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Sonnenlicht aus zweiter Hand

Von Christian Pinter

Reflexionen

Wenn die sonnenbeschienene Erde über dem Horizont des Mondes steht, werden auch die dunklen Teile des Trabanten schwach sichtbar. Dieser Lichteffekt wird "Erdschein" genannt.


Der Mond am 1. März 2017 - das Foto überbelichtet, damit der Erdschein klar zutage tritt.
© Pinter

So mancher reibt sich beim Blick zum jungen Mond ungläubig die Augen: Da schält sich neben der zarten Mondsichel auch die ganze, eigentlich finstere Mondscheibe aus dem Schwarzblau der späten Abenddämmerung - wenngleich nur äußerst matt.

Früheren Betrachtern schien es mitunter, als schlummere der alte Mond in den Armen des jungen. Um dieses rätselhafte Phänomen zu erklären, stellten sich Gelehrte den Mond als kristallene Kugel vor, durch die Sonnenstrahlen dringen würden. Manche schenkten ihm eine glühende Oberfläche - oder eine Lufthülle, die im Sternenlicht erstrahlen sollte.

Leonardo da Vinci wusste es besser. Für ihn warf der irdische Ozean das Sonnenlicht auf den dunklen Mondteil. Diese im Prinzip richtige Überlegung hielt er anfangs des 16. Jahrhunderts fest - in einer Manuskriptsammlung, die man "Codex Leicester" nennt. Später kam der Tübinger Mathematikprofessor Michael Mästlin - ein Lehrer Keplers - zum selben Schluss; ebenso Galileo Galilei.

Der Mond erweise uns des Nachts mit seinem Schein eine "Wohltat", schwärmte Galilei 1610 in seinem "Sternenboten". Die Erde vergelte ihm dies aber in gleichem Maße, da sie seine finstere Nacht ebenfalls mit Licht erfülle. So käme ein "gerechter und dankbarer Tausch" zustande, meinte der Italiener.

Wie Johannes Kepler in seinem Roman "Mondtraum" richtig erklärte, verhalten sich die Lichtphasen von Erde und Mond komplementär. Zum Neumondtermin würde ein Mondbewohner eine volle Erde an seinem Firmament bestaunen. Danach magerte die Erde aus seiner Perspektive ab, während der Mond am irdischen Himmel zunimmt.

Das "aschgraue Licht"

Der Mond empfängt das Sonnenlicht auf doppelte Weise. Wo ihn die Sonnenstrahlen direkt treffen, herrscht auf ihm heller Tag. Der Rest liegt in dunkler Nacht. Doch die wird aufgehellt, wo immer die sonnenbeschienene Erde über dem Mondhorizont steht. Sie spendet ihrem Begleiter gleichsam "Sonnenlicht aus zweiter Hand". Astronomen sprechen vom lumen cinereum (nach lat. cinis, Asche), vom "aschgrauen Licht" oder vom "Erdschein".

Etwa zu jener Zeit, als da Vinci das eingangs erwähnte Manuskript verfasste, setzte Kopernikus die Erde in Bewegung und somit den Planeten gleich. Doch die meisten Zeitgenossen Galileis und Keplers zweifelten noch am kopernikanischen Weltbild. Sie wollten die Erde weiterhin unbewegt im Zentrum des Universums belassen. Im Gegensatz zu den Planeten strahle diese, so lautete eines ihrer Argumente, kein Licht ins All. Galilei konterte, indem er auf den Erdschein verwies.

In unserem Kalender taucht alle 29 oder 30 Tage das Neumondsymbol auf. Am nächsten oder übernächsten Abend erspähen wir die schmale Mondsichel erstmals wieder. Der Erdschein ist fürs freie Auge jetzt und an den folgenden drei, vier Abenden sichtbar. Ein Fernglas oder Fernrohr verlängert diese Spanne.

Mit dem Teleskop, so betonte schon Galilei, lassen sich im Erdschein auch die Mondmeere erkennen. Es zeigt außerdem die hellen Strahlen, die von den Kratern Tycho, Copernicus oder Kepler wegziehen. Der kleine Krater Aristarchus glänzt im Erdschein besonders stark. Er narrte 1787 sogar Wilhelm Herschel: Der berühmte Astronom glaubte, den Ausbruch eines "Mondvulkans" zu beobachten.

