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Destination Weltfranzösisch

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Beim Literaturfestival "Étonnants Voyageurs" im bretonischen Saint-Malo wurde die Welt erzählt - und zu deren Verbesserung aufgerufen.


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"Erstaunliche Reisende": 200 Autoren beim Empfang im Rathaus von Saint-Malo.
© Waldinger

"Grauer Bahnhof im Morgengrau’n": An der Pariser Gare Montparnasse kommt einem leicht Bécauds Chanson "So viele Züge gehn" in den Sinn. Denn das Bahnhofsgebäude punktet nicht eben mit Atmosphäre, sondern mit Funktionalität. Der Beiname der hier abfahrenden Hochgeschwindigkeitszüge fügt der prosaischen Architektur allerdings eine poetische Note hinzu, schwingt in ihm doch eine Art Verheißung mit: "TGV Atlantique".<p>"So viele Züge gehn, wer weiß wohin" - und jüngst, da saßen wir im richt’gen drin: Am 2. Juni verließ ein Sonder-TGV die Seine-Me-tropole Richtung Ärmelkanal. An Bord: zweihundert Autoren. Destination: Saint-Malo, genauer: das Literaturfestival Étonnants Voyageurs ("erstaunliche Reisende"; der Titel ist Baudelaires Gedicht "Reise" entnommen). Die Kurzbezeichnung TGV (Train à grande vitesse) stand in dem Fall gleichsam für Train à grandes visions.

Der Philosoph Edgar Morin (links) und Patrick Chamoisseau diskutieren die Dringlichkeit von Poesie in Krisenzeiten.
© Waldinger

<p>Das so alte Motiv der Weltliteratur, die Reise, bekam in diesem "Train des auteurs" eine vielschichtige Dimension: Einerseits eröffnen die kosmopoliten Compagnons de voyage ja bereits mit ihrem Werk ein grenzenloses Reiseabenteuer - das der Lektüre. Andererseits bietet der konkrete, soziale Vorgang der Reise schöne Möglichkeiten, ein Stück Welt zu "lesen".<p>Weltoffenheit ist das stete Meta-Thema des großen Literatur- und Kulturevents "Étonnants Voyageurs". Hunderte Begegnungen mit Autoren stehen jeweils am Programm, dazu Filmvorführungen, Ausstellungen und eine themenspezifische Buchmesse. Sieben Literaturpreise werden ausgelobt, Jugendliteratur und Comic haben ebenfalls ihren festen Platz. Als zentrale Lokalität fungiert das Kongresszentrum mit dem klingenden Namen "Palais du grand large", doch auch andere Plätze der alten Korsarenstadt Saint-Malo werden bespielt. Etwa die Maison internationale des poètes et écrivains. Ein Fachwerkhaus intra muros, erbaut im 17. Jahrhundert von Marinearchitekten - zum Teil aus altem Schiffsbaumaterial. Welch wunderbare, zufällige Symbolik.<p>

