Zum Hauptinhalt springen

Was sind Werte wert?

Von Michael Mary

Reflexionen

Nicht Werte, sondern Interessen und dadurch geleitete Handlungen sind der Klebstoff der Gesellschaft. - Eine Anleitung, worauf man in Werte-Diskussionen zu achten hat.


Werte sind in aller Munde. Sie werden beschworen und aufgeblasen, man beruft sich auf sie oder verschanzt sich hinter ihnen. Es wird sogar behauptet, unsere Gesellschaft beruhe auf ihnen; und zu allem Überfluss wird auch noch geglaubt, Werte wären ethische Imperative und würden als solche Handlungsziele vorgeben. Nichts davon trifft zu.

Was ist ein Wert? Zunächst einmal eine Vorstellung, die sich in Begriffen wie "Gerechtigkeit" oder "Gleichheit" oder "Solidarität" oder "Freiheit" oder "Menschenwürde" zeigt. Wer nun behaupten wollte, unsere Gesellschaft würde auf Vorstellungen beruhen, und ebenso würden die Handlungen der Einzelnen von Vorstellungen angeleitet, würde sich geradezu der Lächerlichkeit preisgeben.

Eine Gesellschaft wird durch die gegenseitige Abhängigkeit der Individuen zusammengehalten, durch die Notwendigkeit, im Namen von Bedürfnisbefriedigung eigene Interessen zu vertreten. Schließlich können alle grundlegenden Bedürfnisse - wie nach Nahrung, Liebe, Sinn, Identität - nur im Verbund mit anderen Menschen befriedigt werden. Daher sind nicht Werte, sondern Interessen und dadurch geleitete Handlungen der Klebstoff der Gesellschaft. Diese beruht auf verbalem und nonverbalem Austausch von Menschen, sie entsteht durch aufeinander bezogene Handlungen, kurzum, sie beruht auf Kommunikation. Und Kommunikation hat stets das Ziel, andere in die eigene Interessenlage einzubinden.

Man kann die Gesellschaft daher getrost als eine riesige Veranstaltung zur gegenseitigen Manipulation bezeichnen.

Eindruck derRücksichtnahme

Beim Thema Manipulation kommen Werte ins Spiel. Denn um eigene Interessen durchsetzen zu können, muss man ein Kunststück vollbringen. Man muss in der Kommunikation den Eindruck der Rücksichtnahme erwecken. Dieser Eindruck wird am ehesten erzeugt, indem man sich Anderen gegenüber auf etwas scheinbar Gemeinsames beruft und hofft, sie auf diese Weise von den eigenen, egoistischen Beweggründen abzulenken.

Die grundlegendste aller Gemeinsamkeiten, auf die man sich berufen kann, ist die von jedem Einzelnen verinnerlichte Vorstellung, der gleichen Gesellschaft anzugehören. Die Vorstellung, in einem gemeinsamen Boot zu sitzen und Teil eines großen Ganzen, eines großen Wir zu sein. "Wir sind doch alle Menschen, Europäer, Deutsche, Österreicher, ein Volk, eine Kultur. . . Wir wollen doch alle das Gleiche: Gerechtigkeit - Freiheit - soziale Marktwirtschaft - Rechtsstaatlichkeit - Gesundheit - Ehrlichkeit - Verlässlichkeit - Toleranz - Wohlstand - Sicherheit!"

Man könnte viele Fragezeichen an solche Vorstellungen hängen. Unabhängig davon stellt sich heraus: Werte appellieren! Werte sind nicht mehr (aber auch nicht weniger!) als raffinierte Appelle an vermeintliche Gemeinsamkeiten. Sie dienen der Vernebelung selbstbezogener Absichten. In dieser Vernebelungsaufgabe von Unterschieden besteht das faszinierendste Merkmal und die wesentlichste Aufgabe von Werten.

Werte fungieren als Gemeinsamkeitsunterstellungen. Das heißt, Werte sind für die Kommunikation gedacht und eben nicht für Handlungen. Sie sind zwar in aller Munde, aber auf der Handlungsebene wird man vergeblich nach verlässlichen Werten und durch sie vermittelte Orientierung suchen.

Wenn es stimmen würde, dass Werte bestimmte Handlungen vorgäben, dann wäre es unvorstellbar, diesen Werten widersprechende Handlungen auszuführen.

