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Im Land der stillen Helden

Von Martin Zinggl

Reflexionen

Unser Autor lebte acht Monate in Nepal: Als Gast und Betrachter, als Freund und Reporter, als Liebender und Leidender. Eine Bilanz.


In Nepal gibt es mehr Festivals als Tage im Jahr: Hier zwei Sadhus (Pilger) während des Shivaratri Festivals im Tempel von Pashupatinath.
© Zinggl

Bagat, eine pummelige Gestalt, trippelt auf das abgesperrte Gitter zu. Die Schritte des Nachtwärters sind klein, seine Augen schlaftrunken. Es ist vier Uhr morgens. Mein Flug landete unplanmäßig in der nepalesischen Hauptstadt, da er verschoben wurde - um zwei Stunden nach vorne. Außer der Fluglinie wusste niemand über meine verfrühte Ankunft Bescheid. Auch ich erfuhr es erst während eines stundenlangen Transits am Istanbuler Flughafen.

Bagats Pech ist mein Glück - oder umgekehrt. Er steht an der Innenseite des Gitters, das sein Hotel von der tiefschwarzen Nacht Kathmandus trennt. Ich stehe davor. Der Nachtwärter ziert sich, versucht mich höflich loszuwerden, möchte mich an das Nachbarhotel verschachern, das ebenso verbarrikadiert wie stockdunkel aussieht. Erst als er ein paar Brocken auf Englisch lallt, bemerke ich, dass Bagat sternhagelvoll ist: "No room pretty", "later come".

Wo soll ich bloß hin? Spazierengehen ist keine Option. Kathmandu schläft. Die Straßen sind menschenleer und unheimlich, ein Nachtleben aufgrund der Stromeinsparungen inexistent. Ich schlottere vor Kälte, bin hundemüde. Meine Augen schmerzen bereits, seit über zwanzig Stunden halte ich sie nun offen.

Leise brummt Bagat vor sich hin, rauft seine zerzausten Haare. "35 Dollar ok?", fragt er unsicher und verzieht die Backe. "Nein, Bagat, nicht ok", entgegne ich, halb genervt, halb schläfrig. "7 Dollar waren ausgemacht, um sechs Uhr." Beide verstummen wir. Kalte Nebelschwaden verschwimmen um uns herum. Ich sehe mehrere Schatten auf einem Hausdach: Affen, die uns beobachten. Schließlich zeigt Bagat Mitleid. "Sofa ok", murmelt er. "12:00 o’clock room".

"Ich sehe Schatten auf einem Dach: Affen, die uns beobachten . . ."
© Zinggl

Erleichtert blicke ich Bagat nach, der in das Hotel schlendert, um den Schlüssel für das Gitter zu holen. Die Hosenbeine seiner Jeans, die ihm zwei Nummern zu groß sind, schleifen auf dem Boden. "Mein Held", denke ich - und ein stiller noch dazu! Ich richte eine geistige Notiz an mein Gehirn, die vielleicht wichtigste Lektion für dieses Land: "Alles geht! Immer! Irgendwie!"

Dass ich diese Lücke im nepalesischen System noch öfters brauchen würde, war mir damals nicht bewusst. Dass das Sofa im Freien steht und ich es mir mit Bagat teilen muss, der sich im Schlaf immer wieder über seine kleinen Fürze erheitert, allerdings auch nicht. Egal, ein Kompromiss, mit dem ich leben kann. Zweite Lek-
tion: "Nepalesen sind gastfreundliche und herzensgute Menschen!"

Um sieben Uhr reißt uns ein Hupen aus dem Schlaf. Laut und penetrant, dafür nicht eintönig, sondern melodisch, wie eine Musik, die an Jahrmärkte erinnert und die immer gleiche Botschaft vermittelt, sodass ein bitterer Ohrwurm zurückbleibt: "Willkommen in Kathmandu!"

"Wasser", brabbelt Bagat, erhebt sich aus unserem gemeinsamen Nachtlager und eilt zum Gitter. Kurz darauf startet ein Generator und pumpt mehrere tausend Liter aufbereiteten Wassers aus einem Tankwagen in das hoteleigene Reservoir. Das gesamte Viertel muss von diesem lärmenden Spektakel erwachen, denke ich. Aber nein, hier ist das normal. Dritte Lektion, um in Nepal nicht durchzudrehen: "Über nichts wundern!" Es sollten noch viele solcher Lektionen folgen.

