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Gefangen in der Zeitfalle

Von Christian Hütterer

Reflexionen

Die Beschleunigung des Lebens überfordert den Menschen seit Beginn der Industriellen Revolution. Eine moderne Zeitpolitik soll nun gegensteuern.


 

Zeit ist Geld. Dieser Satz gilt als Mantra des Kapitalismus. Gemeint ist damit vor allem, dass die Geschwindigkeit in allen Lebenslagen so hoch wie möglich sein soll. Die Devise lautet: Je schneller, umso besser, und wer dies verinnerlicht hat, für den ist der Zweite bereits der erste Verlierer. In den letzten Jahren hat diese Maxime aber noch eine andere Bedeutung bekommen: Die Zeit und unser Umgang mit ihr sind zu einem Wirtschaftsfaktor geworden.

Unzählige Bücher zu diesem Thema werden uns angeboten, in Seminaren können wir den Umgang mit Zeit lernen, und vor jedem Jahreswechsel liegen in den Geschäften Stöße von Kalendern auf, die uns helfen sollen, die uns zur Verfügung stehende Zeit so effizient wie möglich zu gestalten.

Erhöhtes Tempo

Unser Umgang mit der Zeit hat viele verschiedene und oft auch gegensätzliche Aspekte. Fest steht, dass unser Leben im Vergleich zu früher schneller geworden ist. Aber ist dem wirklich so? In seinem Buch "Beschleunigung - die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne" hat sich der deutsche Soziologe Hartmut Rosa mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Für ihn ist klar: Die von uns empfundene Beschleunigung unserer Gesellschaft ist keine neue Entwicklung, sondern kann schon seit langer Zeit beobachtet werden.

Spätestens mit dem Beginn der Industriellen Revolution und den damit verbundenen technischen Innovationen hatten die Menschen das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht. Durch die ersten Fabriken wurde die Geschwindigkeit bei der Produktion von Gütern massiv erhöht, und die aufkommende Eisenbahn machte den Transport von Menschen und Waren in einer noch nie gekannten Schnelligkeit möglich.

Heinrich Heine bejubelte etwa 1843 die Eröffnung einer Bahn-
linie als den Beginn eines neuen Abschnitts in der Weltgeschichte und war sich sicher, dass dies tiefgreifende Auswirkungen auf die Menschheit haben werde: "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen!"

Die hohe Geschwindigkeit konnte schon damals Angst machen: Der menschliche Körper sei für das schnelle Reisen nicht gemacht, meinten die Ärzte und warnten, die Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde könnte bei Reisenden zu körperlichen wie geistigen Schäden führen.

In jener Zeit, in der alles schneller wurde, veröffentlichte Adalbert Stifter den Bildungsroman "Nachsommer", und einer der Protagonisten stellt sich darin die Frage: "Wie wird es erst sein, wenn wir mit der Geschwindigkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können?" Eineinhalb Jahrhunderte später wissen wir die Antwort darauf, denn seit der digitalen Revolution rasen die Informationen tatsächlich mit blitzartiger Geschwindigkeit um die Welt.

Effizienz

Auch die Güter werden heute schneller produziert denn je zuvor. Die Methode des "just-in-time" treibt dies auf die Spitze, denn in ihr werden die für die Fertigung notwendigen Materialien so knapp wie möglich geliefert. Zwar entfallen dabei die Lagerkosten, dafür kann schon eine geringe Verspätung nur eines Bestandteiles das fein abgestimmte Räderwerk ins Stocken bringen. Auch der Mensch soll das Seine zur schnellstmöglichen Produktion beitragen. Um Zeit zu sparen, werden Aufgaben am besten nicht mehr hintereinander, sondern zugleich erledigt. Multitasking lautet das aus Amerika importierte Zauberwort, die Produktivität und Effizienz sollen dadurch steigen.

Doch bald wurde Kritik an dieser Methode laut, und es dauerte nicht lange, bis auch wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass das gleichzeitige Arbeiten an unterschiedlichen Aufgaben uns bestenfalls unkonzentriert, in keinem Fall aber schneller macht.

