Immer wenn er etwas gefunden hatte, sprudelte es aus ihm nur so heraus: "Julius Jolesch liegt im Urnenhain in Wien begraben, sein Sohn Alexander starb 1972 im Alter von 83 Jahren . . . Julius Jolesch war mit Gisela Salacz verheiratet, deren Vater stammte aus Großwardein, das war im Osten der ungarischen Reichshälfte, heute liegt der Ort in Rumänien und heißt Oradea . . . Gisela war ein Einzelkind, die Eltern haben sich früh scheiden lassen . . ."
Zu Isodor Mautner machte er uns ein Angebot: "Im zweiten Band von ,Wer einmal war werdet ihr ein ausführliches Kapitel über den Industriellen Isidor Mautner finden. Ich kann euch eine erste Fassung des Kapitels mailen."
Das Familienunternehmen der Mautners war ursprünglich in Nachod angesiedelt. Die Stadt im Nordwesten Tschechiens erfuhr im 19. Jahrhundert dank der sich dynamisch entwickelnden Textilindustrie einen Aufschwung. Die Familie Mautner zog schließlich nach Wien und begründete die Zentrale eines riesigen Textilkonzerns, dessen Geschäftsgebiet bald ganz Österreich-Ungarn umfassen sollte.
Arme & reiche Juden
Jetzt sitze ich dem Genealogen wieder gegenüber, in demselben Nebenraum seines Geschäftes. "Seit unserem letzten Gespräch hat sich viel geändert", sagt Gaugusch, "das Personenstandsgesetz 2014 erleichtert die Recherchen. Früher waren Standesamtsunterlagen generell für hundert Jahre gesperrt, jetzt sind die Sterbeakten nur noch für dreißig Jahre gesperrt. Ich glaube, das ist lang genug, eine ganze Generation. Schmerzhaft ist der Verlust des Matrikelamtes der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde. Mit der Pensionierung des letzten Matrikelführers wurde die Stelle aufgelöst und dem Gemeindearchiv eingegliedert. Dieses hat die Arbeiten mit den Originalmatrikeln streng reglementiert."
"Sie haben uns seinerzeit erzählt, dass die zuverlässigsten Daten auf den Grabsteinen zu finden sind . . ." - "Ich fahre nach wie vor mit meiner Frau (die Historikerin Marie-Theres Arnbom) von Friedhof zu Friedhof und fotografiere die Grabsteine der jüdischen Indus-triellen. Dadurch entsteht eine große Datenbank. Grabsteine sind eine hervorragende Quelle, die die mitunter fehlerhaften Angaben von Standesbeamten ergänzen. Aber leider sind viele jüdische Friedhöfe in einem katastrophalen Zustand." Manchmal sind die Grabsteine mit Efeu überwuchert und Gaugusch muss sich an die Inschriften erst heranarbeiten. Wenn Vandalen eine Grabplatte in mehrere Teile zerschlagen haben, setzt er die Reste wie ein Puzzle zusammen (siehe Abbildung unten).
"Was ist von dem oft zu hörenden Argument zu halten, dass besonders viele Unternehmen in jüdischer Hand waren?" - "Es gab nicht nur viele reiche Juden, sondern auch viele arme Juden, wie es auch in der Gesamtbevölkerung Reiche und Arme gibt. Der Anteil der jüdischen Unternehmer unter den Geschäftsleuten war allerdings tatsächlich hoch, und zwar deshalb, weil die Juden bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts kein Handwerk ausüben durften. Sie konnten also beispielsweise nicht Schuhmacher werden - aber eine Schuhfabrik durften sie gründen. Man könnte sagen: Die Antisemiten haben die Entwicklung des jüdischen Unternehmertums indirekt gefördert."
Dies war übrigens für breite Bevölkerungsschichten ein Segen. Die handgenähten Schuhe des Schuhmachers waren für sie unerschwinglich gewesen, die billigen Schuhe aus den Schuhfabriken konnten sie sich leisten.
Ähnlich wie den Handwerkern erging es den Absolventen des Jus-Studiums. Da eine Karriere im Staatsdienst unwahrscheinlich war, gründeten sie Rechtsanwaltskanzleien. Als die Nazis in Österreich die Herrschaft übernahmen, war dann die Zahl jener Rechtsanwälte, die in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet wurden, besonders groß. Einer von ihnen war der Sozialdemokrat Dr. Hugo Sperber, der in Friedrich Torbergs Buch "Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten" mit vielen Bonmots zitiert wird.
Im Buch "Wer einmal war" wird ein Dr. jur. Josef Löwer erwähnt, Hofrat, Senatsvorsitzender und Richter in Wien. Als er 1932 starb, schrieb man auf den Grabstein: "Der erste Jude, der als Richter einem Wiener Gerichtshofe angehörte."
Sicher spielte es auch eine Rolle, dass in den jüdischen Familien Bildung großgeschrieben wurde. Man schaute darauf, dass die Söhne Jus oder Betriebswirtschaft studierten. Gaugusch: "Frei zu denken und initiativ zu sein, das war das oberste Gebot - stärker als in der Mehrheitsgesellschaft."
Auch Franz Jolesch wurde angehalten, an der Wiener Universität Jus zu studieren. Er sollte in der Lage sein, das Familienunternehmen in Wiese bei Iglau einmal zu übernehmen. Dass er sich in eine Kommunistin verliebte, diese heiratete und von seinem Vater enterbt wurde, passt irgendwie in das Bild.
Böse Unterstellungen
Die Christlichsozialen hingegen waren rigoros bildungsfeindlich. Der Katholik Gaugusch formuliert es so: "Es gab eine Grundstimmung im katholischen Etatismus, die dem liberalen Judentum diametral entgegengesetzt war: Der Staat soll alles regeln." Die Sozialdemokraten wiederum hefteten sich zwar das Thema Bildung an ihre Fahnen - möglichst viele Genossen sollten einen akademischen Grad erwerben -, doch dies war Selbstzweck. Gaugusch: "Es ging darum, die politischen und wirtschaftlichen Parteiinteressen mit Leuten aus den eigenen Reihen besser vertreten zu können."