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Die Angst vor der Angst

Von Franz M. Wuketits

Reflexionen

Gibt es mehr Terror als vor 30 Jahren? Oder hat sich nur unsere Wahrnehmung der Gefahr verändert?


Am 27. Dezember 1985 um neun Uhr am Morgen wurde am Flughafen Wien-Schwechat ein Terroranschlag verübt. Palästinensische Terroristen griffen mit Sturmgewehren und Handgranaten den Schalter der israelischen Fluglinie El Al an, wobei drei Menschen getötet und 39 weitere verletzt wurden. Bei der anschließenden Verfolgung wurde einer der Täter von der Polizei erschossen. Kurz nach elf Uhr wurde der reguläre Flugbetrieb erneut aufgenommen. Es ist heute praktisch unvorstellbar, dass man schon zwei Stunden nach einem Terroranschlag gleichsam zur Tagesordnung übergeht.

Veränderte Verhältnisse

Was hat sich in den seither verstrichenen 32 Jahren verändert? Ist die Terrorgefahr wesentlich größer geworden? Man könnte es - gerade nach dem Anschlag in Manchester - vermuten. Oder wird die Gefahr heute nur bedrohlicher wahrgenommen? Oder lassen die Massenmedien jeden Terrorangriff als überdimensioniert erscheinen?

Vergegenwärtigen wir uns dazu zunächst ein paar Tatsachen. In den 1970er und 1980er Jahren waren in Europa mehrere terroristische Organisationen aktiv. Darunter die IRA (Irisch Republikanische Armee), die Roten Brigaden (eine italienische kommunistische Untergrundorganisation) und die RAF (Rote Armee Fraktion, eine linksextreme Vereinigung in der Bundesrepublik Deutschland). Zu den besonders folgenschweren Terroranschlägen jener Jahre gehören das Olympia-Attentat in München am 5. September 1972 mit 17 Toten und der Bomben-Anschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna am 2. August 1980 mit nicht weniger als 85 Toten. Heute sind, da wir in einer Zeit der "Gegenwartskonzen-tration" leben, diese und andere Terroranschläge weitgehend in Vergessenheit geraten, und an die erwähnten Terrororganisationen wird kaum noch erinnert.

Interessant ist im vorliegenden Zusammenhang auch, sich klar zu machen, dass derzeit jährlich weltweit etwa eine halbe Million Menschen "gewöhnlichen" Tötungsdelikten zum Opfer fallen (aus bekannten persönlichen Motiven wie Neid, Habgier, Eifersucht usw. ermordet werden), während sich die Zahl der bei Terroranschlägen ums Leben kommenden Menschen pro Jahr auf etwa 28.000 beläuft.

Rein rechnerisch, also statistisch gesehen, wird jemand mit höherer Wahrscheinlichkeit etwa von seinem Nachbarn oder Arbeitskollegen ermordet werden, als bei einem Terroranschlag ums Leben kommen. Selbstverständlich ist jedes Terroropfer genau eines zu viel - aber ist nicht auch jedes "gewöhnliche" Mordopfer genau eines zu viel?

Für die meisten von uns sagen abstrakte Zahlen freilich nur wenig aus. Der persönlich motivierte Mord wird - aus leicht nachvollziehbaren psychologischen Gründen - anders wahrgenommen als ein terroristischer Anschlag. Er macht uns - außer er geschieht in unserem sozialen Nahbereich - in der Regel nicht wirklich betroffen. Und wenn jemand schon denkt, dass sein Nachbar oder Kollege ihm gefährlich werden könnte, dann hat er dafür meist gute persönliche Gründe. Außerdem ist der Nachbar oder der Kollege einigermaßen berechenbar, man kennt ihn und glaubt, sich vor ihm schützen zu können.

Facetten der Gewalt

Gegen einen Wahnsinnigen, der einen schweren Lastwagen mit hoher Geschwindigkeit ziellos in eine Menschenmenge lenkt, ist man dagegen völlig ungeschützt, seine Motive sind diffus, er schlägt plötzlich und anscheinend völlig grundlos zu. Dem Terroristen ist jedes Opfer recht, während beispielsweise ein Bergbauer, der seinem Nachbarn mit einer Heugabel auflauert, nur diesen als Opfer im Visier hat. Dennoch ist es angezeigt, beim Thema "Gewalt" sich nicht in erster Linie auf Terroranschläge zu konzentrieren, sondern diesem Phänomen in allen seinen Facetten die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.