Wie verträgt es sich beispielsweise mit dem hohen Wert der Nächstenliebe, ganz zu schweigen vom Wert der Feindesliebe, Kriegsgerät zu verkaufen oder gar zu segnen? Wie ist es christlichen Priestern möglich, Kinder sexuell zu missbrauchen, was bekanntlich weltweit geschieht, wenn Handlungen von Werten vorgegeben werden? Gibt es "schlechte" Werte? Wie lassen sich angesichts des "unveräußerlichen" Wertes der Menschenwürde Hinrichtungen durchführen oder im Namen der Gerechtigkeit Menschen jahrelang ohne jeden Kontakt zur Außenwelt ohne Verurteilung einsperren, wie es in zahlreichen, über die Welt verstreuten Geheimgefängnissen geschieht, die von zumeist westlichen Staaten betrieben werden. Unmöglich wäre es unter Berufung auf den Wert der Menschlichkeit auch, an der Börse an Lebensmittelspekulationen teilzunehmen. Welche Werte stehen hinter dem Lebensmittelexport nach Afrika, der dort zur Armutsflucht beiträgt? Und so weiter und so fort.

Werte lassen sich nicht in bestimmbare Handlungen überführen. Man kann Werte nicht leben. Das geht schon deshalb nicht, weil man, sobald man einem Wert Vorrang gibt, augenblicklich anderen Werten widerspricht.

Leistung oderChancengleichheit?

Ein Beispiel: Nehmen wir an, man habe zwei Kinder. Diese will man gleich behandeln, dessen ist man sich absolut sicher. Da eines der beiden Kinder aber etwas weniger hell im Kopf ist als das andere, bekommt es Nachhilfeunterricht.

Damit verstößt man gegen das selbst auferlegte Gebot der Gleichbehandlung und rechtfertigt das mit dem Hinweise auf Chancengleichheit, schließlich muss man die ungleiche Verteilung der Begabungen aufheben. Als Nächstes erhält das Kind, das von beiden die besseren Noten vorweisen kann, eine Belohnung, beispielsweise ein Lächeln, ein gutes Wort oder eine Taschengelderhöhung. Damit fördert man die Leistung, verhält sich aber ungerecht, schließlich ist das andere Kind nicht absichtlich dümmer, und es hätte auch gerne eine Belohnung für seine Anstrengungen.

Zusätzlich stachelt man die Kinder durch das Belohnungssystem zur Konkurrenz an und untergräbt damit die Solidarität unter Geschwistern. Alsdann stellt man zu allem Überdruss noch fest, das eine Kind mehr zu mögen als das andere, was der bedingungslosen Liebe widerspricht, die man gerade für die eigenen Kinder zu empfinden glaubt.

Aber nicht nur im privaten Leben ist es unmöglich, sein Verhalten auf bestimmte Werte festzulegen oder an diesen auszurichten. Gleiches gilt für das gesellschaftliche Leben. Wenn die Gesellschaft sich beispielsweise auf Freiheit festlegt, gewinnen die Starken, und die Schwachen verlieren, was gegen die Solidarität verstößt. Jede gesetzliche Regelung, die dann zur Wahrung der Solidarität eingeführt wird, schränkt die Freiheit ein. Solchermaßen erzwungene Solidarität richtet sich nun gegen den Wert der Selbstverantwortung. Baut man dann mehr auf Selbstverantwortung, wird man automatisch ungerecht. Und so weiter und so fort.

Widersprüchlichkeit von Werten

Mit der Widersprüchlichkeit von Werten kann man nur umgehen, indem man locker von Wert zu Wert hüpft. So kann man als Politiker im Wahlkampf mit dem Wert Gerechtigkeit punkten, und wenn dann später die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinander klafft, kann man sich auf den Wert der Wirtschaftlichkeit oder der Sicherheit der Arbeitsplätze berufen.

Schließlich lässt ein Wert ja völlig offen, welche Handlungskonsequenz aus ihm folgen sollte. Jeder kann sich auf den Wert der Sicherheit oder Freiheit berufen, nur was damit gemeint ist und was angeblich nötig ist, um Sicherheit oder Freiheit zu gewährleisten, kann vollkommen gegensätzlich sein. Mehr oder weniger Videoüberwachung? Härtere Strafen oder bessere Eingliederungsförderung?

Beispielsweise beschwört jemand überzeugend: "In unserer Gesellschaft liegt vieles im Argen. Lehrer müssen sich schlagen lassen, Kinder greifen straffrei in Ladenkassen, Ausländer halten es nicht für nötig, unsere Sprache zu lernen. Wir haben es versäumt, auf den respektvollen Umgang miteinander zu achten!"

