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Volltönende Festlichkeit

Von Hermann Schlösser

Reflexionen

Durch häufiges Hören vertraut, und doch Musik aus einer anderen Zeit: Das "Weihnachtsoratorium" von Johann Sebastian Bach.


Unter den Komponisten einer der Allergrößten: Bach-Statue vor der Thomaskirche in Leipzig.
© Tomml/Gettyimages

"Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, rühmet, was heute der Höchste getan . . ." Der Chor, der Johann Sebastian Bachs "Weihnachtsoratorium" eröffnet, gilt zu Recht als Musterbeispiel jener volltönenden Festlichkeit, die zwar nur ein Aspekt der barocken Musikkultur ist, aber doch ein wesentlicher. Sopran, Alt, Tenor und Bass können gar nicht oft genug "jauchzet, frohlocket!" jubeln und das Orchester, das die Stimmen umspielt, ist auf Prachtentfaltung gestimmt.

Die sprichwörtlichen Pauken und Trompeten, die in der barocken Musik gerne eingesetzt werden, sobald es ums Rühmen und Preisen geht, verleihen auch dieser Weihnachtsmusik ihre kräftige Farbe. In den ersten beiden Takten des Werks wird der Pauke sogar das Hauptthema des Stücks anvertraut: dreimal das "d" im ersten Dreiachteltakt, einmal "d", einmal "a" und eine Achtelpause im zweiten. Nachdem die beschwingte Orchestereinleitung verklungen ist, setzt der Chor unisono mit eben diesen Paukentönen ein: Was zu Beginn noch wie "bamm bamm bamm / bamm bomm" klang, wird nun zu der weihnachtlichen Aufforderung: "Jauchzet, froh / locket . . ."

Sechsteiliges Werk

Nun kann man sich durchaus vorstellen, dass Johann Sebastian Bach, der fromme Kantor der lutherischen Thomaskirche zu Leipzig, festlich inspiriert war, als er sein Oratorium komponierte. Am 1., 2. und 3. Weihnachtsfeiertag 1734, am "Fest der Beschneidung Christi", am Sonntag nach Neujahr 1735, und schließlich am Epiphaniasfest (also dem Dreikönigstag) war das Werk erstmals zu hören.

Jeder einzelne Teil ist inhaltlich auf das jeweils zu begehende Fest bezogen, zugleich aber hat der Kantor, der ja auch ein ehrgeiziger Künstler gewesen ist, große kompositorische Sorgfalt darauf verwendet, die Einheit des sechsteiligen Werks herzustellen: Bekannte Weihnachtslieder wie "Vom Himmel hoch, da komm ich her" werden in mehreren Teilen angestimmt und stellen somit einen Zusammenhalt her; aber auch auf der abstrakteren Ebene der Tonartenabfolge hat Bach ein hohes Maß an musikalischer Homogenität erreicht.

Somit sind hier nicht einfach sechs Weihnachtskantaten locker zusammengefasst, sondern das "Weihnachtsoratorium" steht da wie aus einem Guss. Im "Bach-Werke-Verzeichnis" (BWV) trägt es die Nummer 248.

Umso verblüffender ist die gut erforschte Tatsache, dass Bach große Passagen dieses anspruchsvollen Werks aus älteren Arbeiten übernommen hat. Auch der Eröffnungschor wurde ursprünglich zu einem weltlichen Anlass angestimmt. Am 8. Dezember 1733 feierte die Habsburgerin Maria Josepha, Kurfürstin von Sachsen und zugleich Königin von Polen, Geburtstag. Bach widmete der Herrscherin eine Festkantate, die mit demselben Chor beginnt wie ein Jahr später das "Weihnachtsoratorium". Nur, dass der Text hier noch hieß: "Tönet, ihr Pauken! Erschallet Trompeten! Klingende Saiten, erfüllet die Luft! Singet itzt Lieder, ihr muntren Poeten! Königin lebe! wird fröhlich geruft." Dem Dreiertakt in der Musik entspricht in der Poetik der Daktylus (eine betonte Silbe, zwei unbetonte), und ob in diesem Versfuß der Kurfürstin oder dem Herrn Jesus gehuldigt wird, macht - formalästhetisch betrachtet - keinen Unterschied.

