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Wettstreit um die Aufbauleistung

Von Thomas Veser

Reflexionen

Dass sich der ostafrikanische Binnenstaat Ruanda so gut entwickelt, geht wohl nicht zuletzt auf die Belebung der vorkolonialen "Imihigo"-Tradition zurück. Sie verpflichtet die Menschen zur Arbeit.


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Die medizinische Versorgung ist in Ruanda heute für jeden erschwinglich.
© Veser

Hügel, Hügel und nochmals Hügel - so weit das Auge reicht. Auf jeder Erhebung des zentralruandischen Berglandes thront ein Gehöft, umgeben von oftmals winzigen Ackerflächen für den Gemüseanbau. Kulturland ist knapp in diesem ostafrikanischen Kleinstaat, der mit seinen über 11 Millionen Einwohnern etwa ein Drittel der Fläche Österreichs umfasst.<p>Mit fast 500 Bewohnern pro Quadratkilometer ist das "Land der tausend Hügel" heute das am dichtesten besiedelte Land Afrikas. Nach dem Genozid, bei dem im Frühjahr 1994 etwa 800.000 Tutsi und moderate Hutu ermordet wurden, setzte unter Präsident Paul Kagame der Wiederaufbau ein. Nicht zuletzt Schuldgefühle veranlassten den Westen, der dem Massaker tatenlos zugesehen hatte, dem Binnenstaat finanziell kräftig unter die Arme zu greifen. Ein Großteil kam der Verkehrsinfrastruktur zugute, Ruandas Straßennetz ist deutlich besser ausgebaut als das der Nachbarländer.<p>

Autoritärer Reformgeist

<p>Auch wenn noch heute 60 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, hat sich die Wirtschaftslage spürbar verbessert. Dass der Aufstieg nicht zuletzt auf die Plünderung ostkongolesischer Bodenschätze durch die ruandische Armee zurückgeht, wird dabei gerne verdrängt. Auf öffentliche Kritik an seinem Regierungsstil reagiert Ruandas autoritärer Präsident Paul Kagame mit aller Härte. Hinsichtlich Pressefreiheit hat die Organisation "Reporter ohne Grenzen" das Land auf einen der letzten Plätze verbannt.<p>Kagame blickt lieber in die Zukunft und verspricht der Nation einen Platz an der Sonne. "Vision 2020" heißt das ehrgeizige Entwicklungsprogramm, das dem Niedriglohnland Ruanda bis 2020 einen Platz in der Gruppe der Länder mit mittlerem Einkommen sichern soll.<p>Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung einer vorkolonialen Tradition neues Leben eingehaucht. "Imihigo"- in der Landessprache Kinyarwanda sind das öffentliche Eide, mit denen man schwört, vereinbarte Leistungen ohne Wenn und Aber zu erbringen. Diese Eide entsprechen Leistungsvereinbarungen, die der Präsident mit den Gebietskörperschaften trifft. Umfang der Leistung und die bereitstehenden Mittel werden vertraglich geregelt, Informationen darüber sind jederzeit öffentlich zugänglich. Dadurch werden im Sinne der Dezentralisation mehr Kompetenzen und Verantwortung an die untere Ebene delegiert. Mittlerweile liefern sich die Distrikte einen regelrechten Wettbewerb um die vorderen Plätze. Wer allerdings das Ziel verfehlt, der riskiert seinen Job.<p>Seither wird vorrangig in Infrastruktur, Bildung, Landwirtschaft und Gesundheit investiert. Im Gesundheitssektor kann Kagame, der bisher mit überragender Mehrheit wiedergewählt wurde, bereits verblüffende Ergebnisse vorweisen.<p>Dank eines breit angelegten und konsequent betriebenen Reformprogramms, das seit Jahren von der Schweiz gefördert wird, (während sich Österreich in Ruanda nicht engagiert), ist die Lebenserwartung in den vergangenen zwölf Jahren von 48 auf 58 Jahre gestiegen, die Müttersterblichkeit hat sich halbiert und die Kindersterblichkeit ging von 23 Prozent auf vier Prozent zurück.<p>Die Zahl der Gesundheitszen-tren wurde kräftig erhöht und auch der einst chronische Mangel an Pflegekräften, vor allem auf dem Land, ist zurückgegangen. "Man findet sowohl in den Städten auch auf dem Land leicht eine Stelle, unser Beruf ist angesehen", versichert Krankenschwester Olive Ahabarezi, die in der Stadt Rubengera am Kivu-See tätig ist. Geführt wird es von der presbyterianischen Kirche, die als privater Träger wie die staatlichen Gesundheitseinrichtungen öffentliche Gelder erhält.<p>

