Zum Hauptinhalt springen

Wien, Berlin, Bolivien

Von Oliver Bentz

Reflexionen

Die 1885 in Wien geborene jüdische Malerin Lene Schneider-Kainer war einst eine vielbeachtete Künstlerin, deren facettenreiches Werk heute nahezu vergessen ist. Erinnerung an eine Weltbürgerin.


Mit ihren Porträts bekannter Persönlichkeiten des kulturellen Lebens wie Else Lasker-Schüler, Oswald Spengler, Max Reinhardt, Franz Werfel, Lucie Höflich oder Egon Friedell, ihren gewagten weiblichen Aktdarstellungen oder ihren Zeichnungen aus Asien war Lene Schneider-Kainer im legendären Berlin der 1920er Jahre eine vielbeachtete und angesehene Künstlerin. Heute ist die Malerin und Graphikerin, die ein bewegtes und abenteuerreiches Leben hatte, das 1885 in Wien begann und 1971 im bolivianischen Cochabamba endete, weitgehend vergessen.

Ihr Vater, der Maler Sigmund Schneider, förderte schon früh das künstlerische Talent der begabten Tochter. Einer ersten Zeit, in der sie sich das Malen autodidaktisch durch das Kopieren in den reich bestückten Wiener Kunstmuseen beibrachte, folgte ein Jahr an der Kunstakademie in München, bevor es Lene Schneider 1909 in die brodelnde Kunstmetropole Paris zog. Ob sie dort an der "École des Beaux Arts" oder einer der berühmten Privatschulen wie der "Académie Julian" studierte, lässt sich heute nicht mehr belegen. Sicherlich jedoch beobachtete sie die miteinander konkurrierenden Pariser Künstlergruppen und Kunststile dieser Zeit, ohne sich jedoch einer konkreten Gruppe oder Richtung anzuschließen. Der französische Impressionismus, den sie in den Museen und Galerien der Seine-Metropole ausgiebig studieren konnte, sollte jedoch immer ein starker Impuls für ihre künstlerische Arbeit bleiben.

1910 heiratete sie in Ungarn den sich gerade aus dem Arztberuf verabschiedenden und sich einer künstlerischen Karriere zuwendenden Maler Ludwig Kainer, den sie in Paris kennengelernt hatte und mit dem sie nach der Geburt des Sohnes Peter 1912 nach Berlin zog. Der Salon, den die Malerin in ihrer Wohnung zu führen begann, wurde bald zum Treffpunkt der Berliner Künstler- und Literaten-Szene. Else Lasker-Schüler, Arnold Schönberg, Franz Werfel, Herwarth Walden, Lucie Höflich oder Gret Palucca waren nur einige Protagonisten des - nicht zuletzt durch Zuwanderung von Intellektuellen aus Wien und Prag - prosperierenden kulturellen Lebens in der Stadt an der Spree, die sich bei Lene Schneider-Kainer trafen.

Einige der Kolleginnen und Kollegen aus dem Kulturbetrieb, die in ihrem Salon verkehrten oder mit denen sie in den Mu-seen, Galerien oder Caféhäusern der Stadt zusammenkam, hielt Lene Schneider-Kainer auch in qualitätvollen psychologisch einfühlsamen Intellektuellenporträts fest. Viele dieser in ihrem Atelier in der Niebuhrstraße entstandenen Bilder gelten - wohl nicht zuletzt aufgrund der politischen Verwerfungen des frühen 20. Jahrhunderts und des turbulenten, mit vielen Ortswechseln verbundenen Lebens der Künstlerin - heute als verschollen.

In leuchtenden Farben gehalten ist ihr erhaltenes großformatiges Bildnis Else Lasker-Schülers aus dem Jahr 1914, in dem sie eindrucksvoll das schillernde Wesen der illustren Dichterin erfasst. Die Hände übereinandergelegt, sitzt Lasker-Schüler auf diesem Ölbild in knallroter Bluse in einem Sessel, versonnen in eine imaginäre Ferne blickend, in die sie auch oft in ihren Gedichten entführt.