Wir heutigen Menschen, die durch die Ansprüche der Moderne daran gewöhnt wurden, künstlerische Qualität mit Innovation und Originalität gleichzusetzen, haben für solche bedenkenlosen Übernahmen womöglich kein rechtes Verständnis mehr. Den sehr handwerklich orientierten Komponisten der Barockzeit war es jedoch selbstverständlich, gelungene Kompositionen mehrfach zu verwenden. Das gilt auch für Bach. Der musikwissenschaftliche Fachausdruck für dieses Verfahren heißt "Parodie", womit keine satirische Nachahmung eines Vorbilds gemeint ist, sondern lediglich die Anpassung eines Musikstücks an einen neuen Kontext.

Je öfter man Bachs Oratorium hört, desto mehr Schönheiten wird man entdecken. Im zweiten Teil, der nicht mit Pauken und Trompeten auftrumpft, sondern mit Flöten und Oboen das pastorale Idyll der Hirten von Bethlehem ausmalt, singt zum Beispiel die Alt-Stimme dem Jesuskind die wunderschöne Arie "Schlafe, mein Liebster" vor.

Erotischer Unterton

Warum so schön? Vielleicht auch, weil ein erotischer Unter- oder Oberton nicht zu überhören ist. In vielen Texten, die Bach vertont hat, zeigt sich ja eine exaltierte Gottes- und vor allem Jesusliebe, deren Sinnlichkeit damals wohl gut genug in Frömmigkeit verpackt war, um nicht allzu erregend zu wirken, während sie uns Spätmenschen, die wir von Psychologie mehr verstehen als von Theologie, unmittelbar in Auge und Ohr springt.

In der vierten Kantate, "Fallt mit Danken, fallt mit Loben", begegnet man etwa einem hübschen kleinen Duett, das "Recitativo con Corale" überschrieben ist. Eine Frauen- und eine Männerstimme umsingen hier einander, und über diesem musikalischen Liebesspiel könnte man fast vergessen, dass sie dabei nicht ihre Liebe zueinander erklären, sondern ihre gemeinsame Liebe zu Jesus.

Im Fall von "Schlafe, mein Liebster" ist freilich zu bedenken, dass auch diese Arie die Parodie einer älteren ist. Friedrich August der Zweite, der Gemahl der Maria Josepha, hatte am 5. September 1733 Geburtstag, und Bach komponierte als untertäniges Geschenk die Kantate "Lasst uns sorgen, lasst uns wachen". Darin geht es nicht christlich, sondern - wie oft bei barockem Herrscherlob - antik mythologisch zu: Herkules am Scheideweg muss zwischen der Wollust und der Tugend wählen - und entscheidet sich selbstverständlich für die Tugend.

Und dies, obwohl die Wollust in Person auftritt und ihm eine mehr als verführerische Arie singt; "Schlafe, mein Liebster, und pflege der Ruh, Folge der Lockung entbrannter Gedanken. Schmecke die Lust der lüsternen Brust, und erkenne keine Schranken."

Eben diese wollüstige Avance verwandelt Bach ein Jahr später in ein pastorales Wiegenlied für das "liebe Jesulein", wie der neugeborene Gottessohn im "Weihnachtsoratorium" zuweilen genannt wird. Wer sich auch bei der Bach-Verehrung einen Sinn für Humor bewahren will, darf solche Metamorphosen durchaus amüsant finden. Man sollte jedoch nicht annehmen, der Komponist selbst hätte dabei ironische oder gar anzügliche Absichten verfolgt.

Wie er dachte und empfand, erklärt der Bachforscher Christoph Wolff sicherlich zutreffend, wenn er schreibt: "Für Bach lag nichts näher, als eine ursprünglich für eine Königsfamilie gedachte Geburtstagsmusik nun als Musik zum Fest der Geburt Christi, des Himmelskönigs, zu verwenden. Huldigung und Jubel passen gleichermaßen zu beiden Anlässen, außerdem unterschied sich die Behandlung allegorischer und mythologischer Figuren nicht grundsätzlich vom Umgang mit biblischen Gestalten, und so konnte ein Wiegenlied für einen Göttersohn aus der Herkuleskantate BWV 213 ebenso dem Christuskind gelten."