Dominante Frauen

<p>Frauen dominieren nicht nur als Krankenpflegerinnen den Gesundheitssektor, sie zeigen auch in anderen Branchen, vor allem als KMU-Gründerinnen in den größeren Städten, selbstbewusst Flagge. Das mag nicht überraschen, mussten sie doch nach dem Genozid, dem viele Männer zum Opfer gefallen waren, wohl oder übel den Lebensunterhalt ihrer Familien alleine bestreiten. Ruanda ist wohl das einzige Land Afrikas, in dem die Gleichstellung alleine durch die normative Kraft des Faktischen auch ohne Quotenregelung zur Realität wurde.<p>Ruanda und Ghana sind die einzigen Länder Afrikas, die eine Pflichtkrankenkasse nach europäischem Vorbild eingeführt haben. Während das ghanaische Modell vorsieht, dass alle Bewohner einzahlen, faktisch jedoch nur eine Minderheit Leistungen in Anspruch nehmen kann, hat sich in Ruanda das System bewährt.<p>Inzwischen gehört nahezu die gesamte Bevölkerung, sofern keine Privatversicherung vorhanden ist, der "Mutuelle de Santé" an. Die Jahresprämien sind einkommensbezogen, Bedürftige zahlen umgerechnet zwei Euro, mittlere Einkommen drei Euro und Begüterte sieben Euro. Verwaltet wird die Kasse auf Dorfebene durch gewählte Mitarbeiter. Ob jemand tatsächlich so verarmt ist, dass er gratis versichert werden kann, entscheidet die jeweilige Gemeinschaft.<p>Der staatliche Anteil stammt aus dem (stark fremdfinanzierten) Staatshaushalt, ergänzt durch Beiträge internationaler Geber, etwa Usaid, dem globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (UN) oder der Bill & Melinda Gates Stiftung. Gesundheitsdienste flächendeckend in Anspruch zu nehmen, ist dadurch in Ruanda erschwinglich geworden. Bill Gates hat dem Land vor einiger Zeit einen "beispielhaft effizienten Umgang mit Hilfsgeldern" bescheinigt.<p>Und auch in die Landwirtschaft, von der 90 Prozent der Bevölkerung abhängen, ist seit Beginn der Nullerjahre Bewegung gekommen. Weil viele traumatisierte Bauernfamilien nach dem Genozid ihre Flächen brachliegen ließen und Bewässerungsanlagen nicht mehr instandgehalten wurden, mussten damals fast alle Nahrungsmittel eingeführt werden. Darunter auch Reis, der allerdings auf dem Speisezettel der Ruander als Gericht für hohe Festtage eher eine Randrolle spielte. Paul Kagame hatte die Landbevölkerung dazu aufgerufen, den Reisanbau so energisch zu steigern, dass das Land bis 2020 in der Lage ist, mehr eigenen Reis zu exportieren als aus Asien und den Nachbarländern einzuführen.<p>