Aufmerksames Zuhören, bedächtiges Kopfnicken - man soll in gedämpfte oder offene Euphorie verfallen und dem hier zitierten Wert der Sicherheit zustimmen: "Jawohl, der Mensch hat Recht, es muss sich etwas im Umgang miteinander ändern, wir brauchen mehr Respekt" -, und schon ist man auf dem besten Weg, die Unschuld zu verlieren, das heißt, hereinzufallen. Denn jetzt ist man reif und der richtige Zeitpunkt für den Versuch, Interessen durchzusetzen, ist gekommen: " . . . und deshalb müssen wir die Strafgesetze verschärfen!"

Kurzes Innehalten, heftiges Kopfnicken, begeisterte Zustimmung: Ja, so soll es sein! Uns wird wohl tatsächlich nichts anderes übrig bleiben, um die Sicherheit in der Gesellschaft wieder herzustellen: Wir müssen die Gesetze strenger fassen - und dann ist es passiert: Man ist hereingefallen. Der Werte-Prediger ist unmerklich vom Hohen Lied des Wertes zur vermeintlich zwingenden Handlungskonsequenz übergegangen und hat den Wertegläubigen damit geschickt übertölpelt.

Es gibt allerdings weltweit keinen Beleg, dass die schlichte Verschärfung von Strafgesetzen die Sicherheit und den Respekt in der Gesellschaft fördert. Nicht einmal die Todesstrafe ist dazu in der Lage, sie hat sogar gegenteilige Effekte. Aber das macht einem Werte-Prediger nichts, denn es ist ihm gelungen, die von ihm erstrebte Handlung als notwendig aus dem Wert resultierend darzustellen. Es ist ihm gelungen, den Eindruck zu erwecken, es gäbe nur diese und keine andere Möglichkeit, um die Werte - das Gemeinsame, Höhere, Erstrebenswerte, unsere Kultur - zu retten.

Absichten werdenverschleiert

Wer sich im Dienste eigener Interessen auf einen Wert beruft, will den Eindruck erwecken, der Wert wäre untrennbar mit einer bestimmten Handlung verknüpft. Um seine Absichten zu verschleiern, vollzieht er plötzlich und unvorbereitet den Schritt vom Wert zur Handlungskonsequenz und hofft - wie man beobachten kann, oft sehr erfolgreich - darauf, dass die im Wert beschworene Gemeinsamkeit genügend Schwung hervorbringt, um den Wert-Gläubigen mitzureißen und zur gewollten Handlung zu bewegen.

Doch bei der Beschwörung von Werten und ihrer anschließenden Verknüpfung mit scheinbar zwingenden Handlungskonsequenzen steht immer die Durchsetzung konkreter Interessen im Hintergrund, und das meint: die Bedürfnisse der Wert-Verfechter. Es geht um Identität, Macht, Geld und Einfluss.

Wer sich auf Werte beruft, ist nicht etwa ein selbstloser Mensch, sondern einer, der lediglich so erscheinen will. Er beruft sich gerade deshalb auf Werte, um seine eigenen Interessen zu verdecken. Ein Werte-Prophet ist so gesehen ein Wolf im Schafspelz. Werte bieten hervorragende Gelegenheiten, sich hinter ihnen zu verschanzen. Wir alle kennen gut klingende Reden, die allein diesem Zweck des Verschanzens dienen:

- Um die Freiheit zu verteidigen, bleibt uns nichts anderes übrig als . . . Präventivkriege zu führen - die Achse des Bösen zu bekämpfen - die Atombombe zu entwickeln - weitere Geheimdienstabteilungen einzurichten - von jedem Bürger Fingerabdrücke zu nehmen - eine Datenvorratshaltung einzurichten . . .

- Wenn wir unsere Kultur bewahren wollen, müssen wir . . . Ausländern unsere Leitwerte vermitteln - die Ausweisungsgesetze verschärfen - unsichere Länder zu sichern erklären - Flüchtlinge abweisen . . .

Dass, um ein konkretes Pro-blem zu lösen, zahlreiche andere Handlungsalternativen ergriffen werden könnten, soll aufgrund der Werte-Beschwörung untergehen. Man hält den Wert hoch und versteckt sich dahinter. Ist irgendeine Handlung vorstellbar, die sich nicht rechtfertigen lässt, indem man sich hinter einem Wert verschanzt? Mir ist noch keine untergekommen.

Werte funktionieren gerade deshalb, weil sie nicht festlegen, was zu tun ist, sondern es unter allen Umständen offen lassen.

Illusion derGemeinsamkeit

Wozu dann das ganze Werte-Theater? Der scheinbar beliebige Gebrauch der Werte lässt den Eindruck entstehen, sie wären im Grunde zu nichts zu gebrauchen. Dieser Eindruck trügt. Werte werden gebraucht, um miteinander im Gespräch zu bleiben. Das ist so banal wie bedeutsam.

