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Ein Seismograph seiner Zeit

Von Oliver Bentz

Reflexionen
Als Porträtist berühmt: Ludwig Meidner, hier zu sehen auf seinem "Selbstbildnis mit Hut" aus dem Jahr 1922.
© Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt. Foto: Greogr Schuster.

Der Maler und Zeichner Ludwig Meidner hat nach seinen expressionistischen Anfängen in einem langen Leben ein umfangreiches, vielgestaltiges Werk geschaffen, das zur Zeit neu entdeckt wird.


Der Maler Ludwig Meidner (1884-1966) gehörte zu den wichtigsten Exponenten des künstlerischen Expressionismus in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges. In seinen 1912 und 1913 entstandenen "Apokalyptischen Landschaften", Gemälden und Zeichnungen von schöpferischer Hochspannung und aufschreckender visionärer Kraft, erfasste er mit seismographischem Gespür die Erschütterungen seiner Zeit und sah die Katastrophe des bevorstehenden Krieges voraus.

Durch die Nazis ins Exil getrieben, gerieten Ludwig Meidner und sein Werk über Jahrzehnte in Vergessenheit und wurden erst in den 1980er Jahren langsam wieder entdeckt. In den Monaten nach seinem 50. Todestag im Mai 2016 wurden und werden dem bedeutenden Maler im Rhein-Main-Gebiet mehrere Ausstellungen und ein wissenschaftliches Symposium gewidmet, um die verschiedenen Facetten seines Werkes zu beleuchten.

Der Bohémien

Am 18. April 1884 im schlesischen Bernstadt in einer jüdischen Familie geboren, sollte Ludwig Meidner nach dem Willen seiner im Textilhandel tätigen Eltern Architekt werden. Eine auf den Beruf vorbereitende Maurerlehre brach er jedoch ab und ging an die Kunstgewerbeschule in Breslau, wo er es auch nicht lange aushielt. 1905 zog Meidner nach Berlin und bewegte sich in den nächsten Jahren in den Kreisen der expressionistischen Bohème.

Bei Hermann Struck lernte er das Radieren, studierte mit finanzieller Hilfe einer Verwandten während eines Paris-Aufenthaltes die Werke Edouard Manets, Paul Cézannes sowie Vincent van Goghs, schloss Freundschaft mit Amedeo Modigliani und hielt sich, zurück in der deutschen Hauptstadt, mit dem Verkauf von Zeichnungen mehr schlecht als recht über Wasser.

In diesen von finanzieller Not geprägten Jahren fand Meidner die beiden künstlerischen Themenbereiche, die für sein Werk bestimmend werden sollten: Die expandierende Großstadt mit ihren aus dem Boden schießenden Industrie-, Geschäfts- und Wohnbauten, deren aggressives, ungezügeltes Wachsen er als bedrohlich und unheimlich auf Papier und Leinwand brachte, sowie die Welt der Bohème, deren Vertreter - Künstler, Literaten, Intellektuelle - ihm zu bevorzugten Modellen für unzählige Porträtdarstellungen wurden.

Mit seinen eindringlichen Por-träts und Selbstporträts sowie den "Apokalyptischen Landschaften", in denen er kubistische und futuristische Einflüsse mit seinem stark expressionistischen Duktus verbindet, etablierte er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seinen Ruf, der "expressionistischste der Expressionisten" zu sein. Zusammen mit den gleichgesinnten Malern Jacob Steinhardt und Richard Janthur gründete er die Gruppe "Die Pathetiker", die in Herwarth Waldens bekannter "Sturm"-Galerie ausstellte.

Während seiner expressionistischen Hochphase in den 1910er und den frühen 1920er Jahren schuf Ludwig Meidner ein so umfangreiches Porträtwerk wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit. Die Kollegen des künstlerischen und intellektuellen Milieus der damals pulsierenden Kulturmetropole Berlin, von denen die meisten im legendären "Café des Westens" verkehrten, standen dabei im Mittelpunkt seines künstlerischen Interesses. In der Darmstädter Schau "Ludwig Meidner. Begegnungen" wird dieser Schatz an Literaten- und Künstler-Por-träts aus Meidners Hand derzeit gehoben. Einige der großformatigen Rötel-, Kohle sowie Tusche-Zeichnungen und Radierungen werden dabei erstmals dem Publikum präsentiert.