Geschlossenheit

Der Schlusschor des sechsten und letzten Teils - und damit des ganzen Werks - setzt wieder mit den bewährten Pauken und Trompeten ein. Außerdem hat dieser Chor mit dem Eröffnungschor die Tonart D-Dur gemeinsam, wodurch Bach eine zyklische Geschlossenheit erreicht. Das Orchester jubelt und der Chor verkündet eine durchaus frohe Botschaft. Um sie zu verstehen, muss man lediglich wissen, dass das Partizip Perfekt "gerochen" hier nicht von "riechen", sondern von "rächen" abgeleitet ist: "Nun seid ihr wohl gerochen an eurer Feinde Schar, Denn Christus hat zerbrochen, was euch zuwider war. Tod, Teufel, Sünd und Hölle sind ganz und gar geschwächt; bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht."

War der "Jauchzet-Frohlocket"-Chor einem Vorbild aus eigener Produktion nachgearbeitet, macht der Schlusschor Gebrauch von einer berühmten Melodie, die nicht von Bach stammt. Komponiert wurde sie von Hans Leo Haßler, und zwar auf den Text "Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart". Mit gottgefälligeren Worten versehen, hielt das schöne alte Liebeslied Einzug in die Kirchenmusik. Diese geistliche Aneignung weltlichen Liedguts mit neuem Text (von den Musikhistorikern "Kon-trafaktur" genannt) ist in der Barockmusik häufig zu beobachten.

Auch Bach schmückte sich gern mit fremden Liedern. In der "Matthäuspassion", also seinem Karfreitagsoratorium, erklingt Haßlers Melodie zu den Worten "Oh Haupt voll Blut und Wunden" und rührt die Zuhörer zu Tränen. Im "Weihnachtsoratorium" dagegen dient dasselbe Stück dem musikalischen Ausdruck der Freude. Das Arrangement macht es möglich: Während in der Passion karge Vierstimmigkeit herrscht, wird hier der Chorgesang in einen elaborierten Orchestersatz eingebettet. So entsteht ein bewegter und bewegender "figurierter Choral".

Gläubiger Protestant

Zwei Mal dasselbe musikalische Ausgangsmaterial, aber der Effekt könnte unterschiedlicher nicht sein. Auf solche Kunststücke verstehen sich große Komponisten, und es steht wohl fest, dass wir es hier mit einem der Allergrößten zu tun haben. Der Komponist Mauricio Kagel schrieb einmal: "Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben; an Bach jedoch alle".

In diesem Bonmot lauert jedoch ein Problem: Auch wenn Johann Sebastian Bachs Musik nicht heilig gesprochen werden muss, so war er selbst doch ein strenggläubiger Protestant, daran ist nicht zu zweifeln. Deshalb ist fraglich, ob man "an Bach glauben" darf, ohne den Gott, an den er fest glaubte, zumindest zu respektieren.

Um beim Schlusschor des "Weihnachtsoratoriums" zu bleiben: Genügt es, die verborgene Identität von Weihnachts- und Passionsmusik als künstlerischen Geniestreich zu bewundern? Oder müsste man nicht auch bedenken, dass sich das Heilsgeschehen zu Weihnachten ankündigt und zu Ostern erfüllt? So verstanden, wäre es dann nicht nur musikalisch, sondern auch theologisch begründet, dass Bach beide Anlässe mit derselben Melodie - in unterschiedlicher Färbung - besingt.

Ihm selbst ist eine solche Gedankenverbindung unbedingt zuzutrauen. Aber was wir damit noch anfangen können, ist auch am Weihnachtstag schwer zu entscheiden.

Literatur:

Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Mit ihren Texten. dtv/Bärenreiter Verlag, München/Kassel, 6. Aufl. 1995.

Christoph Wolff: Johann Sebas-tian Bach. Aus dem Englischen von Bettina Obrecht. S. Fischer, Frankfurt, 4. Aufl. 2011.

Hermann Schlösser, geboren 1953, Germanist und Anglist, ist Redakteur im "extra" der "Wiener Zeitung".