Einst musterte da Vinci die Silhouette einer Burg. Deren Zinnen waren in Wirklichkeit genauso breit wie die Abstände zwischen ihnen. Doch die hellen Lücken muteten breiter an. Ähnlich ist es beim Mond: Der Radius der glänzenden Mondsichel erscheint uns größer als der Radius der nur schwach glimmenden Mondscheibe. Und zwar um ein Fünftel, wie der Astronom Tycho Brahe zu Ende des 16. Jahrhunderts schätzte. 1810 erwähnte Johann Wolfgang von Goethe die Beobachtung des Dänen in seinem Werk "Zur Farbenlehre". Dann fügte er sogleich hinzu: "Schwarze Kleider machen die Personen viel schmäler aussehen, als helle".

Optische Täuschung

Tatsächlich mutet uns Helles größer an als Dunkles - eine optische Täuschung. Der deutsche Physiologe Hermann von Helmholtz untersuchte das zugrunde liegende Phänomen 1867 und taufte es Irradiation (von lat. irradio, bestrahlen). Wer schwarze Hemden und Hosen trägt, um schlanker zu wirken, setzt also bloß wissenschaftliche Erkenntnisse im Alltag ein.

Australier, Asiaten, Amerikaner - sie sehen einen anderen Erdschein als wir. Weil die Dämmerungszone gen Westen über den Erdball zieht, schält sich die Mondsichel über diesen Kontinenten früher bzw. später aus dem dunklen Himmelsblau. Dann aber sind es auch andere Regionen unseres Planeten, die das Sonnenlicht zum Mond werfen.

Abends liegt die Spiegelfläche westlich des Betrachters: Mustern Europäer den Erdschein, würde ein Mondfahrer die beiden amerikanischen Kontinente auf der Erdscheibe ausmachen. Im Zentrum läge das Karibische Meer - jedenfalls zu Sommerbeginn. Anfang Winter wäre Brasilien dorthin gerückt. In den folgenden Tagen schöbe sich der Atlantik immer prominenter ins Bild. Im Winter tauchte sogar der westliche Teil Afrikas auf.

Etwa fünf bis zwei Tage vor Neumond sichten wir den Erdschein wieder; diesmal aber am alten, abnehmenden Mond - und damit am östlichen Morgenhimmel. Auch die irdische Spiegelzone liegt dann weit im Osten: Für europäische Mondbeobachter zählen ganz Asien, der Malaiische Archipel und Australien dazu; im Winter auch der Osten Afrikas. Vom Mond aus betrachtet, dominierte der Indische Ozean die Erdscheibe.

Wie der deutsche Astronom Johann Heinrich von Mädler 1867 schrieb, erschiene uns der morgendliche Erdschein "lebhafter" als der abendliche: wegen der kräftiger spiegelnden Landschaften Asiens und des östlichen Afrikas. Auch für Alexander von Humboldt hing der Glanz davon ab, ob die Erde dem Mond gerade Land oder Meer zuwende: "Von den opaken Teilen der Südsee muss natürlich das Licht schwächer reflektiert werden, als von den Flächen im Inneren von Afrika, oder von Hochasien". Das betonte der weitgereiste Deutsche 1828 in seinen Berliner Kosmosvorträgen.

Schwankender Glanz

Das dunkelblaue Meer ist ein schlechter Reflektor. Dicht bewaldete Regionen spiegeln besser, Wüsten und Savannen noch mehr. Deshalb schwankt der Glanz des Erdscheins von Stunde zu Stunde. Entscheidend sind aber die Wolken. Wie jeder Flugpassagier weiß, können sie, von oben betrachtet, blendend hell sein. Deren Rückstrahlfähigkeit beträgt bis zu 90 Prozent. Weil die Wolkenbildung im Jahreslauf schwankt, ändert sich die Kraft des Erdscheins auch saisonal.