Aber zurück zur eingangs gestellten Frage. Wieso wurde damals nach bloß zwei Stunden in Wien-Schwechat der Normalzustand erneut hergestellt und der Flughafen nicht - wie das heutzutage der Fall wäre - großräumig gleich für einen oder mehrere Tage gesperrt?

Ich habe diese Frage gesprächsweise verschiedenen Leuten gestellt und darauf unterschiedliche Antworten bekommen. Eine war, dass viele der damals maßgeblichen Politiker - und natürlich viele andere Personen - noch den Zweiten Weltkrieg erlebt und überlebt hatten und ihnen in Erinnerung an diesen ein einzelnes Attentat nicht so bedeutungsvoll erscheinen musste wie heutigen Generationen. Der Anschlag am 25. Dezember 1985, so eine andere Antwort, war, da gezielt von Palästinensern gegen Israelis verübt, nicht nur sozusagen klar definierbar (er war der Ausdruck eines langen offenen Konflikts zwischen zwei bekannten Erzfeinden), sondern ging uns ja eigentlich nichts an. Dumm nur, dass er bei uns verübt wurde.

Alle Befragten meinten darüber hinaus, dass die massenmediale Präsenz jeder einzelnen terroristischen Handlung heutzutage Dimensionen angenommen hat, von denen die 1980er Jahre weit entfernt waren. Es gab Nachrichtensendungen im Radio, die Abendnachrichten im Fernsehen und Tageszeitungen, die über jedes Ereignis naturgemäß "zu spät" berichteten. Die heutigen Medien dagegen überbieten sich bei der Nachrichtenübermittlung an Geschwindigkeit, berichtet wird in "Echtzeit", kaum ausgeführt, wird ein Terroranschlag weltweit wahrgenommen.

Umerziehungsprozess

Diese Antworten wollen durchaus schlüssig erscheinen, greifen aber, jede für sich genommen, zu kurz. Um hier nicht missverstanden zu werden, möchte ich ausdrücklich betonen, dass die Terrorgefahr heute selbstverständlich eine reale Bedrohung darstellt, die nicht bloß im virtuellen Raum als gegeben erscheint und natürlich nicht bagatellisiert werden darf. Aber unsere Wahrnehmung insgesamt hat sich - nicht zuletzt unter dem Einfluss der Massenmedien - in den letzten 30 Jahren und vor allem in jüngster Zeit gründlich verändert.

In der westlichen Welt ist ein Umerziehungsprozess der Menschen im Gange, der verschiedene Ebenen des privaten und öffentlichen Lebens erfasst. Er wird mit apokalyptischen Szenarien legitimiert, die sich von jedem nur erdenklichen ungewöhnlichen Ereignis nähren. Eine kollektive Angst greift um sich und erhält ihre Berechtigung aus der Summe negativer individueller Erlebnisse und Wahrnehmungen.

Eine Studentin erzählte mir neulich anlässlich einer Prüfung, dass sie sich fürchtet, nach Einbruch der Dunkelheit mit der U-Bahn zu fahren. Das mag ja - noch - ein Einzelfall sein, doch ist er bereits symptomatisch für eine Stimmung, die sich als allgemeines Unwohlbefinden charakterisieren lässt. Ein Unwohlbefinden keineswegs allein wegen bereits verübter oder noch zu erwartender Terroranschläge, sondern wegen einer anscheinend insgesamt aus den Fugen geratenen Welt, die als Reaktion eben jenes Umerziehungsprozesses bedarf.

