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Was hätte ich damals getan?

Von Miguel Herz-Kestranek

Reflexionen

Eine Suche nach Wegen, die Erinnerungskultur an den NS-Terror in einen Bezug zur Gegenwart und zum eigenen Handeln zu bringen.


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Mahnmal für ein freies Österreich am Friedhof Klagenfurt-Annabichl: Bei einer Gedenkfeier 2016 hielt Miguel Herz-Kestranek eine Rede, von der dieser Text einige Auszüge enthält.
© Wikimedia

Als Sohn und Enkel von Exilanten, die der NS-Verfolgung entkommen konnten, während Teile der Familie ermordet wurden, erlebe ich - frei nach dem Diktum der Dichterin Hilde Spiel, Verlust der Heimat, Flucht und Emigration seien vererbbare Krankheiten -, dass sich diese Themen, diese Motti vieler Gedenkfeiern, bestimmend auch durch mein Leben ziehen.<p>Mein 2015 verstorbener Freund, der 1924 in Wien als Fritz Mandelbaum geboren wurde, 1938 in die USA flüchtete und dort als Frederic Morton zum weltberühmten Autor wurde, schrieb schon 1991 in seinem Essay "Exil, die Epidemie der Moderne" vom "Exil, das im Begriff ist, unser aller Erbe zu werden." Und wirklich sind wir, die wir uns - als Bürger eines vereinten und kriegsfreien Europa - gegen das Wiederaufleben von Rassismus, Faschismus und Antisemitismus einsetzen, indem wir uns an eine der dunkelsten europäischen Epochen erinnern, wieder mit millionenfacher Flucht und Emigration konfrontiert, deren Bewältigung zu einem großen Prüfstein für den Bestand der alternativlosen Europäischen Union geworden ist. Und wir sind, ob an den derzeitigen Flucht- und Emigrationsbewegungen mitverantwortlich oder nicht, aufgefordert, an der europäischen Lösung dieser weltweiten Fluchtbewegungen mitzuwirken.<p>

