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Unabhängige Lückenfüller

Von Janko Ferk

Reflexionen

Richter müssen heute zwischen nationalem und europäischem Recht agieren - und geänderte Lebenssachverhalte beurteilen. Ein Balanceakt.


Die Zeiten, in denen die Rechtsprechung die Angelegenheit einer geschlossenen und nationalen Gesellschaft war, sind längst vorbei. Den klassischen und (voll)souveränen Staat des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts finden wir im vereinten Europa nicht mehr. Auch die Kernbereiche staatlicher Souveränität, wie etwa die Streitkräfte oder das Gesundheits- und Sozialsystem, sind sozusagen europarechtlich kontaminiert.

Die traditionellen Kategorien von Staat, Souveränität und Kompetenzverteilung haben sich in einem relevanten Ausmaß geändert, zumal wir den Abschied vom souveränen Nationalstaat und den Übergang zum supranationalen Zusammenschluss der Staaten Europas - auf unserem Weg in die Postmoderne - schon erlebt haben. Verinnerlicht haben wir diese Tatsache beileibe noch nicht, es ist aber auch der europäische Umwandlungsprozess noch lange nicht zur Gänze abgeschlossen.

Vorrang Europarecht

Der Richter ist - als Staatsorgan - zwar nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr ausschließlich dem nationalen Recht verpflichtet, sondern ebenso der su-pranationalen, autonomen Rechtsordnung der Europäischen Union. Europa hat eine eigene Jurisdik- tion, und zwar den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, dem die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist.

Europarecht ist von den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden. Im Kollisionsfall hat das übergeordnete Europarecht Vorrang vor dem nationalen Recht. Daraus folgt, dass jeder nationale Richter auch Gemeinschaftsrichter ist. Mehr als die Hälfte der nationalen Gesetze beruht schon jetzt direkt oder indirekt auf Europarecht, und im wirtschaftsrechtlichen Bereich sind es nahezu achtzig Prozent. Deutlicher kann man nicht feststellen, dass nationale Richter in großem Ausmaß Europarecht anwenden und auf seiner Grundlage judizieren. Konkret heißt dies, dass sich die Rolle der nationalen Gerichtsbarkeit europäisiert hat, womit diese in einem noch ungeahnten Ausmaß komplexer geworden ist.

Die Rechtsprechung ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Aus diesem Grund wird es noch Jahrzehnte dauern, bis aus der Komplexität Homogenität wird, wobei zur Veranschaulichung nur ein Beispiel herangezogen sei, und zwar eines aus dem Bereich der Grundrechte und menschlichen Würde: Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben naturgemäß verschiedene Rechtskulturen. So ist etwa in Österreich das Verbot der aktiven Sterbehilfe Rechtsbestand, in anderen Rechtsordnungen nicht. Bis zur umfassenden Vereinheitlichung eines europäischen Rechts wird es nicht nur einer Dynamik der Rechtsfortbildung, sondern auch der Gesellschaften bedürfen. Eine sensiblere Frage ist, ob eine kulturelle Vereinheitlichung tatsächlich der anzustrebende Weg ist.

Der Ausgangspunkt jeder modernen Staatslehre und Machtstrukturierung ist die Trennung der Gewalten nach Legislative, Exekutive und Judikative. Nach Montesquieu, der in seinem Hauptwerk "Vom Geist der Gesetze" die Gewaltenteilung erstmals sozusagen zum Verfassungsgebot erhoben hat, muss der Staat in einem Gleichgewicht gehalten werden, in dem sich diese Gewalten wechselseitig kontrollieren, balancieren und beschränken.