Ein weiteres, bisher unbekanntes und kürzlich entdecktes Exemplar von Lene Schneider-Kainers großen Öl-Porträts zeigt den Historiker, Schriftsteller und Schauspieler Egon Friedell. In abgeklärter, selbstbewusster Pose steht er auf diesem in den Jahren um den Ersten Weltkrieg entstandenen Gemälde da, vor blassgrünem Hintergrund, im braunen Jackett, den rechten Arm wohl auf eine Kommode aufgestützt, die linke Hand locker in die Jacketttasche gesteckt, am Betrachter vorbeiblickend. Ein Geistesmensch, dem es nicht um den Kontaktaufnahme geht, sondern in und aus dem heraus es arbeitet.

Große Erfolge

Mit ihrer ersten große Einzelausstellung von Februar bis Mai 1917 in der Galerie Gurlitt in Berlin wurde Lene Schneider-Kainer, nachdem sie im Jahr zuvor in der Berliner Freien Secession und im Rahmen der juryfreien Kunstschau Berlin debütiert hatte, als Malerin und Illustratorin in der deutschen Hauptstadt bekannt.

Etwa 50 Ölbilder und Zeichnungen zeigte sie in dieser Schau, die bei der Kritik auf große Beachtung stieß. In der Zeitschrift "Deutsche Kunst und Dekoration" etwa erschien ein umfangreicher Artikel, der mit gleich acht großformatigen Abbildungen ihrer Werke großzügig illustriert wurde, und auch die anderen wichtigen Kunstperiodika der Hauptstadt berichteten.

So ist es nicht verwunderlich, dass sich Lene Schneider-Kainer - die sich des Öfteren auch selbst porträtierte - auf einem repräsentativen Selbstbildnis aus dieser Zeit vor dem Betrachter äußerst selbstbewusst inszeniert. "Lene Schneider-Kainer", hieß es 1920 in einem Artikel über die Künstlerin, "hat unter den Malerinnen Deutschlands einen allerbesten Namen. Ihre Ausstellungserfolge in der Berliner Sezession, in Wien, in Holland haben ihren Ruf gemacht, eine der kräftigsten Farbenkünstlerinnen der Moderne zu sein".

Berüchtigt wurde Schneider-Kainer mit ihren zwischen 1919 bis 1922 entstandenen, in der Technik der Lithographie ausgeführten erotischen Mappenwerken mit Titeln wie "Zehn weibliche Akte" oder "Vor dem Spiegel", die im Fritz Gurlitt-Verlag erschienen und ebenso großes Aufsehen erregten wie die über 30 erotischen graphischen Arbeiten, in denen sie die "Hetärengespräche des Lukian" illustrierte. Mit ihren kühnen weiblichen Akten war die Malerin - neben Kolleginnen wie Charlotte Berend-Corinth, Jeanne Mammen oder Renée Sintenis - eine von wenigen Künstlerinnen, die sich schon auf das auch in der Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche der Weimarer Republik eigentlich noch immer als Männer-Domäne geltende Gebiet der Aktdarstellung vorwagten. In der Aktmalerei war den Frauen immer noch die traditionelle Rolle des Modells und nicht die der ausführenden Künstlerin zugedacht.

Kunst und Mode

Da es in den wirtschaftlichen Krisenjahren der jungen Weimarer Republik für Künstler äußerst schwierig war, durch ihr künstlerisches Arbeiten den Lebensunterhalt zu bestreiten, suchte sich Lene Schneider-Kainer ein weiteres berufliches Betätigungsfeld und betrieb ab Jänner 1925 in der Rankestraße einen Modesalon. "Die Malerin eröffnet einen Wäscheladen", schrieb der "Bilder Courier" über das Geschäft, dessen Verkaufsräume die Künstlerin dann auch für Ausstellungen eigener Arbeiten nutzte.