Betroffenheit

<p>Vertreibung und Exil sind Ausdruck weit gehender und zerstörender Widersprüche im gesellschaftlichen und geistigen Leben einer Nation. Die Wahlsprüche von Diktatoren gipfeln meist im Versprechen, diese Widersprüche zu lösen, münden jedoch in der Unterdrückung jeden Widerspruchs - und somit in der dramatischen Verschärfung der Widersprüche und den daraus erwachsenden tödlichen Folgen.<p>Dieser Folgen, ihrer Ursachen, ihrer Opfer und ihrer Helden gedenken wir vor allem, um nicht zu vergessen! Wir tun dies aber immer auch mit der unausgesprochenen Aufforderung zur Betroffenheit über das Geschehene, sowie mit den meist ausgesprochenen Appellen "Wehret den Anfängen!" und "Nie wieder!"<p>Ich war in meinem Leben bei vielen Gedenkfeiern in Erinnerung an den NS-Terror, habe unzählige Reden gehört und Versuche erlebt, das nach wie vor Unbegreifliche in Worte zu fassen und damit Betroffenheit zu bewirken, eine Betroffenheit, die andauern sollte über die Gedenkstunde hinaus, damit sie mitgenommen werde nach Hause, ins sogenannte normale tägliche Leben. Erinnerungskultur also, um die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die Zusammenhänge zu erkennen zwischen Ursachen und Wirkung, zwischen damals und heute, um Demokratie, Menschenrechte, Freiheit des Geistes und somit unsere Grundwerte zu verteidigen und nach den Appellen zu handeln im sogenannten Alltag.<p>Doch je mehr Gedenkstunden ich beigewohnt habe, desto mehr sind meine Zweifel gewachsen an der Wirksamkeit über das Nicht-Vergessen hinaus, an der Nachhaltigkeit der Appelle, an der Möglichkeit, dauerhafte Betroffenheit zu erwirken. Zu groß scheint die Distanz vom Anlass zu sein, zumal für Nachgeborene, Unbeteiligte und somit Schuldlose.<p>Deshalb hege ich auch meine Zweifel an der Wirksamkeit der implizierten Aufforderung, die richtigen Schlüsse aus dem Gedenken zu ziehen, möglichst moralische, gerechte Schlüsse, die zum Besseren, wenn nicht gar zum Guten wenden sollen, was nach wie vor kaum besser und schon gar nicht gut ist.<p>Mithin kenne ich auch dieses Schuldgefühl, das sich einstellt bei Gedenkstunden, darüber, nicht mehr nachhaltig getroffen zu werden vom lange Vergangenen, vom Schrecklichen, vom immer noch nicht Fassbaren, von der zweiten Vertreibung aus dem Paradies, wie ich es einmal genannt habe; nicht mehr nachhaltig erschüttert zu werden etwa von der Gleichzeitigkeit von Barbarei, dem Verwerfen jedweder menschlicher Regeln, vom Grausamkeitswahnsinn neben Beethovenkonzert und Goethegedicht; von der Gleichzeitigkeit etwa liebevoller Vater- und Mutterschaft am Abend und tausendfachen Kindermordens am nächsten Tag.<p>Nicht nachhaltig betroffen mehr zu sein von etwas, das sich nach wie vor jedem Erklärungsmuster entzieht; und auch den Zusammenhang zu heute nur herstellen zu können als theoretische Übung, ohne unmittelbare Auswirkung auf das eigene Handeln. Ich zweifle also an der Erziehungskraft von Gedenkfeiern zu Humanismus. Ich zweifle an der Tauglichkeit des Gedenkens an sich dazu. Denn würden das Erinnern und Nichtvergessen genügen, dürfte es folgerichtig keine immer neuen Anlässe geben, zu gedenken, dürften nicht genau jene Anfänge, denen zu wehren aufgerufen wird, sich so mehren wie heute.<p>Ist Gedenken also nicht selten eine Pflichtübung in politischer Korrektheit? Eine Ablassfunktion? Zur Bekräftigung des kollektiven Konsenses, als Gedenkende für sich selbst die Hand ins Feuer legen zu können?<p>Ich fühle mich aufgefordert nachzudenken, welche Form des Gedenkens mich diese Zweifel überwinden ließe. Mein Ansatz: das Gedenken in einen Zusammenhang mit dem eigenen Gewissen zu stellen. In der Stunde des Gedenkens und im Bewusstsein der Unmöglichkeit, sich in die Vergangenheit und deren gänzlich andere Ausgangslagen zu versetzen, trotzdem den Bezug zur Gegenwart, zum eigenen Leben zu suchen und sich zwei Fragen zu stellen: Wie hätte ich damals gehandelt? Und: Wie handle ich heute? Einen Gedenkanlass also zu nutzen zur persönlichen Gewissenserforschung, um einem möglicherweise daraus erwachsenden eigenen Wandlungsappell zu folgen.<p>

