Mensch als Patient - je nach Schwere seiner Krankheit mal mehr, mal kaum - sozusagen mit Haut und Haar, Leib und Seele abhängig davon, dass ihm im Krankenhaus Hilfe zuteil wird. Wie diejenigen, die ihm helfen, nimmt er dafür, so geduldig wie eben möglich, nicht nur seine Behandlung auf sich, sondern - vereinfacht gesagt - auch ein System, das ihn auf ein Objekt der Schulmedizin reduziert, weil es nur mit Daten funktioniert. Um im Bild zu bleiben, stellten dann Ärzteschaft und Pflegepersonal, ja überhaupt alle, die im Spital ihren Arbeitsplatz haben, im Gegenzug die "Subjekte", die überlegeneren Handelnden und Wissenden dar. Die Gesunden, gegenüber den Kranken.<p>Hierüber begann ich erst nachzudenken, als ich nach fast vierzig Jahren wieder einmal Krankenhauspatientin wurde. Nachdem ich eines Abends im Dezember 2014, wenige Tage vor Silvester, auf Befehl eines erfahrenen Arztes, die nächste Krankenhausambulanz betrat und nach kurzer Untersuchung aufgefordert wurde, "im Haus" zu bleiben. . . Der mich untersuchende Chirurg grummelte: "Wir sehen uns wieder", eine Krankenschwester begleitete mich in den dritten Stock, zu einem Zimmer mit freiem Bett.<p>Die meisten waren Vier-Bett-Zimmer; den Flur entlanggehend sah man, dass auf den nummerierten Schildern neben ihren Türen mitunter vom in Versalien gedruckten "Patientenzimmer" die ersten vier Buchstaben, manchmal nur das erste "i", getilgt worden waren: "Entenzimmer".<p>Das hätte wohl auch Robert Gernhardt gefallen. Im Gegensatz zu den Begleitumständen - die der deutsche Autor (1937-2006) fraglos bestens kannte: "O Mensch, halt ein vorm Krankenhaus. / Gehn dem einmal die Kranken aus, / dann greift man auch auf dich zurück, / und du verbleibst dort Stück für Stück", dichtete Gernhardt und rückte dem Ernst der Lage mit Geist und Galgenhumor zuleibe.<p>Die Verse vom Menschen sammelnden - oder: fressenden - Krankenhaus gehören in einen Zyklus von "Krebs-Gedichten", in denen Gernhardt seine eigene Erkrankung, samt Operationen und Chemotherapie thematisiert. Wer davon weiß, wird sie nicht ohne eine Spur Bitterkeit lesen - ebenso wenig wie alle, die erlebt haben, was auf die Diagnose "Krebs" folgt. In der Regel werden die Betreffenden zunächst von dem gravierenden Befund überrascht und erschüttert - um sich einen Augenblick später aus der Welt der vermeintlich Gesunden in die der Kranken katapultiert zu finden: die einen draußen, die anderen drinnen, im Krankenhaus. Mit "Entenzimmer" oder ohne.<p>