Für seine im vergangenen Jahr im "extra" der "Wiener Zeitung" erschienene Reportage über eine Leprastation in Nepal erhielt Autor Martin Zinggl (l.) kürzlich den Anerkennungspreis der Wiener Ärztekammer 2016 überreicht (von Mediensprecher Hans-Peter Petutschnig).
© Ärztekammer für Wien/Stefan Seelig

Nepal ist ein Land der Gegensätze, wie die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Das bedeutet stundenlange und qualvolle Autofahrten, die mit malerischen Naturschönheiten belohnt werden. Das bedeutet Spontaneität und starre Bürokratie. Bittere Armut und großer Reichtum. Gastfreundlichkeit und Rücksichtslosigkeit. Desinteresse und neugierige Beobachtungen. Politische Instabilität und Zufriedenheit. Künstliche Hektik und Lethargie. Köstlichkeiten und mangelnde Hygiene. Schlichtheit und Pomp. Umweltschutz und Zerstörungswahn. Toleranz und Rassismus. Desaster und Kreativität.

Ich könnte ständig weitere Beispiele aufzählen. Aber Gegensätze ziehen sich irgendwie an, und wenig überraschend ist Nepals stärkster Vorteil auch sein größter Nachteil: die bewundernswerte Bescheidenheit seiner Bewohner, die lieber gesellig beisammen sitzen, brühend heißen Milchtee schlürfen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre, während das Land von einer Katastrophe nach der anderen gebeutelt wird. So geschehen vor allem in den vergangenen zwei Jahren, seit an einem sonnigen Samstagvormittag, am 25. April 2015, die Erde bebte. Aber auch die weiter zurückliegende Geschichte weist schwere Lasten auf, die dieses kleine Land im Himalaya (auch heute noch) zu stemmen hat.

Zuerst Bürgerkrieg, dann Erdbeben

Erstmals bereisen wollte ich Nepal im Februar 2005. Ich hatte bereits Flugticket, Visa und Vorfreude im Gepäck, als wenige Tage vor Abflug König Gyanendra die Regierung auflöste, die Medien des Landes verwies und den Notstand ausrief. Soldaten der Armee schossen in Gruppen demonstrierender Studenten, verhafteten Politiker, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten und kappten Telefon- und Internetleitungen. Nepal befand sich am Rande eines Bürgerkrieges - wieder einmal. Ich entschied, nicht hinzufahren.

Knapp zehn Jahre danach stehe ich während einer kurzen Reportagereise vor Bagats abgesperrtem Gitter und lerne die ersten Lektionen über Nepal und seine Bewohner. Zudem verliebe ich mich in ein Land voller Geschichten und beschließe, ein Buch darüber zu schreiben.

Keine sechs Monate später unterschreibe ich den Buchvertrag und bereite mich auf die Rückkehr vor. Zwei Tage darauf wird Nepal vom schwersten Erdbeben seit einundachtzig Jahren heimgesucht. Ich fahre trotzdem oder gerade deshalb erst recht in ein Land, in dem ich als Gast und Betrachter, als Freund und Reporter, als Liebender und Leidender die krisenreichste Zeit verbringen werde, die das Land seit dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren gesehen hat.

Mein Leben war zum Zeitpunkt der Buchidee ähnlich zerrüttet. Meine Beziehung lag in Scherben, der Kontostand war - anstatt hoch wie der Himalaya - tief wie der Marianengraben, und ein Bandscheibenvorfall legte mich gezwungenermaßen mehrere Monate (vor der Abreise) flach. Ich war unkreativ, demotiviert und fürchtete mich vor der Aufgabe, ein Buch über Nepal zu schreiben.

Besorgt bestieg ich das Flugzeug, dieses Mal pünktlich und in Katar, jenem Fantasie-Staat, wo nepalesische Lohnarbeiter unter sklavenähnlichen Bedingungen hausen und bis zu vierzehn Stunden täglich für einen Hungerlohn in der brütenden Hitze Arabiens schuften (und mitunter sterben), um dem Ex-Weltfußball-Paten Joseph Blatter schmucke VIP-Logen in den Sand zu bauen. Um welchen Preis in dem arabischen Emirat 2022 eine Fußballweltmeisterschaft zelebriert wird, muss jedem Fan bewusst sein.