Charakterstärke

<p>Wenn der 1938 ins amerikanische Exil entkommene österreichische Literat Alfred Polgar in seinem 1948 noch im Emigrantenverlag Querido erschienen Essay "Der Emigrant und die Heimat" schreibt: "Nicht verschwiegen darf auch werden, dass es viele im Nazi-Reich gab, die zu den schmutzigen und blutigen Ereignissen dort zwar nicht laut ,Nein‘ sagten, aber immerhin die keineswegs ungefährliche Charakterstärke aufbrachten, nicht laut ,Ja‘ zu sagen. . .", dann frage ich mich: Hätte denn ich die Charakterstärke aufgebracht, nicht laut Ja zu sagen, oder gar laut Nein? Und wofür reicht meine Charakterstärke heute?<p>Ich hätte wohl geschwiegen, wenn man mich bedroht hätte, meine Familie, meine Kinder, wenn ich um meinen Beruf, mein Auskommen, mein Leben hätte bangen müssen? Aber wie laut ist meine Stimme heute, ohne diese Bedrohungen? Was wäre ich damals gewesen als durchschnittlicher Bürger: ein Gleichgültiger oder ein Wacher? Ein Abschalter oder ein Mitdenker? Ein Wegschauer oder ein Hinschauer? Ein Schweiger oder ein Aussprecher, gar ein Rufer? Ein Gewährenlasser oder ein Eingreifer? Ein Wissen-, oder ein Nichtwissenwollender? Ein Dummsteller oder ein Verstehenwollender? - Und was davon bin ich heute?<p>Hätte ich mich verführen lassen damals, hätte ich geglaubt, gehofft? Oder hätte ich der Verführung widerstanden? Hätte ich gar Widerstand geleistet. - Und was davon tue ich heute?<p>Wäre ich ein Gegner gewesen? Ein Mitläufer? Oder gar Täter? Hätte ich geholfen? Hätte ich verraten, um mein eigenes Auskommen zu retten? - Und wie handle ich heute? Was wäre ich gewesen: ein Feiger, oder ein Mutiger? Und was bin ich heute?<p>Wie hätte ich diese Charakter-Prüfungen bestanden? Und wie bestehe ich heute vergleichsweise leichte Charakter-Prüfungen? Hätte ich damals versucht, mir über mein Gewissen klar zu werden - und auch danach zu handeln? Bin ich mir heute über mein Gewissen im Klaren? Handle ich heute danach? Wie sicher bin ich mir meiner ethischen Selbstverantwortung? Kann ich wirklich die Hand für mich ins Feuer legen? - Solch Gewissenserforschung kann wehtun, und vielleicht taucht manche dunkle Seite auf, der sich zu stellen nicht angenehm ist. Doch ich halte dies für eine Möglichkeit, Gedenken nachhaltig wirken zu lassen, es zu nützen zu innerer Wandlung.<p>Immer von neuem inspiriert mich ein Gedicht von Alfred Farau. Als Fred Hernfeld wurde er als Jude in Wien beim Novemberpogrom 1938 verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Er konnte freikommen und in die USA flüchten. Dort war er bis zu seinem Tod ein führender Vertreter der Individualpsychologie und hat neben Fachbüchern auch etliche Dichtungen hinterlassen; darunter ein Gedicht, das er 1943 (!) geschrieben hat, also zwei Jahre vor dem Ende des Nazi-Terrors. Er nannte es, als Wunsch in die Zukunft gerichtet, "Rede am Tage von Hitlers Sturz". Ich zitiere daraus:<p>"Hitler ist tot! - Nun schwenket keine Fahnen, / marschiert nicht auf und läutet nicht die Glocken, / das ist ein Tag der Trauer und der Scham, / das ist kein Tag, um jauchzend zu frohlocken! // Wenn solch ein Mann in blutig langen Jahren / des Wahnsinns, wie die Welt ihn niemals sah, / von euch ertragen ward, von euch geduldet - / wenn das geschehen konnte und geschah, // dann schweigt, ihr Leute, und denkt nach darüber, / und fragt euch, wie es möglich war und kam / und dauern konnte /<p>(. . .)<p>Von tausend Kanzeln gilt es, aufzuzeigen, / wie sich die Menschheit selbst ihr Los erschafft, / bis jedem klar wird, dass er mit verbunden, / mit Teil hat an der Erde Schöpferkraft! /<p>(. . .)<p>Wenn das geschieht, und erst wenn wir so weit sind / . . . / dann ist es Zeit zu jauchzen und frohlocken, / dann ist es Zeit für Fahnen und für Glocken - / doch heut ist nur ein bittrer Tag der Scham. / Besinnt euch, Leute, und geht still nach Hause. / Hitler ist tot - der wahre Kampf beginnt."<p>Dieser "wahre Kampf" beginnt zuerst - so glaube ich - in jedem Einzelnen von uns. Beim Hineinfragen in sich selbst, beim Gewissenerforschen. Zu dieser Gewissenserforschung in der Gegenüberstellung damals und heute ermuntere ich, wenn Reden gehalten werden, wenn erzählt wird, noch einmal ins Licht gerückt, gemahnt, beschworen und gewarnt wird bei Gedenkanlässen.<p>Der deutsche Jude Siegmund Feniger, der bereits 1936 von Berlin über Wien nach Sri Lanka floh und dort unter dem Namen Thero Nyanaponika zu einem der großen buddhistischen Gelehrten wurde, gab uns als Essenz seiner Erkenntnisse den Satz: "Nur durch innere Wandlung wandelt sich das Außen, auch wenn es noch so langsam nachfolgt."

Miguel Herz-Kestranek, geb. 1948 als Sohn jüdischer Remigranten in St. Gallen/Schweiz. Schauspieler und Autor; Vizepräsident der Öst. Gesellschaft für Exilforschung, Kuratoriumsmitglied des Dokumentationszentrums des Öst. Widerstandes; lebt und arbeitet in Wien und St. Gilgen.

www.herz-kestranek.com