Appellcharakter

<p>Die heurige, 28. Ausgabe des Festivals stand im Zeichen eines brandaktuellen politischen, sozialen wie philosophischen Themenkomplexes: der Erosion von Menschlichkeit und Demokratie in Zeiten großer Migrationsströme, neoliberal-entsolidarisierender Wirtschaft und politischer Extremismen. Viele Veranstaltungen hatten gleichsam Appellcharakter.<p>Sie rückten die Themen Migration, Identität - und die Francophonie in den Fokus. Damit griff man auch ein Manifest von 2007 auf, in dem gut 40 Schriftsteller dafür plädierten, die "Francophonie" von ihrem "Exklusivpakt mit der Nation" zu lösen - zugunsten einer "Weltliteratur auf Französisch". Einer der Unterzeichner war Michel Le Bris, Gründer und Direktor des Festivals "Étonnants Voyageurs". Umso bedauerlicher war es, dass der engagierte Journalist und Schriftsteller aufgrund eines Schwächeanfalls dem Ereignis fernbleiben musste.<p>Ein beachtlicher Teil der angereisten Autoren repräsentiert eine Art "weltfranzösische" Literaturrevolution: Lange marginalisiert und höchstens als exotische Würze der französischen Literatur betrachtet, haben Schriftsteller aus Frankreichs ehemaligen Kolonien, aber auch Autoren aus aller Herren Länder (mit Wahlsprache Französisch) den frankozentristischen Kanon gesprengt und einen Dialog der Kulturen eröffnet: indem sie die Welt erzählen und den Leser dazu einladen, über das Unbekannte sich selbst neu zu entdecken.<p>Viele von ihnen werden bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zugegen sein, wo Frankreich - nach fast dreißig Jahren - wieder seinen Ehrengastauftritt hat. Besser gesagt: die Literaturen der französischsprachigen Länder. Der weltweiten Präsenz dieser Sprache trägt auch das Messe-Motto Rechnung: "Frankfurt auf Französisch". Im Vorfeld rief Deutschland gleich ein ganzes "Französisches Kulturjahr" aus. Immerhin ist Französisch die Sprache, die in Deutschland am zweithäufigsten übersetzt wird.<p>Als engagierter Player der medialen Aufbereitung der Buchmesse hat nun die Freiburger Agentur buchcontact eine internationale Journalistenrunde zum Festival nach Saint-Malo eingeladen: Bereits am Vorabend der Fahrt im "Autorenzug" brachen wir auf zu einer ersten Gedankenreise. Das Pariser Centre National du Livre hatte mit einer Art literarischem Quartett aufgewartet, in dem Amélie Nothomb, Marie Darrieussecq, Patrick Chamoisseau und Julia Kristeva ihr persönliches Verhältnis zur französischen Sprache darlegten. Allesamt Autoren mit komplexem sprachlich-kulturellem Hintergrund:<p>Die Belgierin A. Nothomb etwa wuchs als Tochter eines Diplomaten in Japan und China auf. Sie spricht viele Fremdsprachen, die für sie letztlich "Fantomsprachen" blieben, wie sie erklärte. Schreiben könne sie nur auf Französisch, diese Sprache sei für sie eine Konstante, sei ihre Identität.<p>Dass die Pariser Verlagslektoren ihr allererstes Manuskript in ein rotes Meer verwandelten - mit der steten Randbemerkung "belge", vergisst sie freilich nicht. Belgierin zu sein, so Nothomb, sei an sich schon eine völlig verrückte Identität - nicht zuletzt wegen des Sprachenkonflikts, der das Land in ein rechtsextremes Flandern und eine elende Wallonie zu zerreißen drohe, mit Brüssel als einem "absurden Monaco" dazwischen.<p>Marie Darrieussecq wiederum wuchs bei Bayonne auf. Ihre Sprachwerdung begann, familienbedingt, auf Baskisch und Spanisch. Französisch lernte sie in der Schule - und schätzt dieses Sprache als literarisches "Werkzeug", mit dem sie kreativ spiele.<p>Patrick Chamoisseau aus Martinique (1992 Prix Goncourt für "Texaco") hat einen gänzlich anderen Zugang. Seine Muttersprache ist Kreolisch, das im Kontext des Kolonialismus entstand - und auch abgewertet wurde. Chamoisseau hat das Spracherbe seiner Heimat nobilitiert, hat dessen Oralität und Vorstellungswelt in sein französisches Werk integriert. Gegenüber dem doch etwas zentristischen Dachbegriff Francophonie hegt er eine semantische Skepsis, bevorzugt den Aspekt der Gemeinschaftlichkeit und optiert für die Formel "langue française de partage".<p>Wiederum anders die Grande Dame der Linguistik, Autorin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva. Für die gebürtige Bulgarin war das Französische eine "langue de libération", eine Befreiung vom Dogmatismus. In der Frage der Identität ortet Kristeva aktuell eine "tiefe anthropologische Krise": Die Idee eines Europa ohne Grenzen leiste der Tendenz Vorschub, national-kulturelle Identitäten zu verteufeln. Doch Identität sei ein Bedürfnis, man könne dieses Feld nicht den Populisten überlassen. Das einzige Mittel gegen eine "nationalistische Verkrampfung" biete die Kultur. Ihr letztes Buch trage den (rückbezüglichen) Titel "Je me voyage" und meine: Sie reise durch Länder, aber auch über ihre eigenen Grenzen hinweg: "Ich selbst bin eine Reise", resümierte Kristeva den Prozesscharakter einer plurikulturellen Identität.<p>

Selbstreflexion

<p>Solcherart eingestimmt, trafen wir auf der Zugfahrt nach - und in - Saint-Malo weitere Repräsentanten der subtilen Welt- und Selbstbeobachtung. Etwa die (Drehbuch-)Autorin und Regisseurin Negar Djavadi, die über ihr neues Buch, "Désorientale", sprach. Darin erzählt die in Paris lebende, gebürtige Iranerin die Geschichte ihrer Familie - bewusst als Roman, denn sie liebe es, "das Dramatische zu gestalten". Der wortspielerische Titel ziele auf mehrere Aspekte ihrer Selbstbefragung: Bin ich Orientalin? In "Désorientale" stecke auch Desorientierung und Dekonstruktion. (Djavadi floh im Alter von elf samt Familie vor der iranischen Revolution.)<p>Dass Selbstreflexion nicht nur eine Haltung der Dichtkunst ist, vermittelte der Pariser Historiker Pa-trick Boucheron: Die persönliche Perspektive lasse sich auch von wissenschaftlichen Werken nicht abziehen. Dies gelte es klarzumachen, und zugleich den Blick zu weiten: Boucheron sucht Frankreichs Historie komparatistisch, mit Weitwinkel zu erfassen.<p>Ja, Frankreichs Selbstwahrnehmung ist eine andere geworden. Davon zeugt auch die Aufnahme des haitianischen Schriftstellers Dany Laferrière in die Riege der "Unsterblichen" des Gelehrtenolymps Académie française. Lebenslang wird er dort den "Fauteuil" Nr. 2 innehaben und an der nächsten Ausgabe des (1637 begonnenen) Dictionnaire arbeiten. Eine Arbeit, die der vor Witz sprühende Autor mit dem Kathedralenbau vergleicht: Die da mitarbeiten, wissen, dass sie die Fertigstellung nicht erleben werden. Seine Herkunft ist für Laferrière kein literarisches Thema: eines seiner Bücher trägt den Titel "Ich bin ein japanischer Schriftsteller".<p>Man hatte das Ende der Geschichte, das Ende der Intellektuellen proklamiert. Beides wurde widerlegt. Das Festival von Saint-Malo bot eine machtvolle Demonstration neuer Formen "engagierter Literatur": im Grunde hochpolitisch, aber ohne politische Diktion; kreativ im Umgang mit Genres, und lustvoll im Gebrauch von Fiktion. Die "erstaunlichen Reisenden" beschworen die Macht des Buches: als Korrektiv, als politischen Weckruf. Hoffentlich verhallt er nicht.<p>

Ingeborg Waldinger ist Redakteurin im "extra" der "Wiener Zeitung" und literarische Übersetzerin.