Dies erkannte bereits der As- tronom André Danjon. Er stellte ab 1926 nämlich die ersten systematischen Messungen an. Dazu verdoppelte er das Abbild des Mondes mit einem Prisma. Dann blendete er die Mondsichel im ersten Bild so weit ab, bis ihr Glanz dem aschgrauen Mondrund im zweiten Bild glich. Um die aktuelle Helligkeit des Erdscheins anzugeben, brauchte der Franzose jetzt nur noch den Grad der Abblendung zu notieren.

Mondfahrer beschrieben die Erde als "blaue Murmel". Sieben Zehntel unseres Planeten werden ja von Ozeanen bedeckt. Trotz seiner bescheidenen Rückstrahlfähigkeit verrät sich das Meer durch einen Hauch von Blau im Erdschein. Beim Auftreffen auf den Mondboden verändert sich das Lichtspektrum allerdings. So mischt sich etwas Grün ins Blau. Man könnte das Ergebnis "Türkis" nennen. Besonders farbsichtige Erdscheinbetrachter meinten, ein zartes Grün wahrzunehmen. Der Franzose Pierre Bouguer machte dafür Reflexionen an den ausgedehnten Wäldern am Orinoco oder Amazonas verantwortlich. Dieser Gedanke kam ihm, nachdem er 1741 von einer Südamerika-Expedition heimgekehrt war.

Der Vollmond beleuchtet eine Hauswand etwa so wie eine Kerze in zwei Metern Abstand. Dank ihrer Größe und der gleißenden Wolken wegen bestrahlt unsere Erde den Mondboden wesentlich forscher: nämlich mit der Kraft von mehreren Dutzend Kerzen!

Im Schein dieses "Kronleuchters" könnten schlaflose Mondbewohner unschwer Zeitung lesen - was irdischen Printmedien einen völlig neuen Leserkreis erschlösse. Das aschgraue Licht wärmt sogar ein bisschen: Dies belegten jene Hitzesensoren, die 1971 von den Apollo-15-Astronauten im Mondboden vergraben wurden.

Analogien

Je mehr Sonnenlicht die Erde zurück ins All wirft, desto weniger gelangt zu ihrem eigenen Boden. Daher ist die irdische Rückstrahlfähigkeit auch klimarelevant. Seit den Achtzigerjahren wird sie von Satelliten erfasst, mit einer räumlichen Auflösung im Kilometerbereich. Im jeweils aktuellen Erdschein sehen wir hingegen die gleichzeitige Reflexion von grob vier Zehntel der Erdoberfläche. Aus geometrischen Gründen gehen tropische Regionen stärker ins Ergebnis ein. Die polaren Gebiete fallen ihrer Randlage wegen weniger ins Gewicht.

Mittlerweile hat man rund 4000 Exoplaneten im Orbit um fremde Sterne nachgewiesen - aber praktisch alle nur mit indirekten Verfahren. Wirklich fotografieren ließen sich nur wenige Dutzend. Sofern sie nicht allzu heiß sind, leuchten die solcherart porträtierten Welten bloß im Lichte ihres Sterns.

Oberflächendetails sind nicht zu erkennen. Denn aus unserer entrückten Perspektive schrumpfen Exoplaneten zu bloßen Lichtpunkten zusammen. Dennoch ließen sich selbst solchen Pünktchen Geheimnisse entlocken. Dazu müsste man bloß die Lehren aus dem Erdscheinstudium auf sie umlegen können: Das aschgraue Licht auf dem Mond gibt mit seinen Schwankungen etwa die Rotationsdauer der Erde preis, die grobe Verteilung ihrer Kontinente und das Wechselspiel der Wolkenbedeckung. Ähnliche Rückschlüsse wären auch bei exoplanetaren Lichtpunkten möglich - sofern deren Glanz deutlich genug variiert.

Mehr noch: Irdische Pflanzen reflektieren das Sonnenlicht stark im nahen, fotografisch erfassbaren Infrarot. Daher machen sich die Wälder am Amazonas im Erdschein mit einem ganz charakteristischen Infrarotüberschuss bemerkbar. Entdeckte man derartiges im Licht eines behaglich temperierten Exoplaneten, wäre das die Sensation!

Christian Pinter, geboren 1959, schreibt  seit 1991 als Fachautor in der "Wiener Zeitung"  über Astronomie und Raumfahrt. Internet: www.himmelszelt.at