1926 trennte sich Lene Schneider-Kainer von ihrem Mann, verließ nach ihrer Scheidung Berlin und begleitete zwei Jahre lang den Dichter Bernhard Kellermann auf einer den Spuren der Route Marco Polos folgenden Asienexpedition. Während dieser vom "Berliner Tageblatt" in Auftrag gegebenen Reise malte und zeichnete sie nicht nur, sondern machte auch Fotos, die später Kellermanns 1929 erschienenen Reisebericht "Der Weg der Götter" illustrierten. Regelmäßig veröffentlichten die beiden auch Reiseberichte im "Berliner Tageblatt" und brachten das abenteuerliche Leben in den fernen Ländern mit dem gemeinsam erstellten Dokumentar- und Kultur-Film "Im Reiche des silbernen Löwen" auch auf die Kinoleinwand. Nach ihrer Rückkehr zeigte Lene Schneider-Kainer ihre exotischen Reise-Bilder zudem in vielbeachteten Ausstellungen in Berlin, Magdeburg, Stuttgart, Kiel, London, Rom, Barcelona oder Kopenhagen.

Mit einem feinen Sensorium für das aufgrund des erstarkenden Nationalsozialismus heraufziehende Unheil entschloss sich die jüdische Künstlerin, der die Preußische Akademie der Künste 1931 den mit einem mehrmonatigem Aufenthalt in der italienischen Hauptstadt verbundenen Rom-Preis der Villa Massimo zugesprochen hatte, schon Anfang 1932 zur Emigration.

Im Exil

Sie ging nach Mallorca, wo sie ihre Bilder in Ausstellungen zeigte. 1933 übersiedelte sie nach Ibiza, um dort ihr internationales Gästehaus "Ca Vostra" (Euer Haus) zu gründen, in dem sie auch Emi-granten aufnahm. In den Kämpfen des Spanischen Bürgerkrieges wurde ihre Pension 1937 bei einem Bombenangriff zerstört.

1938 erreichte sie New York, wo sie für die nächsten fünfzehn Jahre leben sollte. Obwohl als Künstlerin in den Vereinigten Staaten ein unbeschriebenes Blatt, konnte sie, nach Vorlage von Kritiken ihrer Ausstellungen in europäischen Großstädten, besonders ihre Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen aus Asien schon bald nach ihrer Ankunft vor dem amerikanischen Publikum präsentieren. Hauptsächlich verlegte sie sich jedoch, da sie wohl von ihrer Malerei in den USA nicht leben konnte, auf die Herstellung von wasch- und kaubaren Kinderbüchern aus Stoff, die sie im eigenen Kinderbuchverlag erfolgreich unter dem Namen Elena Eleska herausbrachte.

Mit 69 Jahren änderte Lene Schneider-Kainer noch einmal radikal ihr Leben. Sie machte sich 1954 auf zu ihrem Sohn Peter, der schon seit 1937 in Bolivien lebte, und eröffnete mit ihm in Cochabamba eine Stofffabrik, in der Textilien mit Mustern aus der indianischen Kultur bedruckt und auch in die USA exportiert werden. Am 15. Juni 1971 starb Lene Schneider-Kainer im Alter von 86 Jahren. Ihre Werke sind in aller Welt verstreut. Teile ihres Nachlasses liegen heute im Leo Baeck-Institut in New York. Ihr Name ist nur noch wenigen Interessierten und Sammlern ein Begriff.

Die Ausstellung "Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938", die noch bis
1. 5. 2017 im Jüdischen Museum Wien zu sehen, zeigt Arbeiten von 41 Wiener Künstlerinnen, darunter vier Bilder von Lene Schneider-Kainer .

Oliver Bentz, geboren 1969, lebt als Germanist, Kulturpublizist und Ausstellungskurator in Speyer. In der Reihe "Jüdische Miniaturen" des Berliner Verlags Hentrich & Hentrich ist soeben sein neuestes Buch erschienen: "Anton Kuh. Kaffeehausliterat zwischen Prag, Wien und Berlin".