Die Ereignisse vom 11. September 2001, für die es keine Präzedenzfälle in der Geschichte gibt, haben uns einen Feind vorgeführt, der zu allem fähig ist und vor dem man sich nur durch verstärkte Sicherheitsmaßnahmen schützen kann, die allerdings eine (teils gravierende) Änderung unseres eigenen Verhaltens erzwingen. Wer sich daran erinnert, wie einfach es noch in den 1990er Jahren war, in die USA zu reisen und die Hürden einer solchen Reise heute (nicht erst seit Donald Trump) kennt, der weiß natürlich gleich, wovon die Rede ist. Flughäfen ähneln heutzutage Sicherheitstrakten. Aber längst wurden auch viele andere Orte, vor allem - aber nicht nur -, wenn sie der Personenbeförderung dienen, in abgesicherte Orte verwandelt. Sogar an den Universitäten sind heute - was in den 1980er Jahren undenkbar gewesen wäre - Sicherheitsleute postiert. Kurz gesagt, man kann nicht mehr überall ungehindert hingehen. Nicht zu übersehen ist, dass die Freiheitsrechte des Bürgers in den vergangenen Jahren eingeschränkt wurden; mit weiteren Einschränkungen ist zu rechnen.

Bedrohte Grundrechte

Es ist bemerkenswert, dass nach jedem (heute überwiegend islamistisch motivierten) Terroranschlag Politiker nicht müde werden zu betonen, dass wir uns unsere hart erkämpften demokratischen Grundrechte, unsere Freiheitsrechte und die damit verbundene Lebensweise nicht nehmen lassen werden. Dabei geschieht das genaue Gegenteil. Unsere Rechte wurden ja schon eingeschränkt und jede einzelne terroristische Handlung liefert den verantwortlichen Politikern gute Gründe, um über weitere Einschränkungen zumindest laut nachzudenken.

Will man genauer nachvollziehen, was die kollektive Angst antreibt, sind freilich nicht nur Terroranschläge, sondern eine ganze Reihe von Bedrohungen zu berücksichtigen, gegen die fortgesetzt Maßnahmen gefordert werden, die darauf hinauslaufen, dass wir alle unser Leben ändern müssen. Die Massenmedien überhäufen uns praktisch im Tagesrhythmus mit Hiobsbotschaften - ungesunde Ernährung, Klimawandel, Feinstaubbelastung, Gefahr der Sonnenstrahlen für die Haut und so weiter -, die uns eindringlich vermitteln sollen, dass wir bisher manches, wenn nicht alles, falsch gemacht haben. Und nun kommt noch die Terrorbedrohung dazu.

Die Reaktion darauf ist ein "Disziplinierungsterror", womit Hubert Christian Ehalt auf den Punkt bringt, was wir alle ja längst zu spüren bekommen: Es ist ernst, das Lachen soll uns vergehen. Dazu passen natürlich die - mittlerweile allerdings ins Lachhafte gesteigerten - Forderungen einer politisch korrekten Sprache.

Katastrophenszenarien eignen sich im Allgemeinen recht gut als Legitimation für politische Projekte. Sie folgen dem ursprünglich religiös begründeten Muster "Schuld und Sühne" und dienen dem Zweck, den Menschen zu zähmen, will heißen, sein Verhalten und Handeln in genau die Richtung zu lenken, die seinen "Führern" genehm ist.

Allerdings sind die Dinge mittlerweile sehr komplex geworden, die "Führer" nicht mehr ohne weiteres auszumachen. Der norwegische Sozialwissenschafter Johan Galtung prägte den Begriff "strukturelle Gewalt", worunter grundsätzlich die Beeinträchtigung menschlicher Bedürfnisse zu verstehen ist. Diese Form der Gewalt geht nicht mehr von einer oder mehreren Personen direkt gegen eine oder mehrere andere Personen aus, sondern ergibt sich aus bestimmten sozialpolitischen Konstellationen. Der, der von struktureller Gewalt betroffen ist, kann also niemanden konkret benennen, der sie ihm antut. Inzwischen sind wir alle davon betroffen. Wir werden überhäuft mit Regeln, Geboten und Verboten, die alle angeblich nur unserer Sicherheit dienen. Schließlich leben wir in gefährlichen Zeiten. Es ist übrigens leichter, auf reale Gewalt mit struktureller Gewalt zu reagieren als jene an ihren Wurzeln zu packen und einzudämmen.

