
Wohin das Auge schaut, ist Tradition und Gediegenheit zu verspüren. An einer Wand prangt der Doppeladler. Die Geschäftseinrichtung aus edlem Holz ist im Original erhalten, wer den Blick nach oben richtet, sieht ein beeindruckendes Deckengemälde: eine Allegorie auf den Seidenhandel; drei Putten symbolisieren den Weg von der Seidenraupe zum Stoff; der eine Kindsengel pflückt eine Raupe von einem Maulbeerbaum, der zweite spinnt einen Faden, der dritte hält den fertigen Stoff in der Hand.
Wir befinden uns im Tuchhaus "Wilhelm Jungmann & Neffe" im ersten Wiener Gemeindebezirk. Hier kauft man exquisite Schals, Krawatten und Schirme, außerdem edle Stoffe, aus denen Maßanzüge gefertigt werden.
Jolesch-Generationen
Als unser Taxi vor dem Geschäftslokal gehalten hatte, sahen wir auf der anderen Seite des Albertinaplatzes Menschen ins Museum strömen. Und das Erzherzog-Al-brecht-Reiterdenkmal vor der Stirnfront der Albertina hatte sich in den Schaufenstern des Tuchhauses gespiegelt.
Wir, d.h. Wolfgang Mayr, Melita Sedlaczek und ich, haben Georg Gaugusch bei unseren Recherchen für das Buch "Die Tante Jolesch und ihre Zeit" kennengelernt. Er half uns, mehrere Generationen der Familie Jolesch komplett aufzustellen - beginnend bei den Firmengründern Samuel und Sara Jolesch bis hin zu Franz Jolesch. Bei Friedrich Torberg fungierte "der Neffe Franzl" nur als Anekdotenlieferant, in Wirklichkeit war er eine schillernde Persönlichkeit: zu seinem Bekanntenkreis zählten Anton Kuh, Egon Erwin Kisch und andere Schriftsteller.

Georg Gaugusch ist nicht nur Inhaber eines renommierten Tuchgeschäftes. In der Kulturszene hat er sich als Autor des Buches "Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800-1938" einen Namen gemacht. Der erste Band umfasst die Buchstaben A bis K und hat unglaubliche 1696 Seiten. Der zweite Band von L bis R mit 1456 Seiten Umfang ist kürzlich erschienen. (Der Buchtitel ist eine Analogie zu einem Werk von Sophie Lillie, "Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens".)
Georg Gaugusch, Jahrgang 1974, besuchte zunächst die Höhere Bundeslehr- und Versuchsanstalt für chemische Industrie in der Rosensteingasse. Eine Professorin legte ihm ihre Dissertation als Beispiel vor, wie eine wissenschaftliche Arbeit abzufassen sei. "Ich erging mich damals weniger in der Struktur der Arbeit, vielmehr studierte ich den der Dissertation angeschlossenen Lebenslauf", schreibt Gaugusch im Vorwort des ersten Bandes von "Wer einmal war". "Dieser Lebenslauf begann mit geborene M., geboren am . . . in Shanghai (China). Frei von jeder Sachkenntnis gab mir das ein Rätsel auf. Auf jeden Fall traf ich zum ersten Mal bewusst auf ein Emigrantenschicksal, und mein Interesse war geweckt."
Nach Ableistung des Präsenzdienstes studierte Gaugusch Technische Chemie an der Technischen Universität Wien, musste jedoch feststellen, dass ihm dieses Fach fremd geworden war. Zu dieser Zeit plante eine Gruppe von Wiener Geschäftsleuten eine Ausstellung der k. u. k. Hoflieferanten. Die Firma "Wilhelm Jungmann & Neffe", die 1881 mit diesem Titel ausgezeichnet worden war, sollte in der Ausstellung nicht fehlen.
Verwehte Spuren
Also machte sich Georg Gaugusch an die Arbeit und stöberte in den alten Geschäftsunterlagen. Das traditionsreiche Unternehmen hatte sein Urgroßvater 1942 aus einer Insolvenz erworben, aber eine Firmengeschichte war nicht vorhanden. Er wusste allerdings, dass sich "Wilhelm Jungmann & Neffe" zu Zeiten der Monarchie als das führende Geschäft für die Damen des Hofes, der Aristokratie und des wohlhabenden Bürgertums etabliert hatte.
Die Firmengeschichte war schnell verfasst, doch der Impetus, verwehte Spuren sichtbar zu machen, sollte bleiben. Wer waren die Kunden von "Wilhelm Jungmann & Neffe" gewesen? Die aristokratischen Damen waren leicht den jeweiligen Familien zuzuordnen, aber mittendrin gab es Namen, die nicht auffindbar waren. Es waren Juden, die in der Shoa ermordet oder aus Österreich vertrieben wurden. Um diese der Vergessenheit zu entreißen, machte sich Georg Gaugusch auf die Suche nach jenen großen jüdischen Industriellen, die Österreichs Wirtschaftsleben bis 1938 entscheidend geprägt hatten.
Es ist fünf Jahre her, als uns die Geschlechterfolge der Familie Jolesch beschäftigte. "Wer war Julius Jolesch?", hatten wir Georg Gaugusch gefragt. "Wir wissen über den Onkel von Franz Jolesch recht wenig. Er hat eine Zeitlang das Familienunternehmen in Wiese bei Iglau geführt und dieses verlassen, um beim Großindustriellen Isidor Mautner als Geschäftsführer anzuheuern."
Gaugusch hatte uns in einen Nebenraum seines Lokals geführt und das Notebook angeworfen. Seine Finger flogen über die Tastatur, er hantelte sich von Datenbank zu Datenbank, Geburts-, Heirats- und Sterbedaten der Standesämter sowie Todesanzeigen in den Zeitungen waren genauso schnell auf dem Schirm wie Wohn- und Geschäftsadressen.