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Hunger nach Realität

Von Wolfgang Müller-Funk

Reflexionen

In der Kunst, der Philosophie und der technisierten Lebenswelt artikuliert sich immer wieder neu die Sehnsucht nach jener unmittelbaren "Wirklichkeit", die uns zugleich verloren zu gehen droht.


Wörter und Worte wie Realität, Wirklichkeit, real, wirklich oder auch Realismus sind sprachliche Fallen, in die wir beim Denken hineinstolpern. Wie viele ähnliche Begriffe sind sie sowohl deskriptiv als auch normativ. So ist der realistische Mensch eben einer, der nah an der Wirklichkeit und kein Träumer oder keine Träumerin ist. Die gesamte Begriffsfamilie enthält ein Versprechen, unmittelbar an der Sache "dran" zu sein, Zugang zum Wesentlichen dieser Welt zu besitzen.

Real oder wirklich?

Diese Doppel-Wort-Familie des Wirklich-Realen enthält aber auch eine Drohung, dass eben die Welt so ist, wie sie ist, und dass wir uns damit abfinden und darin einfinden müssen. Basta. Das Wort ‚Realpolitik‘ ist auch so ein zweischneidiges Wort. Robert Musil hat dem Wirklichkeitssinn einen Möglichkeitssinn gegenübergestellt und die Gegenüberstellung auf paradoxe Weise zum Kippen gebracht, so nämlich, dass der Möglichkeitssinn, der davon ausgeht, die Welt, die ‚Realität‘, könnte auch anders sein, der Realität viel mehr entspricht als die pedantische und phantasielose Fixierung auf die momentane Situation der Welt.

Übrigens sind die Realität und die Wirklichkeit etymologisch und konnotativ durchaus nicht ident. Die oben erwähnte "Realpolitik" lässt sich, anders als die Worte "real" und "Realität", nicht in die Wortfamilie des "Wirklichen" übersetzen - und auch zum Wort "Realismus" kennt sie kein Pendant. Es gibt keinen "Wirklichismus" und auch keine "Wirklichkeitspolitik", allenfalls einen Wirklichkeitssinn - dieser ist nun wieder mit dem Realitätssinn kompatibel.

Der feine Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Realen weist uns darauf hin, dass es vermutlich verschiedene Realitäten bzw. Wirklichkeiten gibt. Der Begriff der Realität, in dem sich Objektivität, Konkretheit und Unhintergehbarkeit miteinander verbinden, ist schillernd und vieldeutig. Welche Wirklichkeit und welche Realität sind gemeint: eine politische, eine soziale, eine existen-zielle oder eine biologisch-ökologische?

Plurale Wirklichkeiten

Es ist eben jene Pluralisierung der modernen Welten, die den Begriff "Realismus" oder "Realität" als Kategorie der Analyse tendenziell unbrauchbar macht: denn wenn alles und jedes, eben auch das Phantastische Realität sein kann - Stichwort "Phantastischer Realismus" - , dann gibt es nichts, was nicht real ist. Für Rudolf Steiner waren die spirituellen Welten, die er beschrieb, eine unumstößliche Gewissheit, somit "Realität". Dann unterscheidet dieses Wort aber auch nichts mehr und verliert eben jene Eigenschaft, die allen Begriffen und Wörtern zugrundeliegt: nämlich etwas zu unterscheiden. Er wird, was alle Avantgarden in ihrer Autodynamik liebten: reine Rhetorik.

Festzuhalten bleibt, dass verschiedene Bereiche und Felder unserer ausdifferenzierten Gesellschaft ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was die Realität bzw. die Wirklichkeit ist.

Selbst innerhalb eines Feldes, etwa der Kunst, haben der Realismus des 19. Jahrhunderts in Literatur und Bildender Kunst, die Neue Sachlichkeit, der Sozialistische Realismus, die Gegenständlichkeit der Neuen Wilden, der Phantastische Realismus der Nachkriegszeit oder eben der Neue Realismus der Gruppe rund um Pierre Restany herzlich wenig miteinander zu tun - außer dem Einspruch gegen den "klassischen" Avantgardismus, dem vielfach ein säkularisiertes Bilderverbot innewohnt, so etwa dem abstrakten Expressionismus eines Pollock oder Newman und dessen theoretischem Begleiter Clement Greenberg.