Nun ist eine dieser Gewalten - als Trägerin einer Grundfunktion des Staats - die Judikative. Die Aufgabe des Gerichts - in diesem System des Gleichgewichts! - ist die Rechtsprechung in Form der richterlichen, ausschließlich an Gesetz und Recht orientierten Entscheidung konkreter Fälle. Und hier beginnen die Schwierigkeiten: Die Richter haben Lebenssachverhalte in all ihrer polychromen Vielfalt und multiplen Verschiedenheit unter abstrakt-generelle Normen zu subsumieren. Der Richter ist damit nicht nur Rechtsanwender, er verschafft dem Recht im konkreten Fall, in einer "klagsgegenständlichen Sache", die letzte Autorität.

Eine conditio sine qua non ist dabei die Auslegung der Gesetze, wobei man hier für die Bundesrepublik Deutschland uneingeschränkt hinzufügen könnte, dass das angestrebte Ziel auch die Gerechtigkeit ist, zumal der geltende deutsche Richtereid bestimmt, dass der Richter ". . . nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen" habe. Eine gleichlautende Bestimmung ist dem österreichischen Gesetz nicht zu entnehmen. Bei den Pflichten des Richters liegt die Betonung auf der "unverbrüchlichen Beachtung der österreichischen Rechtsordnung", wie dies das Gesetz normiert.

Der Rechtstheoretiker Helmut Coing meint, dass dem Richter eine mehrfache Aufgabe auferlegt sei. Er müsse über jeden Anspruch entscheiden. Er könne nicht - wie es den römischen Geschworenen der klassischen Zeit möglich war - es ablehnen, ein Urteil zu sprechen, weil er keine gesetzliche Norm finde. Die richterliche Aufgabe verbietet es, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Gerade dieses vor allem im französischen Recht entwickelte Rechtsverweigerungsverbot gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht fortzuentwickeln und Lücken zu füllen.

Mund des Gesetzes

Nach Montesquieu kommt den Richtern lediglich die Aufgabe zu, der Mund zu sein, der die Worte des Gesetzes ausspricht. Sie hätten das Gesetz nur anzuwenden - und nicht auszulegen. Treten bei einem Gesetz Unklarheiten des Wortlauts auf, so müsse diese nicht der Richter beseitigen, sondern der Gesetzgeber. Dieser Gedankengang hat sich nicht durchgesetzt. Dem Richter ist die Gesetzesauslegung geboten, da sich Naturgesetze von staatlichen Gesetzen im Besonderen durch ihre prinzipielle Auslegbarkeit unterscheiden. Das heißt, der Richter hat innerhalb des Interpretationsrahmens durch Auslegung eine normative Aussage zu finden, die den konkreten Fall löst.

Insgesamt kann man konstatieren, dass die Auslegung des abstrakten Gesetzeswortlauts unter Berücksichtigung der Vielgestaltigkeit des täglichen Lebens eine der Kernaufgaben des Richters ist. Bei der Auslegung ist er an die Prärogative (=Vorrechte) des Gesetzgebers gebunden, zumal er nicht Ersatzgesetzgeber sein kann.

Tatsache ist, dass das Gesetz starr ist, das Leben aber - wie Heraklit sagt - fließt. Lebenssachverhalte entwickeln sich, und zwar in einer Weise, wie sie der Gesetzgeber nicht in seinen Vorstellungshorizont einbinden kann. Man denke hier nur an den Zivilrichter, der beispielsweise in einem Software-Fall unter Anwendung des ABGB, das seit dem 1. Jänner 1812 in Geltung steht, zu entscheiden hat . . .

Erwähnt sei noch, dass die (Berufs-)Richter in einem ständigen Dienstverhältnis zum Staat stehen, ohne Beamte zu sein. Ihre Sonderstellung ergibt sich aus der Unabhängigkeit, die ihnen die Bundesverfassung für die Ausübung ihres Amts zuerkennt. Die sachliche Unabhängigkeit äußert sich in der strikten Weisungsungebundenheit, die persönliche Unabhängigkeit in der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit.