Um miteinander sprechen und handeln zu können, braucht es Gemeinsamkeitsunterstellungen. Mit jemandem, mit dem man nichts gemeinsam zu haben glaubt, spricht man nicht, geschweige denn führt man gemeinsame Handlungen mit ihm durch. Wir brauchen die Illusion der Gemeinsamkeit. Schließlich sind wir einander Fremde, schließlich ist unsere Gesellschaft von unpersönlichen Beziehungen bestimmt.

Da hilft es, wenn man an etwas Gemeinsames glaubt. Werte beschwören die Zusammengehörigkeit der Individuen wie kein anderes Kommunikationsmittel. Insofern sind Werte unbezweifelbar.

Vorsicht ist aber angebracht, sobald eine Werte-Diskussion ausbricht. Wie zum Beispiel gegenwärtig in Bezug auf die aktuellen Flüchtlingsbewegungen. In dieser gesellschaftlich schwierigen und teils krisenhaften Entwicklung will jedes politische Lager seine Interessen durchsetzen und die Identitäten der Wähler festlegen. Dazu werden entsprechende Werte herangezogen.

Hat man erst einmal den Begriff der "Leitkultur" geprägt und spricht man von "unseren westlichen Werten", entstehen Identitäten, entsteht "Wir" und "Die". Kann man den Anderen dann mit kommunikativem Erfolg "westliche Werte" absprechen, fällt es leichter, sie draußen zu lassen oder auszuweisen.

Aber was ist Leitkultur? Und welche Vorstellungen sollen für alle gelten?

Was konkret für alle gelten soll, ist über Werte nicht zu bestimmen. Es ist in Gesetzen festgelegt. Dort kann man nachlesen, was verboten ist.

Wie soll man sich also in Werte-Diskussionen verhalten. Der Soziologe Dirk Baecker empfiehlt:

"Wenn über Werte gestritten wird, versuche ich, eine funktionale Analyse anzubieten und stelle die Frage: Warum berufen wir uns auf diese Werte? Worin besteht das Problem, über das wir reden sollten, wenn hier über Menschenwürde, Freiheit et cetera gesprochen wird?"

Arbeitet man das Problem heraus, ergeben sich stets unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten. Beispielweise:

Warum wird mehr Flexibilität gefordert? Weil Unternehmen nicht genügend Arbeitskräfte finden! Auf welche unterschiedlichen Arten könnte dieses Problem gelöst werden? Wirklich nur, indem man den Kündigungsschutz aufhebt, wie es mit dem Wert der Flexibilität begründet wird? Oder auch, indem man höhere Arbeitslöhne zahlt? Welche anderen Möglichkeiten der Pro-blemlösung gibt es? Wer sich allerdings auf den Wert der Flexibilität festlegen lässt, für den kommt nur die Lockerung des Kündigungsschutzes in Frage.

Augen auf beimWerte-Kauf!

Warum beruft man sich auf den Erhalt westlicher Werte? Weil die Identität vieler Menschen durch Asylanten bedroht scheint! Auf welche unterschiedlichen Arten könnte das Problem gelöst werden? Wirklich nur, indem man Einwanderung unterbindet und Abschiebung forciert? Oder indem man für die Einhaltung geltender Rechtsvorschriften sorgt, oder indem man Asylsuchenden das Recht auf Arbeit einräumt und dadurch für eine bessere Integration sorgt? Oder, indem man nicht nur Flüchtenden Wohnraum anbietet, sondern auch den Einheimischen, die auf dem Wohnungsmarkt keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden? Wer sich auf den Wert der westlichen Werte festlegen lässt, für den kommt allerdings nur Abschottung infrage.

Warum wird behauptet, die Demokratie oder die Sicherheit der westlichen Welt müssten verteidigt werden? Will man eine Gegnerschaft aufbauen, um einen Krieg zu rechtfertigen? Geht es um Einfluss in bestimmten Gebieten der Welt? Geht es um wirtschaftliche Interessen? Welche gesellschaftlichen Gruppen versprechen sich Profite von diesem Vorgehen? Sollte man deren Interessen folgen?

Eines muss man bei derlei Diskussionen also stets im Auge haben: Sobald sich jemand auf Werte beruft, versucht er, eigene Interessen durchzusetzen. Deshalb gilt in jeder Hinsicht: Augen auf beim Werte-Kauf!

Michael Mary lebt und arbeitet als Paarberater in Hamburg. Es ist Autor erfolgreicher Sachbücher zu Themen wie Beziehung und Partnerschaft, unter anderem "Lebt die Liebe, die ihr habt", "5 Lügen die Liebe betreffend" und "Wie Männer und Frauen die Liebe erleben".