Neue Wahrnehmung

Gegen diese Abstraktion machten die neuen "Realisten" nach dem Zweiten Weltkrieg auf rhetorische und philosophisch womöglich nicht sattelfeste Weise eine "neue Annäherung der Wahrnehmungsfähigkeit an das Reale" geltend - so steht es wenigstens im ersten Manifest der Gruppe zu lesen, der so verschiedene Künstler und Künstlerinnen wie Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Christo oder Niki de Saint Phalle angehörten. Und wenn ich jetzt noch den Namen des Blau-Malers Yves Klein anfüge, mit dem Restany, der Wortführer der Gruppe, zusammenarbeitete, dann wird sichtbar, dass der Begriff des Realen rein rhetorisch wird. Dabei verblasst seine Bedeutung. Ohnehin ist die Geschichte der Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft bzw. Philosophie eine enorm schlampige. Sie ist von wechselweiser Vereinnahmung und Instrumentalisierung geprägt.

Am ehesten lassen sich die Verfahren der abstrakten Expressionisten und der Nouveaux Réalistes kontrastieren. Die einen reduzieren die Malerei konsequent auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit, auf Farbe, Linie, Fläche und Raum. Deshalb hat Greenberg ihr Tun im Sinne Kants gedeutet. Kunst reflektiert über sich selbst und bearbeitet ihre konstitutiven Elemente. Ihr Gegenstand ist Kunst (und nur sie) als eine Odyssee des Geistes, der sich Schelling zufolge nur in der Materialität der Form erfassen lässt.

Neuer Realismus bedeutet demgegenüber einen Einspruch gegen die Abstraktion (von) der "Wirklichkeit", die zugleich als eine von der "Welt" - auch ein Ersatzwort für Realität - gesehen und kritisiert wird. Aber es geht dabei nicht um eine Rückkehr zu einer realistischen Kunst im Sinne einer perfekten Abbildung der Welt der Dinge, sondern darum, diese in die Kunst einzulassen. In diesem neuen Realismus kommt ein anderes Moment des Avantgardismus zum Tragen, nämlich jener Anspruch, die Trennung von Kunst und "Wirklichkeit" zumindest im künstlerischen Tun spielerisch zu überwinden.

Spiel mit der Illusion

Der bekannteste Typus ist das ready made, das in New York mit dem Urinoir von Marcel Duchamp das Licht der Welt erblickte. Die Brillo Box von Andy Warhol gehört ebenso in dieses Umfeld wie viele Arbeiten von Daniel Spoerri. Damit wird eine traditionelle "romantische" Vorstellung vom Kunstwerk subvertiert. Zugleich wird ein Spiel mit der Illusion und mit der Kunst sichtbar. Zum Kunstwerk wird für Duchamp das Objekt ja nicht durch eine künstlerische Gestaltung oder bei Warhol durch Nachgestaltung, sondern, wie Arthur Danto scharfsinnig analysiert hat, ausschließlich dadurch, dass die Objekte - eine Verpackung oder eben jenes zen-trale Utensil aus der Männertoilette - in einen anderen Kontext gestellt werden. Damit wird aber jedweder objektive, ästhetisch argumentierende Kunstbegriff vollkommen außer Kraft gesetzt.

Die Kunst findet statt, wobei auch hier die Schranke zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht überwunden wird. Denn nur in den Tempeln der Kunst werden diese realen Gegenstände zu Kunstwerken, während sie ansonsten in ihrem grauen, unbeachteten Alltag verbleiben. Der Künstler ist dabei nicht länger ein genialer Schöpfer, sondern ein ästhetisch geschulter Beobachter, der die Welt der Dinge aus einer ganz anderen Perspektive sieht als alle anderen Menschen.

"Unsere Kultur ist besessen von realen Ereignissen, weil wir kaum noch welche erleben", schreibt der amerikanische Autor David Shields ("Reality Hunger"). Unter einem kulturökonomischen Blickwinkel betrachtet, ließe sich sagen, dass die Realität oder das Reale, das scheinbar Selbstverständliche also, Mangelware geworden ist.

Attraktiv ist aber nicht nur die Rarität der Realität, sondern deren Unmittelbarkeit, Erfahrung, Evidenz. Der von digitalen Me-dien umstellte Mensch, ihr Gefangener, möchte die selbstgewählte digitale Höhle, die keinen Ausblick hinaus in die "wahre" Welt gewährt, verlassen. Er sehnt sich nach dem Ernst des Lebens. Dieser Hunger nach Realität schlägt sich ironischerweise medial nieder: in der autobiographischen Obsession, in digitalen Formaten (Selfies, Facebook), in Reality-Serien, in der Sehnsucht, den Körper zu spüren, etwa im Schmerz der Tätowierung und in den Spuren, die sie real hinterlässt.