Lewis Hines Bild von 1910, eine Ikone der Industrialisierung.
© ullstein bild - United Archives/World History Archive

Wir haben einen ambivalenten Zugang zur Geschwindigkeit. In manchen Dingen begrüßen wir sie (wer will schon auf einem Amt oder an einer Bushaltestelle lange warten?), in anderen wiederum wünschen wir uns weniger davon (etwa, wenn wir unter terminlichem Druck stehen). Die allgemeine Beschleunigung brachte jedenfalls auch einen sozialen Wandel mit sich. Man denke nur da-ran, wie das Mobiltelefon den Umgang mit anderen Menschen verändert hat oder welche Berufe innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte, also in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne, verschwunden oder entstanden sind.

Althergebrachtes Wissen ist auf einmal überholt, zugleich drängen neue Technologien auf uns ein. Dadurch nehmen wir den Zeitraum, den wir als Gegenwart empfinden, als immer kürzer wahr. Diese "Gegenwartsschrumpfung" führt, so der Soziologe Rosa, dazu, dass sich unser Lebenstempo gesteigert hat. Obwohl wir viel mehr Freizeit als die Generationen vor uns haben, fühlen wir uns unter Druck und haben kaum mehr Muße für all jenes, das viel Zeitaufwand erfordert.

Teufelskreis Technik

Technische Innovationen sollen uns helfen, die verloren geglaubte Zeit wieder zurückzugewinnen. Welch ein Fortschritt war etwa die Einführung der Waschmaschine, die uns (oder besser: den Frauen) das mühselige und lange dauernde Waschen abgenommen hat! Rosa sieht darin aber einen Teufelskreis, denn die scheinbaren Erleichterungen für das Individuum sind eine treibende Kraft für weitere Beschleunigung.

Der technische Fortschritt hat viele Möglichkeiten eröffnet, und es ist nur verständlich, möglichst viele davon nutzen zu wollen. Mit jeder Entscheidung für ein Vorhaben entscheiden wir uns aber gegen unzählige andere, und so wird - nach dem Soziologen Rosa - "das Verhältnis von realisierten zu unrealisierten Weltoptionen für uns immer ungünstiger".

Die daraus entstehende Angst, wir würden durch die Festlegung auf eine einzige Möglichkeit eine vielleicht noch bessere versäumen, treibt uns zu immer höherer Geschwindigkeit, damit wir möglichst viel erleben und das gesamte Band der uns zur Verfügung stehenden Optionen ausnutzen können.

Entschleunigung

Wie so viele Bewegungen hat aber auch die zunehmende Geschwindigkeit eine Gegenreaktion hervorgerufen, und so wurde die Entschleunigung zu einem neuen Wert, den es nun hochzuhalten gilt. Innehalten heißt nun die Maxime.

Unter dem vielsagenden Zeichen der Schnecke wurde schon im Jahr 1986 in Italien die Bewegung des Slow Food gegründet, die mittlerweile auf der ganzen Welt vertreten ist und sogar eine eigene Universität ins Leben gerufen hat. Ihre Anhänger lehnen Fast Food kategorisch ab und wollen die Bedeutung des guten Essens sowie der kulinarischen Traditionen in Erinnerung rufen.

Der Faktor Zeit ist für Slow Food entscheidend, denn gute Qualität kann nur entstehen, wenn Nahrungsmittel in Ruhe produziert und mit ausreichend Zeit genossen werden. Vom langsamen Essen ausgehend wurde 1999 - ebenfalls in Italien - die Initiative Cittàslow ins Leben gerufen. Weltweit können Städte mit weniger als 50.000 Einwohnern Mitglied dieser Vereinigung werden; in Österreich sind bisher drei Gemeinden in diesem Netzwerk aktiv, nämlich Enns, Hartberg und Horn. Ihr gemeinsames Ziel ist es, die Geschwindigkeit des Alltags zu drosseln, um so die Lebensqualität zu verbessern und regionale Eigenheiten zu bewahren.