1000 Hektar Reis

<p>Damit zeichnete sich für das Hilfswerk Deutsche Welthungerhilfe, das neben der Lebensmittelversorgung in Krisensituationen auch landwirtschaftliche Projekte entwickelt, eine neue Zukunftsperspektive ab: Für den Anbau von Nassreis kommen nur in Flusstälern liegende Sumpfflächen in Frage, man findet sie in fast allen Landesteilen. In einem ersten Schritt wurden einige Talabschnitte erschlossen, mittlerweile umfassen die Anbaugebiete für Reis zusammen etwa 1000 Hektar.<p>"Hier war es zunächst nötig, Bewässerungsanlagen zu erneuern, Dämme zu bauen sowie Zugangswege und Brücken anzulegen", bekräftigt der Agrarexperte Audace Kubwimana, der mit seiner 2012 gegründeten NGO "Agro Action Rwanda" landesweit Beratungsdienste anbietet. Gleichzeitig galt es, der Bodenerosion Einhalt zu gebieten. Dies hat man vor allem mit der Agroforstwirtschaft in den Griff bekommen, dabei werden besonders gefährdete Abschnitte durch schnell wachsende Baumarten und Sträucher aus Baumschulen der Genossenschaften bepflanzt.<p>Zum Schutz der neu gewonnenen Reisfelder in den Flusstälern musste verhindert werden, dass bei Platzregen Erdrutsche sie zerstören. Deshalb stabilisierte man die Hügel durch befestigte Terrassen, und erzielte auf diese Weise eine Produktionssteigerung, liegen dort doch die Anbauflächen für Mais, der zweimal pro Jahr geerntet wird, aber auch Süßkartoffeln, Bohnen, Kohl, Zwiebeln und Bananen.<p>Révérien Hakizamaboko und seine Frau Marie Jeanne beteiligen sich jetzt über eine Genossenschaft am Reisanbau, sie verkaufen die Ernte überwiegend auf den Märkten. Reis komme zu Hause nach wie vor selten auf den Tisch, versichert Révérien Hakizamaboko vergnügt, dafür habe er sich ein neues Haus mit Blechdach leisten können.<p>Kein Land im Gebiet der Großen Seen hat in den letzten Jahrzehnten - auf die Gesamtfläche bezogen - mehr Wald eingebüßt als Ruanda. Um diese fatale Entwicklung umzukehren, hat die Regierung vorgegeben, bis 2020 mindestens 30 Prozent des Staatsgebiets aufzuforsten. Dieses Ziel wurde sogar vorzeitig erreicht.<p>

Kleine Waldinseln

<p>Wenige Kilometer von der ugandischen Grenze entfernt liegt die Ortschaft Gabiro in einer heißen und trockenen Gegend, die im Gegensatz zum übrigen Land auffallend karg wirkt. Dort wird seit 2010 eine etwa 1000 Hektar große Fläche unter der Verwaltung des Verteidigungsministeriums in Teilen bewaldet.<p>Vincent Nshimyumudemyi, im Hauptberuf Korporal und im zivilen Leben Argarwissenschafter, erläutert den Ansatz des Vorzeigeprojekts so: Die Landwirtschaft steht demnach im Vordergrund, vorgesehen ist vor allem der Anbau von Mais und Trockenreis, auch Fruchtbäume wurden schon gepflanzt und die nötigen Bewässerungsanlagen geschaffen. Dazwischen sind kleine Waldinseln vorgesehen, dazu habe man die Sorten Jacaranda und Akazienarten gesetzt. Denn Wald müsse sein, sagt Vincent Nshimyumudemyi mit Nachdruck, er sorge für mehr Niederschläge.<p>Derzeit gibt es auf diesem Gebiet, das an den Akagera-Nationalpark angrenzt, allerdings noch nicht viel zu sehen. "Aber in drei Jahren sind die Bäume über zwei Meter hoch", verspricht der junge Caporal.<p>In seiner "Vision 2020" hat das Staatsoberhaupt Paul Kagame angedeutet, dass sein Land von da an auch keine ausländische Hilfe mehr benötige. Dass dies erreicht wird, ist zwar im Falle Ruandas derzeit mehr als unwahrscheinlich, aber schließlich kann man sich ein Ziel gar nicht hoch genug setzen.

Thomas Veser, geboren 1957, lebt als Journalist in Konstanz. Schwerpunkte: Kulturgeschichte, Denkmal- und Umweltschutz, Reisethemen. Arbeitet vor allem für Tageszeitungen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.