Als wir im bewölkten Kathmandu landeten, die schneebedeckten Bergwipfel der Himalayas zu meiner Linken, nieselte der Monsun gemächlich, aber kontinuierlich auf Nepal herab. Mein Rücken schmerzte, ich war müde, alleine und hatte keinen einzigen Rupee zur Hand. Zumindest Kathmandu war bereits hellwach.

Aber welches Land und welche Menschen hätten inspirierender, ablenkender, rehabilitierender, versöhnlicher und wohltuender sein können als Nepal und seine Bewohner, nachdem es inmitten eines ständigen Durcheinanders selbst eine Ausnahmesituation erlebte? Wir passten zueinander - und würden für die folgenden schweren Zeiten einfach zusammenhalten. So geschehen mit Nachtwärter Bagat - und mit vielen weiteren stillen Helden, denen ich in diesem Land begegnete.

Eine Woche nach meiner Ankunft verabschiedete die nepalesische Regierung den Entwurf einer neuen Konstitution, derzufolge das Land in sechs (später dann sieben) neue Provinzen aufgeteilt werden sollte. Die Reaktion der multi-ethnischen Bevölkerung hätte nicht klarer ausfallen können: Straßensperren, Demonstrationen, Kämpfe mit Polizei und Armee, Tote und Verletzte - und ich mittendrin. Nepal stand wieder einmal am Rande eines Bürgerkriegs. Bald darauf wurden die Grenzen von Indien dicht gemacht und der Nachschub von Benzin, Gas, Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Gütern lahmgelegt.

Nachhaltige Lektion: Leiden ohne Klagen

Nepal blutete und war am Austrocknen, ehe es vom härtesten Winter seit zwölf Jahren heimgesucht wurde. Jene Menschen, die beide Erdbeben überlebten und in behelfsmäßigen Zeltlagern auch den Überschwemmungen des Monsun trotzten, kämpften nun gegen den Kältetod. Das Bild eines alten Mannes "brannte" sich dabei besonders in meinen Kopf: Entlang der Ring Road, der Hauptverkehrsader Kathmandus, fällte er die letzten Bäume, um irgendetwas verheizen zu können. Auffallend waren seine Demut und Haltung - trotz der schwierigen Verhältnisse lächelte er zufrieden.

Die vielleicht nachhaltigste Lektion aus dem Land am Himalya lautet daher: Nepal besticht durch seine Bewohner, die auch mit Nichts zufrieden sind und jeden daran teilhaben lassen.

Dieses kleine Land, eingebettet zwischen - und abhängig von - den nachbarlichen Wirtschaftsriesen China und Indien, lehrte mich noch viele weitere Lektionen: beispielsweise jene der Andacht, wenn ich lernte, ohne Strom und Gas, fließendem Wasser und Komfort zu leben und mich nicht darüber zu beschweren, denn unzählige Menschen in Nepal hatten weit mehr zu leiden als ich - und klagten nicht. Ich denke etwa an die Patienten im Lepraspital von Lalgadh, deren Dasein nicht nur innerhalb der Gesellschaft eine Last ist, weshalb sie isoliert und stigmatisiert werden. Sogar das nepalesische Gesetz ächtet sie, verbietet ihnen zu arbeiten und zu heiraten.

UnvergleichlicheFarben und Lichter

Eisige Kälte und andere körperliche wie geistige Grenzerfahrungen lernte ich sowohl am Annapurna-Circuit kennen, dem beliebtesten Trek der Welt, als auch während Gadhimai Mela, dem weltweit größten Blutopfer-Schlachtfest. Ersteres lehrte mich, mich mit der Natur auseinanderzusetzen, sie zu schätzen und zu respektieren. Zweiteres machte mich zum Vegetarier, der ich seitdem geblieben bin.

Wenn über Tage und Wochen überhaupt nichts mehr weiterging, niemand Telefonate, Emails oder Textnachrichten beantwortete, Termine nicht zustande kamen, lernte ich geduldig zu sein. Ich lernte Lärm zu hassen, sowie Licht und Farben wertzuschätzen, die sich in Nepal unvergleichlich entfalten. Ich lernte die Gerüche "Fäulnis", "Fäkalien" und "Hausmüll" voneinander zu unterscheiden.