Diese beiden weltweiten Initiativen beweisen, dass die Beschleunigung des Alltags nicht unwidersprochen bleibt oder als Entwicklung gesehen wird, der man nicht entkommen kann. Zu den mittlerweile zahlreichen Aktivitäten für einen besseren, überlegteren Umgang mit Zeit hat sich auch die Zeitpolitik gesellt. So wie die Raumordnung die Entwicklung und Ordnung des geographischen Raumes plant, werden in der Zeitpolitik die zeitlichen Bedingungen unseres Alltags zum Gegenstand des Handelns.

Zeitpolitik tritt allerdings fast nie alleine oder getrennt von anderen Themen, sondern meist in Verbindung mit bestimmten Politikbereichen auf. Sie kann eine Ergänzung zur Familienpolitik sein, wenn es etwa um die Vereinbarkeit von Beruf oder Familie geht; zur Stadtentwicklungspolitik, um eine Stadt der kurzen Wege zu fördern; oder zur Landwirtschaftspolitik, um die Produktion von hochwertigen Lebensmitteln voranzutreiben.

Aber was kann man sich unter dem weit gefassten Begriff Zeitpolitik vorstellen? Ihr Ziel ist die Verbesserung der Lebensqualität für die Bürger - vor allem für die Familien - durch die Regulierung von Zeitabläufen, die den Alltag bestimmen. Das steigende Interesse an Zeitpolitik hängt mit der oben beschriebenen Veränderungen der Zeitstrukturen in unserer Gesellschaft zusammen.

War die Zeitordnung der industriellen Ära noch standardisiert und stark kollektiv geprägt, so haben sich diese Strukturen durch die technischen und sozialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erheblich verändert.

Neue Zeitstrukturen

Die Arbeitszeiten wurden flexibler, das Internet lässt die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben verschwimmen. Die gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen hat dazu geführt, dass die unterschiedlichen zeitlichen Vorgaben von Beruf und Familie, von Kindergärten, Schulen, Geschäften und Ämtern immerzu neu koordiniert werden müssen. Die wachsende Anzahl von Alleinerziehern und die Tatsache, dass durch die erhöhte Mobilität immer mehr junge Familien ohne die Nähe der helfenden Großeltern auskommen müssen, trägt das ihre dazu bei, dass der Alltag und der Zeitablauf in ihm laufend abgestimmt werden müssen.

Wir sind in ein Korsett von vorgegebenen Zeitstrukturen geschnürt - die Öffnungszeiten von Ämtern und Geschäften, von Schulen und Kindergärten -, wodurch der individuelle Spielraum zur Gestaltung unserer Zeit erheblich eingeschränkt wird. Hier setzt die Zeitpolitik an, denn ihr Ziel ist, den Zeitwohlstand zu verbessern und dadurch die alltägliche Lebensqualität zu erhöhen.

Soweit also die Theorie, aber wie kann Zeitpolitik in die Praxis umgesetzt werden? Mit welchen Maßnahmen kann Zeitpolitik gestaltet werden? Antworten auf diese Fragen finden wir im Süden. Italien war die Geburtsstätte der Bewegungen Slow Food und Cittàslow, und es ist auch jenes Land, in dem unter dem Titel "tempi della città" (Zeiten der Stadt) die ersten kommunalen zeitpolitischen Regelungen getroffen wurden. 1990 erhielten die Bürgermeister die Möglichkeit, entsprechende Rahmenbedingungen (etwa die Öffnungszeiten von Geschäften) festzulegen. Zehn Jahre später war Italien auch der erste Staat, der auf nationaler Ebene gesetzliche Regelungen zur Zeitpolitik verabschiedete. Im Jahr 2000 wurden die italienischen Gemeinden zu einer kommunalen Zeitpolitik verpflichtet (Gesetz Nr. 58); ab einer bestimmten Größe mussten sie "Zeitbüros" einrichten und "Zeitordnungspläne" verabschieden.