Der Staat - jeder Staat - übt seiner Natur gemäß, wenngleich mit unterschiedlicher Intensität, strukturelle Gewalt aus. Er will seine Bürger unter Kontrolle haben, und das geht umso leichter, wenn diese aufgrund gefährlicher Szenarien ohnehin bereits verunsichert sind und ihrerseits schon nach der "starken Hand" rufen.

Mit der Sicherheit lassen sich gute politische (und nicht nur politische) Geschäfte machen; sie ist ein Urbedürfnis. In einer Zeit, in der die Massenmedien Bedrohungsszenarien am Fließband produzieren, ist es nicht sonderlich schwer, den Einzelnen im Interesse seiner eigenen Sicherheit zu entmündigen. Die Verfügbarkeit moderner Überwachungstechnologien tut das Ihre gleichsam automatisch dazu. Der Überwachungsstaat hat längst größere Dimensionen erreicht als sie George Orwell in seinem düsteren Roman "1984" ahnen konnte.

Wie groß die allgemeine Verunsicherung geworden ist, zeigt sich allein schon beispielsweise in dem Umstand, dass heute eine liegengelassene oder vergessene Reisetasche in einer U-Bahn-Sta-tion einen großen Polizeieinsatz auslöst, mit Sprengstoffexperten, Spürhunden und allem, was dazugehört. Niemand hätte vor 30 Jahren wegen einer "einsamen Tasche" Alarm geschlagen, allenfalls wäre sie gestohlen worden.

Reale Gefahr

Um es nochmals zu betonen: Die Terrorgefahr ist real. Aber man begegnet ihr heute anders als vor 30 Jahren. Wohl ist zwischen den islamistischen Selbstmordkommandos und etwa den Terroristen der RAF im Hinblick auf die Motivation und Ausübung des Terrors ein "qualitativer" Unterschied auszumachen. Der aber spielt aus der Sicht der Opfer und ihrer Angehörigen keine Rolle.

Den islamistischen Gotteskriegern, die ihr eigenes Leben im Dienste einer "höheren Macht" freiwillig opfern, ist nicht leicht beizukommen. Aber man darf sie nicht gewähren lassen. Da wurden leider schon viele Fehler gemacht. Eine falsch verstandene Toleranz und eine verfehlte Asylpolitik haben jenen Gotteskriegern in Europa Freiheitsräume verschafft, die sie sich allein wahrscheinlich gar nicht zu erkämpfen imstande gewesen wären. Der von etwas naiven westlichen Intellektuellen voreilig gefeierte "Arabische Frühling" ist schnell einem "düsteren Spätherbst" gewichen, der einen Entwicklungsprozess in Gang gesetzt hat, auf den anscheinend niemand vorbereitet war, obwohl es schon früh an warnenden Stimmen nicht fehlte.

Politik und Massenmedien verursachen heute ein allgemeines Unsicherheitsgefühl und verstärken verzerrte Wahrnehmungen, für die der Mensch ohnehin von Natur aus anfällig ist. Denn wie man es auch dreht und wendet: Gefahren lauern überall, die Terrorgefahr ist nur eine von ihnen - und für den Einzelnen tatsächlich nicht die größte. Weltweit sterben etwa eine Million Menschen pro Jahr im Straßenverkehr, und dennoch wird man kaum jemanden finden, der sich vor dem Autofahren fürchtet.

Wir Menschen neigen dazu, Risiken falsch zu kalkulieren. Und so wie es relativ einfach ist, uns Schuldgefühle einzupflanzen, so ist es auch nicht schwer, unsere Ängste und Befürchtungen in bestimmte Richtungen zu lenken und damit die Einschränkung unserer Freiheit zu rechtfertigen. Auf diese Weise aber wird man den Terrorismus nicht wirkungsvoll bekämpfen können. Vielleicht wusste man das in den 1980er Jahren noch besser als heute.

Franz M.Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie an der Universität Wien. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zum Thema dieses Beitrags: "Mord. Krieg. Terror. Sind wir zur Gewalt verurteilt?"
(Hirzel-Verlag 2016).