Verlust der Autonomie

<p>Befindet man sich einmal als Pa-tient im Spital, erfährt man mit Zuweisung der Rolle, des Status eines Patienten, einer Patientin das Krankenhaus als vom Alltag "der Gesunden" streng separierten und separierenden Raum. Einen Ort, der zugleich die Grenze symbolisiert, die in vielen Köpfen zwischen "gesund" und "krank" gezogen scheint, als gäbe es nur dieses Entweder-Oder und nicht unzählige Stadien dazwischen.<p>In dieser schwarz-weißen Sichtweise erhält das Gebrechen eines "Krankenhaus-Patienten", je nach Schwere, rasch die Bedeutung eines kardinalen, die Persönlichkeit kennzeichnenden Charakterzugs; schließlich ist es der Körper des Patienten, um den sich hinter Krankenhausmauern alles dreht.<p>Womit nun zwei Aspekte angesprochen sind, die - etwa - in meinem Fall das Dasein als Patientin komplizierter machten, als es vielleicht hätte sein müssen. Zwar war ich als "Krebspatientin" über ein halbes Jahr erst ständiger, dann regelmäßiger Spitals-Stammgast und zählte in den Augen der Ärzte und Ärztinnen, die mir mehr als einmal das Leben retteten, zeitweise zu den schwer Erkrankten - dennoch schien mir mein eigener Zustand in einem wesentlichen Punkt nicht mit der gängigen Vorstellung von "krank" übereinzustimmen. Nämlich da-rin, dass, adäquat zum Verwaltetwerden des "Patienten", das Kranksein als existenzieller Modus begriffen wird, in dem die so Apostrophierten - im Gegensatz zu Gesunden - ihre "persönliche Autonomie" verloren haben. Denn menschliche Gesundheit, um mit dem Philosophen Ivan Illich zu sprechen, "misst nicht nur den Grad der Fähigkeit, mit der Welt fertig zu werden, sondern auch die Fähigkeit, in Gemeinschaft die Umwelt bewusst und gezielt zu gestalten."<p>Aber nicht bei jeder Krankheit verliert man gleich den Kopf, oder das Handlungsvermögen. Nach Ivan Illich ist wohl mancher Pa-tient gesünder, als seine Umgebung glaubt, und mancher Gesunde wesentlich kränker.<p>Und nicht nur das: Blickt man sich in diesem halböffentlichen Mikrokosmos Krankenhaus einmal um . . . in den Reihen der Patienten, die nicht mehr aufgelöst von Schmerzen oder erschöpft von einer Operation in ihren Betten liegen, sondern bei denen, die in Bademänteln und Nachthemden, Schlapfen an den bloßen Füßen, mit Verwandten und Freunden in den Aufenthaltsräumen sitzen oder durch die Flure ziehen, Namensbändchen um ihre Handgelenke, Kanülen im Unterarm . . . ja, blickt man sich um und sieht genauer hin, findet man immer wieder Männer und Frauen, die - teils mit Charme, teils mit Galgenhumor (genuin menschlich-zivilisatorischen Eigenschaften) - versuchen, ihre "persönliche Autonomie" zu behaupten. Wie gesagt: als Einzelne gegenüber einem System, in das sie sich, auf Hilfe hoffend, freiwillig begeben haben, in dem sie aber oft auf die Funktion eines Krankheitsfalls reduziert werden. Oder "aktiv" ausgedrückt: Als Spitalspatient hat man die Aufgabe, als - in der leistungsorientierten Gesellschaft - nicht funktionierender Körper zu funktionieren.<p>Was natürlich in der "Rede vom Körper" zum Ausdruck kommt. Zumeist ist ja die Sprache der Schauplatz von Versuchen, als Spitalspatient mit denen auf Augenhöhe zu kommunizieren, von deren Wissen, Aufmerksamkeit und Können das eigene Leben abhängen kann: der Ärzteschaft. Und oft wird anhand der Sprache sichtbar, wie beide Seiten aneinander vorbeischeitern:<p>"Thorax und Sonographie, axillär, inguinal, cervical / supra und infraclaviculär CCT und Blutbild differential [. . .]", beginnt ein Gedicht von Martin Kubaczek. Wie Gernhardt hat auch dieser österreichische Autor seine Erfahrungen als Krebspatient literarisch verarbeitet. Jedes Gedicht in seinem Band "Nebeneffekte" ist eine autobiografische Miniatur, die sensibel und mit großer Aufmerksamkeit für Zwischentöne von Kubaczeks Beobachtungen während der Zeit im Wiener AKH erzählt.<p>Die oben zitierten Zeilen entsprechen dem schulmedizinischen Fachjargon, den jeder aus Arztbriefen kennt und dessen Unmenschlichkeit seit langem kritisiert wird. Trotzdem ist es in Spitälern noch gang und gäbe, Pa-tienten in diesem "expertokratischen" Idiom zu erklären, was in ihnen vor sich gehen mag.<p>Doch selbst wenn ein Patient sämtliche medizinische Fachbegriffe versteht, ist ein Missverhältnis programmiert - das seit Jahrhunderten zu unserer Kultur gehört: Um etwas von seiner Krankheit zu verstehen, muss sich ein Kranker auf die Perspektive der Mediziner einlassen, was nur geht, wenn man sich erstens auf cartesianische Weise nicht als eine Person - ein "Ich" - denkt, sondern als aufgespalten in Psyche und Körper, Seele und Leib.<p>Und Letzteren als zu reparierendes Problem; salopp gesagt: Der Körper, in dem man haust, dessen Regungen man empfindet, mit dem man fühlt und denkt, der man "ist", wird in der Rede abgespalten und auf "seine" Krankheit reduziert, die dann in einer Fachsprache erörtert werden muss.<p>Völlig schief kann’s in Sachen Kommunikation zwischen Arzt und Patient laufen, wenn sich auch der Tod zu Wort melden will. Patienten mit einer schweren Krankheit sind meist durch ihre Diagnose gezwungen, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen - während ihre Ärzte und Ärztinnen den Tod meist als Feind betrachten, oder, wie der Schweizer Internist Franz Nager schreibt, als "Scandalon", das abzuwehren ist: "Die in Kliniken heute oft noch dominante Einstellung moderner Medizin zum Tod ist gekennzeichnet durch Todesabwehr und Todesverdrängung."<p>