"Weltende"

Da gibt es etwa das mit schnellem und höchst entschiedenem Strich skizzierte Porträt des Dichters Jakob van Hoddis, der 1911 mit seinem Gedicht "Weltende" die apokalyptische Stimmung seiner Zeit literarisch auf den Punkt brachte: "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei. / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, / Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut." In Seitenansicht und mit wirrem, wildem Haar blickt der Dichter vom Papier. Kurt Pinthus hat dieses Porträt in seiner "Menschheitsdämmerung", der legendären, 1919 erschienenen Anthologie expressionistischer Lyrik, als Abbildung neben van Hoddis’ Gedicht gestellt.

Bestechend auch das erstmals der Öffentlichkeit gezeigte großformatige Porträt des Dichters Joachim Ringelnatz, den Meidner 1919, als er gerade den Seemannsberuf gegen erste künstlerische Bühnenversuche im Nachkriegsmünchen eingetauscht hatte, mit flinkem, aber sicheren Strich aufs Papier bannte. Zum ersten Mal zu sehen ist auch das mit weicher Kreide gezeichnete Antlitz des jüdischen Religionsphilosophen Leo Baeck, den Meidner 1924 festhielt. Mit "stechenden Augen", so schilderten es von Meidner Porträtierte, habe sich der Maler seinen "Opfern" gegenübergesetzt und sie unablässig fixiert. "Wie ein Wurm", führte Meidner in seinem Buch "Im Nacken das Sternenmeer" aus, müsse man sich "in ein Gesicht hineinfressen" - erst dann dürfe man ein Porträt ausführen.

Über dreißig Protagonisten des kulturellen Lebens der Weimarer Republik - Meidner bannte unzählige mehr auf Papier und Leinwand, von denen viele von der Forschung erst nach und nach identifiziert werden können - lassen sich in der Darmstädter Schau in den faszinierenden Por-träts Meidners, meist sogar in mehreren Versionen, entdecken. Darunter sind vergessene ebenso wie heute noch bekannte Persönlichkeiten: Bella Chagall, Johannes R. Becher, Franz Pfemfert, Max Reinhardt u.v.a.. Ein gutes Dutzend Porträts gibt es von Meidners bis heute nicht identifiziertem Modell "Tanja", einer geheimnisvollen jungen Frau aus dem Dunstkreis der Bohème, von der nicht feststeht, ob sie "nur" Modell des Malers war - oder Muse und mehr.

Von existenziellen Ängsten getrieben, wandte sich Meidner in der Kriegszeit mehr und mehr religiösen Bildthemen zu. 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, diente er als Dolmetscher in einem Kriegsgefangenenlager und begann auch zu schreiben. Nach dem Krieg erhoffte er sich wie viele Intellektuelle eine Änderung der politischen Verhältnisse und schloss sich der Linken an. In der "Novembergruppe" und dem revolutionären "Arbeitsrat für Kunst" engagiert, zog er sich jedoch bald, enttäuscht vom Scheitern der Revolution, ins Private zurück. Die inzwischen auch kommerziell erfolgreiche Kunstrichtung des Expressionismus war ihm schließlich so wenig wert, dass er sich von seinen früheren Arbeiten distanzierte.

Exil und Rückkehr

Zurückgezogen lebend, bestimmten fortan religiöse Themen, Landschaften, Stillleben und weiterhin Porträts sein Werk. Nach dem Machtantritt der Nazis zum "entarteten Künstler" erklärt und als Jude verfolgt, zog Meidner 1935 zunächst nach Köln, wo er als Zeichenlehrer an einer jüdischen Schule arbeitete. Unter dem Eindruck der zunehmenden Repressalien floh er 1939 mit seiner Familie nach England.