Die Bundesverfassung hebt den Richter als Hauptorgan der Gerichtsbarkeit hervor, dem weder individuelle noch generelle, weder konkrete noch abstrakte Weisungen - wie sie im Art. 20 B-VG für die Organwalter der Verwaltung vorgesehen sind - gegeben werden können. Weisungen, vielmehr versuchte Weisungen sind absolut nichtig und folglich unbeachtlich.

Natürlich kann die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit in den vom Gesetz normierten Fällen mit förmlichen richterlichen Erkenntnissen durchbrochen werden. Gemeinhin wird in diesem Zusammenhang von "richterlichen Privilegien" gesprochen, die de facto nicht feststellbar sind, da nur eine solche Person Recht sprechen wird können, die sich tatsächlich als unabhängig betrachten kann, die vor jedweder Einflussnahme geschützt ist und daher ohne Ansehen der Person judizieren kann.

Historisch gesehen hat die entstehende bürgerliche Gesellschaft bald verstanden, dass ein Rechtsstaat nur unter den Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit funktionieren kann, und jeder Eingriff in diese die Rechtsstaatlichkeit reduzieren, ja das geschlossene rechtsstaatliche System aufbrechen würde.

Die Unabhängigkeit ist daher kein Privileg der Richter, sondern der Gesellschaft oder des einzelnen Bürgers, der davon ausgehen kann, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind. Abseits dieser Garantien wäre Judizieren im heutigen Sinn, in der Form des modernen Rechtsstaats, nicht mehr möglich.

Es darf auch nicht übersehen werden, dass die richterliche Unabhängigkeit - die Rechtswissenschaft nennt sie den Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte - neben weiteren Merkmalen wie der Grundrechte, Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie Berechenbarkeit und Voraussehbarkeit staatlicher Machtäußerungen zu den Kennzeichen des Rechtsstaats gehört. Die richterliche Unabhängigkeit ist daher, anders ausgedrückt, nicht ein Privileg der Rechtsprecher, sondern ausschließlich der Rechtssuchenden.

Gerechtigkeits-Theorien

Die Richter sind in der Entscheidungsfindung an Gesetz und Recht gebunden. Bei ihrer Arbeit stehen sie in einem Spannungsverhältnis zwischen diesen Phänomenen; nicht zu übersehen ist das Erfordernis der Gerechtigkeit. Von Gesetz und Recht - als verschiedenen Phänomenen - spricht man, weil sie sich zwar faktisch decken (müssten), aber nicht immer kongruent sein können. Die Gerechtigkeit als solche ist überhaupt ein Grundgedanke, mit dem sich seit der Antike und bis heute alle großen Philosophen der Menschheit beschäftigt haben. Die Ergebnisse füllen Bibliotheken. Man denke etwa an John Rawls und seine "Theorie der Gerechtigkeit".

Dem Richter kommt die Kompetenz zu, das Recht fortzuentwickeln und Lücken - beispielsweise durch Analogien - zu füllen. Ausfüllung einer Gesetzeslücke durch Analogie heißt, dass eine für einen vergleichbaren Sachverhalt getroffene Regelung auf einen anderen Fall übertragen wird. In der zeitgenössischen rechtsphilosophischen Diskussion ist es unbestritten, dass der Richter in Ausnahmefällen eine Rechtsfortbildung auch praeter legem (am Recht vorbei) bewirken kann.

Hier sei zum Verständnis auf die Gerechtigkeitsvorstellung einer gewandelten Gesellschaft verwiesen, da der größte Veränderer oder Revolutionär des Rechts wohl der Wertewandel in der Gesellschaft ist, woraus für den rechtsphilosophisch denkenden Juristen eindeutig folgt, dass die Gesellschaft im Lauf der Zeit von vielem revolutioniert, aber nicht zur Revolution gebracht wird.

Janko Ferk, geboren 1958, ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt, Honorarprofessor der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt/Univerza v Celovcu sowie Schriftsteller. Demnächst erscheint sein Essayband "Drei Juristen. Gross – Kafka – Rode".