Anpassungen

<p>Aber man will ja, dass sie ihre Arbeit gut erledigen, die Ärzte! Dass sie Wege finden, die eigene Lebenszeit noch ein wenig zu verlängern, und den Tod verjagen! Und so lässt man als Patient oder Patientin die Versuche sein, sich besser zu verständigen. Bald antwortet man bei der Visite auf die Frage nach dem Befinden prinzipiell knapp, falls möglich mit "gut", "so lala", "wird schon". Und würde vielleicht dem einen oder der anderen den jüngsten Essay des Onkologen Siddharta Mukherjee empfehlen, in dem es heißt:<p>"Ich hatte niemals erwartet, dass die Medizin eine so gesetzlose, unsichere Welt sein würde. Ich fragte mich, ob das zwanghafte Benennen von Körperteilen, Krankheiten und chemischen Reaktionen - Frenulum, Otitis, Glykolyse - ein Mechanismus war, den die Ärzte erfunden hatten, um sich gegen eine weitgehend unergründbare Wissenssphäre abzuschotten. Der Schwall an Fakten verdunkelte ein tieferes, maßgebliches Problem: die Versöhnung von Wissen (sicher, belegt, vollkommen, konkret) und klinischer Meinung (unsicher, fließend, unvollkommen, abstrakt)."<p>Aber als Patientin will man niemanden grundlos beunruhigen. Oder den Betrieb, der alle zu überfordern scheint, weiter aufhalten. Vor allem nicht, wenn man den Helfenden dankbar ist. So registriert man eben vieles und hofft irgendwann, dass es mit dem Neoliberalismus im Gesundheitssystem endlich zu Ende gehen möge. Dass nicht der reibungslose Ablauf eines Betriebs im Vordergrund steht und - auf die Gefahr hin, "unrealistisch" gescholten zu werden: nicht ökonomische, sondern humane "Effektivität".<p>Keinesfalls sollten sich Spitals-patienten als Hindernis im Tagesablauf fühlen müssen. Oder als das, was in der Fachliteratur für Ärzte und Pflegepersonal (dem die heilsame "menschliche" Ansprache und der Trost obliegt und das unterbezahlt oft Ungeheures leistet) gemeinhin als "schwieriger Patient" bezeichnet wird.<p>Denn: Liest man sich als Pa-tient in entsprechende Schriften ein, die "schwierige Patienten" in Typen wie "Nörgler", "Jammerer" und "Besserwisser" unterteilen, könnte man resignieren. Sicher, es gibt "schwierige" Menschen, aber nicht jeder, der sich beschwert, will sich wichtig machen. Die Wirkung des Gesundheitssystems, das ihn auf die Rolle des Patienten reduziert, auf die jeder unwillkürlich reagiert, gehört mitgedacht.<p>Eines Nachmittags, als ich den ersten Chemotherapie-Zyklus begann, hörte ich die freundliche Assistenzärztin, die neben meinem Bett stand, wie aus dem Lehrbuch referieren: Ein bestimmtes Medikament könne zwar das - durch die Chemotherapie demnächst bestimmt ruinierte - Blutbild stabilisieren und mich vor Infektionen schützen, sei aber sehr teuer, weshalb ich es erst einmal nicht erhalten soll, freilich, wenn ich gebrechlicher wäre . . . Und ich fragte mich: Was war das? Eine Ungeschicktheit oder ein - ihr unbewusster - Disziplinierungsversuch à la: Bittschön, lieg doch der Kassenkassa nicht auf der prallgefüllten Tasche, und nicht vergessen, dass du als Einzelner inzwischen an allem selber schuld bist, von der Arbeitslosigkeit bis zum Krebs!? Aber ich würde doch auch etwas nehmen, was nur einen Cent kostete, wenn es denn hälfe. Aber da kam schon wer Anderer im weißen Kittel, vielleicht ein bekanntes Gesicht, vielleicht ein unbekanntes . . .<p>