1953 wurde Meidner durch die Initiative einzelner Kulturinteressierter dazu bewegt, aus England, wo er nie recht heimisch geworden war, nach Deutschland zurückzukehren. Er lebte zunächst in einem jüdischen Altenheim in Frankfurt und dann im Dorf Marxheim im Taunus, wo er eine geräumige Klempnerwerkstatt in ein Atelier umwandelte und künstlerisch aufblühte: "Hier ist es schön, Marxheim gefällt mir. Hier wohne ich inmitten lieblicher Natur, und ich will das nützen. . ."

In einem wahren Schaffensrausch entwickelte er, der in England kaum noch gemalt hatte, in den folgenden acht Jahren hier, wo er von der Dorfgemeinschaft mit Interesse empfangen worden war, seinen in den späten 1920er Jahren gefundenen Stil eines malerischen Realismus weiter und schuf ein beeindruckendes Spätwerk. Eine hochinteressante und auch anrührende Ausstellung im Stadtmuseum Hofheim hat kürzlich gezeigt, wie ihm als Porträtist des Dorflebens außergewöhnlich intensive Bilder gelangen.

Als ihm aus Altersgründen das Leben im ländlich gelegenen Atelier zu beschwerlich geworden war, stellte die Stadt Darmstadt Ludwig Meidner 1963 eine Ate-lierwohnung zur Verfügung. Auch hier entfaltete der Maler in den letzten drei Jahren seines Lebens noch eine rege künstlerische Tätigkeit, ehe er am 14. Mai 1966 verstarb.

Meidner heute

Zur Ausstellung "Ludwig Meidner. Begegnungen", die noch bis 5. Feburar 2017 auf der Darmstädter Mathildenhöhe zu sehen ist, ist ein gleichnamiges, umfangreiches Begleitbuch erschienen. Der von Philipp Gutbrod herausgegebene Band stellt Meidner besonders als Porträtisten des deutsch-jüdischen Intellektuellenkreises vor und zeigt das literarische und künstlerische Netzwerk des Künstlers in seiner Zeit (Hirmer Verlag, München 2016, 272 Seiten, 45 Euro).

Mit den großformatigen, farbenfrohen psychologischen Por-träts aus Meidners Spätwerk befasst sich das Buch "Jugend und Alter. Ludwig Meidners Porträts aus den 1950er und 1960er Jahren". Der Band ist als Katalog zu einer Ausstellung erschienen, die im vergangenen Jahr im Stadtmuseum Hofheim gezeigt wurde. (Stadtmuseum Hofheim, 136 Seiten, 15 Euro).

Der Band "Horcher in die Zeit. Ludwig Meidner im Exil"(Hirmer 2016, 240 Seiten, 45 Euro) richtet den Blick auf Meidners Leben und Arbeiten im Londoner Exil in den Jahren 1939 bis 1953.

Meidners Künstlerleben in Form seiner Skizzenbücher dokumentiert der von Gerd Presler und Erik Riedel herausgegebene Band "Ludwig Meidner. Werkverzeichnis der Skizzenbücher"(Prestel Verlag, München 2016, 471 Seiten, 71 Euro). Knapp fünfzig Skizzenbücher, vom ersten Zeichenheft aus seiner Schülerzeit bis hin zu den letzten Skizzenblättern aus seinem Todesjahr sind in dem opulenten Buch versammelt. Sie zeigen die Spontaneität von Meidners künstlerischem Impetus und dokumentieren, dass die Skizze eine selbstständige zeichnerische Ausdrucksform Ludwig Meidners war.

Von 16. bis 18. Jänner 2017 findet ein wissenschaftliches Symposium zu Werk und Wirkung Ludwig Meidners im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main statt (Näheres unter http://ludwig-meidner.de).

Oliver Bentz, geboren 1969, lebt als Kulturpublizist und Ausstellungskurator in Speyer (D).