Vorbild Bozen

Die Zeitbüros dienen als Koordinationsstelle für alle zeitpolitischen Fragen, die Zeitordnungspläne sind als Instrument zur Koordinierung und Harmonisierung der Stadtzeiten gedacht. Neben diesen bürokratischen Vorschriften umfasste das erwähnte Gesetz ein ganzes Bündel von Maßnahmen zum Thema Zeit, etwa arbeits- und sozialrechtliche Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Seit Längerem zeitpolitisch stark engagiert ist die Südtiroler Landeshauptstadt Bozen. Schon vor der Verabschiedung des nationalen Gesetzes über Zeitpolitik gab es in der dortigen Stadtverwaltung eigene Gremien, die Überlegungen zu diesem Thema anstellten. Die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen ruhten auf zwei Säulen: Zum einen sollten die Zeiten für die Nutzung öffentlicher und privater Dienstleistungen koordiniert werden, zum anderen regten sie die Schaffung einer "zeitorientierten Raumordnung" an. Konkret sollten öffentliche Einrichtungen, aber auch Handels- und Dienstleistungszentren rasch und einfach erreichbar werden. Die Zeitpolitik griff bald über die Stadt Bozen hinaus: Ein Netzwerk aus mehreren Südtiroler Gemeinden sollte die Behandlung der Thematik auch auf Landesebene erwirken. 2013 verabschiedete schließlich der Südtiroler Landtag ein Gesetz zur Förderung und Unterstützung der Familien, das auch zeitpolitische Themen regelt.

Bozen ist beispielgebend in der Umsetzung solcher Anliegen, etwa als bedeutende Schulstadt: 12.000 Jugendliche besuchen hier eine Schule, und mehr als die Hälfte von ihnen pendelt aus umliegenden Orten ein.

Zeitbanken

Die Folge waren tägliche Verkehrsstaus rund um die Schulzentren. Unter Einbindung von Lehrern, Schülern Eltern wie auch der Verkehrsbetriebe wurde nach einer Lösung des Problems gesucht. Das Ergebnis: Der bis dahin einheitliche Schulbeginn wurde gestaffelt, die Fahrpläne der Züge und Busse daran angepasst; hierauf ging der Verkehr rund um die Schulen zurück.

Ein zweites Beispiel betrifft die Arbeit der Stadtverwaltung. Die Dienstzeiten der Ämter können nun flexibler als früher gestaltet werden. Dadurch sind die Behörden für die Bürger besser erreichbar, aber auch die Angestellten profitieren: durch die Flexibilität am Arbeitsplatz lässt sich das Berufs- und Familienleben für sie jetzt leichter unter einen Hut bringen.

Als nächste zeitpolitische Maßnahme wurden in mehreren Stadteilen Bozens - wie in insgesamt 300 italienischen Gemeinden - sogenannte "Zeitbanken" eingerichtet. Vieles von dem, was früher unter dem Begriff Nachbarschaftshilfe selbstverständlich war, ist vor allem in den Städten zu einer Seltenheit geworden.

Diese Bank der anderen Art soll den Kontakt zwischen Menschen herstellen, die Hilfe bei der Lösung kleiner Alltagsprobleme brauchen, und solchen, die diese Hilfe anbieten. Das Spektrum der Leistungen reicht vom Ausführen des Hundes über Konversation in einer Fremdsprache bis zur Begleitung ins Krankenhaus. Die Person, die einen Dienst anbietet, erhält ein Zeitguthaben, während der Konsument eine Zeitschuld aufweist. Beide werden mit Schecks festgehalten; damit können bei jedem anderen Mitglied der Zeitbank Leistungen gebucht werden. Die Zeitbank fördert so auch den Zusammenhalt in der Nachbarschaft.

Es gibt also unterschiedliche Ansätze, wie die oft beklagte Beschleunigung gebremst werden kann. Fest steht, dass die Zeit eng mit unserer Lebensqualität zusammenhängt: Zeit zu haben und über sie frei verfügen zu können sind Voraussetzungen für unser Wohlbefinden. Nur die Wenigsten können aber ihre Zeit wirklich frei gestalten, und so bleibt es bei dem, was schon Wilhelm Busch zum Thema sagte: "Eins zwei drei! Im Sauseschritt / Läuft die Zeit, wir laufen mit."

Christian Hütterer, geb. 1974, Studium Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, Diplom in Europäischen Studien der Univ. Louvain-la-Neuve (Belgien), lebt und arbeitet in Brüssel.