Leben unter Fremden

<p>Nein, das Krankenhaus ist kein Ort zum Gesundwerden. Dazu ist es hier, wie gesagt, zu betriebsam. Voller Menschen. Als Patient lebt man hier kurzfristig in einem halböffentlichen Raum, man gewöhnt sich daran, von Fremden im Nachthemd gesehen zu werden. Neben Unbekannten einzuschlafen und aufzuwachen - die man allerdings, bleiben sie lang genug, besser kennenlernt. Man könnte sogar etwas Positives darin sehen, dass man nur als Krankheitsfall zählt: Alle teilen dasselbe Los, unterliegen denselben Zumutungen, derselben Routine, hören mitunter mehrmals täglich dieselbe Frage nach dem Stuhlgang - zumindest in der Patientenschaft sind die Hierarchien eingeebnet. (Die Privatpatienten logieren in einem anderen Trakt, was soll’s.) Und das halbprivate Leben unter Fremden lässt einen Haltung bewahren, immerhin. Mit einem Ausdruck Mukherjees ließe sich sagen, man existiert schließlich großteils abseits der Statistiken, in einem "Bereich zwischen den Fakten".<p>Wenn nur endlich die Ärzteschaft einen dort erreichte - oder, besser gesagt: Wenn es endlich ein System gäbe, das auch auf diese Wirklichkeit einginge. Das weniger technokratisch organisiert wäre und es auch den Medizinern, die in es eingespannt sind, erleichterte, ihrem eigentlichen Beruf nachzukommen. Statt sich damit zu beschäftigen, wie viel Krankenhauspersonal eingespart, wie viel Pfleger und Krankenschwestern zukünftig durch freundliche Roboter ersetzt werden können. Systeme streben per se danach, sich zu perfektionieren - was ein ganz anderes Ziel ist als das, Menschen zu heilen.

Die Zitate stammen aus:
Robert Gernhardt:Reim und Zeit & Co. Reclam Verlag, Stuttgart 2014.
Ivan Illich:Über die Grenzen der Medizin, in: Freimut Duve (Hrsg.), Technologie und Politik. rororo-aktuell-Magazin 2, 1975.
Martin Kubaczek:Nebeneffekte. Gedichte, Edition Korrespondenzen, Wien 2015.
Siddhartha Mukherjee:Gesetze der Medizin. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2016.
Frank Nager:Der Arzt angesichts von Sterben und Tod.
Online: http//www.medizin-ethik.ch/publik/arzt_sterben.htm.

Birgit  Schwaner, geboren 1960, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Wien.