Was Willenskraft und etwas wirklich Großes im Leben zu leisten bedeutet, erfuhr ich durch die Geschichte von Dinesh Tamang und seinem Heimatort Kapur. Dinesh rettete nicht nur 19 Kollegen eigenhändig aus den Erdbebentrümmern, sondern setzte Gott und die Welt in Bewegung, um sein komplettes Dorf umzusiedeln - mit Erfolg: Erst vor wenigen Wochen wurde der neue Ort feierlich eingeweiht. 307 Menschen, Frauen und Männer, Alte und Kleinkinder, fanden ein neues - und vor allem sicheres - Zuhause.

Hingabe für eine Lebensaufgabe lernte ich von der Familie Shrestha und ihrem unermüdlichen Einsatz für die letzten Ganges-Delfine in Westnepal. Genauso von Ambica Didi und ihrem Dwarika’s, einem Vorzeigehotel mitten in Kathmandu, in dem Ambica seit mittlerweile sechzig Jahren das Kulturerbe der Newar versammelt, den ursprünglichen Bewohnern des Kathmandutals. Aber auch von Filmproduzent Resh Marhatta und seinem Blockbuster "National Treasure", in dem ich eine kleine Rolle spielen durfte - und auf dessen Veröffentlichung ich seit einem Jahr warte. Aber was bedeutet schon Zeit in Nepal?

Ich hatte das Glück, das "andere" Nepal kennen zu lernen, das Land fernab der Touristenrouten, wo es weder Straßen noch Strom gibt, wo zwei Drittel der Nepalesen von der Außenwelt abgeriegelt leben, wie vor Hunderten von Jahren, und wo man tatsächlich glaubt, durch die Zeit zu reisen. Ich lernte, dass die körperlich härtesten Arbeiten von Frauen verrichtet werden, und Kühe im Straßenverkehr immer Vorrang haben - egal wo! Ich lernte, dass Kulturerbe und Tradition tatsächlich einen hohen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft einnehmen und es darum in Nepal mehr Festivals als Tage im Jahr gibt. Schließlich muss alles irgendwann gefeiert werden.

Ich lernte auch ein Land voller Skurrilitäten kennen: von Göttinnen auf Erden über Polo spielende Elefanten bis hin zu außergewöhnlichem Sprachgebrauch, wenn ich etwa Schilder zu lesen bekam wie "Human Tailor", "Cock Soup", "Ideal School" oder "Hungry House". Nur unter der Beschilderung "Child eats the man" kann ich mir auch ein Jahr später immer noch nichts vorstellen!

43 Personen ineinem Minibus

Ich lernte die Scheu vor Berührungen in hoffnungslos überfüllten Transportmitteln ebenso abzulegen wie die Angst vor waghalsigen Überholmanövern auf einspurigen Bergstraßen. Ich lernte, dass Moskitos erst ab 2000 Meter Seehöhe zu stechen aufhören, dass auch Kleidungsstücke gefrieren, der lokale Linsenbrei - trotz immergleicher Zutaten - nicht überall gleich schmeckt - und auch, wann ein Minibus, der für 23 Passagiere gebaut und gedacht ist, offiziell als voll deklariert wird und auseinander bricht. Die Antwort für beides lautet: 43 (plus eine Ziege auf dem Dach).

In der Regel gibt es in Nepal (hier in Kathmandu, mit der Himalayakette im Hintergrund) immer noch Platz für einen Fahrgast - bis es dann halt mal kracht . . .
© Zinggl

Vor allem aber lernte ich mich in Flexibilität zu üben, nicht zuletzt aufgrund der chaotischen Verhältnisse in Nepal. Aber irgendwo zwischen Chaos und Komplexität entsteht eben auch Neues, Spannendes und Außergewöhnliches. Nepal ließ mich dankenswerterweise daran teilhaben.

Wir rauften uns schließlich zusammen und daraus entstand ein Buch mit neun Geschichten, die versuchen, einen Querschnitt durch Land und Leute zu geben, ohne dabei Nepal vollständig und umfassend abbilden zu wollen (und zu können). Dafür müssten wohl mindestens neun weitere Bücher geschrieben werden. Grund genug, nach Nepal zurückzukehren und weitere Lebenslektionen zu lernen.