Dass der philosophische Diskurs die Wiederkehr eines "Neuen Realismus" abfeiert, ist ein weiterer Beleg für den Hunger nach Realität. Die Bucherfolge des jungen deutschen Philosophen Markus Gabriel, der wie ein Popstar und Wunderkind bestimmte Medien bespielt, ist hierfür anschauliches Indiz. Gabriel ruft gegen die alte Metaphysik und den übrigens moderaten Konstruktivismus der Kulturwissenschaften einen neuen Realismus aus. Die Metaphysik habe angenommen, es gebe einen Gegenstand ohne Zuschauer, während der Kons-truktivismus eine Fortführung der Kantschen Philosophie von Zuschauern ohne Gegenstand sei. Der Neue Realismus gehe nun davon aus, dass es den Gegenstand wie den Zuschauer gebe.

Was hier rhetorisch gekonnt und lässig vorgeführt wird, ist die Neuauflage jahrhundertelang geführter erkenntnistheoretischer Debatten, in denen es stets, grob vereinfacht, zwei Grundpositionen gegeben hat: eine realistisch-idealistische, die davon ausging, dass unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen der Außenwelt Abbilder, Spiegelungen oder wie bei Platon "Schatten" einer geistigen oder physischen Wirklichkeit sind, und eine nominalistische, die von unseren Begriffen, Anschauungen und Wahrnehmungen ausging und diese mit der Welt der Dinge induktiv abzugleichen versuchte. Das Problem der Realisten bestand in der Annahme eines übergeordneten nicht-empirischen Wissens, jenes der Nominalisten darin, dass sie kein Krite- rium besaßen, das Verhältnis der beiden Bereiche eindeutig bestimmen zu können.

Kant, ohne den der Konstruktivismus unserer Zeit undenkbar wäre, markiert insofern eine revolutionäre Wende, als er die Frage nach dem Verhältnis zwischen der realen Dingwelt der Objekte und jener begrifflichen der Subjekte für irrelevant erklärte, einfach, weil es keine Meta-Instanz gibt, die darüber befinden könnte, in welchem Verhältnis Realität und menschliches Bewusstsein zueinander stehen. Über die Realität lässt sich nur vermittels unseres Bewusstseins und unserer Anschauung etwas sagen. Der Weg ins vermeintliche Paradies der Unmittelbarkeit ist versperrt.

Die "Realität", so, wie wir sie erfahren, ist abhängig von der Beschaffenheit unseres Wahrnehmungs- und Denkapparates, der in Kategorien von Raum und Zeit denkt und durch Sprache und Symbolismus vermittelt ist.

Wie es wirklich ist . . .

Das Einzige, das uns korrigiert, ist unsere Umwelt. Sie bildet eine andere - soziale und kulturelle - Realität. Wir alle sind uns einig, dass es, um ein Beispiel aus Gabriels Buch aufzugreifen, den Vesuv "real" gibt und dass er ein Vulkan ist, den wir als touristische Attraktion besuchen. Lebensweltlich hat der Neue Realismus also bis zu einem gewissen Grad Recht. Nur extreme Kons-truktivisten würden behaupten, es sei nicht gewiss, dass es den Vesuv real gebe. Nur: wie er "wirklich" ist, das lässt sich nicht objektiv entscheiden, weil wir alle die gleiche physische und kulturelle Brille tragen.

Einen "Neuen Realismus" zu propagieren, heißt also gegen Kant anzurennen und zu einer vorkritischen Philosophie zurückzukehren. Das ist attraktiv nur, weil wir unserer selbst sicher sein wollen. Auch das gehört zum Hunger nach Realität. Der Kons-truktivismus unserer Tage geht indes einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass das, was wir Realität nennen, auch das Ergebnis symbolischer Formatierung ist.

"Symbolische Formen" nannte der Philosoph Ernst Cassirer jene Prozeduren, mittels deren sich der Mensch Zugang zur Wirklichkeit verschafft. Der Plural ist dabei ganz entscheidend. Nehmen wir ein sehr allgemeines, in jeder Hinsicht existenzielles Phänomen wie das Wasser: Der naturwissenschaftliche Blick auf das H2O generiert eine völlig andere Wirklichkeit als ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das einen Wasserfall gestaltet, oder - damit kommen wir Duchamp nahe - als unser alltäglicher Umgang mit Wasserhahn oder Klospülung.

Es sind also die symbolischen Formen, die eine bedeutungsvolle menschliche Realität hervorbringen. Kultur beginnt mit einem dem Menschen eigenen Symbolismus. Und mit dem Wandel dieser symbolischen Formen verändert sich auch jene Realität, was aber eben nicht heißt, dass sie objektiv als dingliche Welt oder subjektiv als psychische Wirklichkeit nicht bestünde.

Unsere moderne Vorstellung von einer von Fakten und Ereignissen gefüllten Realität ist einer Kultur geschuldet, die völlig neue symbolische und mediale Formate hervorgebracht hat, allen voran die Fotografie und die Medien, die dieser ihr Dasein verdanken. Wenn wir Personen auf einem Foto, im Fernsehen oder im Format unserer digitalen Apparaturen sehen, dann gehen wir davon aus, dass diese tatsächlich existieren.

Um das begreiflich zu machen, muss ich etwas über Zeichensysteme sagen. Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce hat deren drei unterschieden: ein symbolisches, ein ikonographisches und ein indexikalisches. Die Druckschrift ist ein abstraktes und willkürliches Zeichensystem. Das "symbolische" Wort ‚Hase‘ hat etwa keinerlei Ähnlichkeit mit besagtem Tier, während Dürers "ikonographisches" Bild dem "wirklichen" Tier zum Verwechseln ähnlich ist.

Wenn ich bei einem Spaziergang durch einen Wald Spuren betrachte, werde ich behaupten können, dass hier vor einiger Zeit ein "wirklicher" Hase durch den Wald gelaufen ist. Das "indexikalische" Zeichen verweist also auf eine unbestreitbare Wirklichkeit.

Darin besteht der Unterschied zwischen dem gemalten und dem fotografierten Hasen. Oder anders gesagt: Die Fotografie etabliert mediale Formate, die eine neue, bis dahin nie gekannte Form von Realität und Wirklichkeit ermöglichen, nämlich einen realen, kulturell ungeheuer wirksamen Illusionismus, der uns die Welt scheinbar unmittelbar ins Haus liefert. Jedes Foto trägt in etwa die folgenden Botschaft in sich: Ich bin die Spur eines Menschen oder eines Gegenstandes, der wirklich existiert.

Wie sehr gerade die Medien, die neuerdings unseren Hunger nach Realität stimulieren, jene erst erzeugen, lässt sich an einer medial unmöglichen Konstellation erhellen: Stellen Sie sich vor, sie schalten den Fernseher für die "Zeit im Bild" ein und sehen die politischen Akteure unserer Tage statt in fotografischen Bildern als Comic-Figuren, Karikaturen, Zeichnungen oder gar als Tafelbilder. Als künstlerisches Projekt wäre es die Inszenierung jenes Verlustes von realer Gewissheit, die medial konstruiert ist.

Erfahrungswahrheit

Sind das also schlechte Nachrichten für die realitätshungrigen postmodernen Menschen? Nicht unbedingt. Das "Reale" erweist sich als eine Konstruktion, gewiss, aber es ist auch ein gemeinsamer Horizont. Denn unsere biologischen, philosophischen oder kulturwissenschaftlichen Einsichten ändern nichts daran, wie wir etwas "real" erleben. Bin ich verliebt, so denke ich nicht primär an die chemischen Prozesse in meinem Körper, die mit dieser Wirklichkeit des Zustands einhergehen. Und ich denke auch nicht an das kulturelle Programm, an den Code, der meiner kulturspezifischen Verliebtheit zugrunde liegt. Mir kommt auch nicht die erkenntnistheoretische Frage in den Sinn, wie diese Person, in die ich verliebt bin, "wirklich" aussieht. Der Lebenswelt liegt ein eigentümlicher Egozentrismus zugrunde, der sich durch Einwände von außen nicht beirren lässt.

Umgekehrt ändert er nichts an der Einsicht, dass unsere Erfahrung des "Realen" durch kulturelle Konstruktion, durch das Symbolische und das Imaginäre, vermittelt sind. Die Stärke der Kunst besteht insbesondere darin, dass sie lebensweltliche Erfahrung und kulturelle Konstruktion ironisch und paradox miteinander zu verschränken imstande ist.

Wolfgang Müller-Funk, geboren 1952, lebt als Literaturwissenschafter, Kulturphilosoph und Publizist in Drosendorf (NÖ).Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser zur Eröffnung der Ausstellung "Abenteuer Wirklichkeit"in Krems gehalten hat.
Diese Ausstellung, die den "Wandel im Zugang zum Realen" anhand ausgewählter Kunstwerke untersucht, ist noch bis 9. 4. 2017 im Forum Frohner, Minoritenplatz 4, Krems-Steinzu sehen.