Gelungenen architektonischen Umgang mit historischen Bauten oder einer ganzen Stadt kennzeichnet immer ein transitorisches Moment. Stufen und Schichtungen deuten funktionale oder räumliche Sequenzen um, oft minimale Interventionen setzen Metamorphosen in Kraft. Sie (be)treffen stets den inneren Kern eines Bauwerks. Gezielte Gesten lösen ein bestehendes Gefüge in seinem Inneren gleichsam auf, um damit ein neues organisierendes Prinzip wirksam werden zu lassen.
Umdeutung lautet ein Grundsatz, in dem Spuren vormaliger Bedeutung in verwandelter, neuer Erscheinung und verändertem Organismus erhalten bleiben. Vor über hundert Jahren beschrieb der amerikanische Dichter, Philosoph und Kritiker Ralph Waldo Emerson in seiner zeitlos gültigen Traditionskritik ein Gesetz, das die Kultur von der Natur übernehmen könne. Transition statt Tradition lautete das Prinzip. Emerson beschwor in seinen "Circles" von 1841 als Metapher die zyklische Kraft der Natur, das Wandelbare alles Organischen, ein Gesetz, das die Kultur von der Natur übernehmen könne.
Übergang lautet das Grundprinzip der Natur und des Lebens. In der Natur wird das Alte ständig in das Neue umgeschmolzen, ohne bleibende Werte keine verbindlichen Wahrheiten, denn die Natur kennt keine Tradition. Auch in Architektur und Stadt kann Tradi-
tion nur (Ver)-Wandlung bedeuten. Es ist die transformatorische Kraft der Erinnerung, die einen starren Traditionsbegriff sprengen kann.
Aber was bedeutet überhaupt Erinnerung? Die aktuelle kognitionswissenschaftliche Gedächtnisforschung berichtet Folgendes über Struktur und Funktion des Gedächtnisses: "Erinnern" ist eine wahrnehmungsartige, kognitive Handlung. Im Erinnerungsprozess wird vorwiegend ein "Erregungsmuster" aktiviert, aber kein Zugriff auf ein dateiartiges oder lexikalisches Wissen durchgeführt. Gedächtnisleistungen und Erinnern sind kein Zugriff auf die Vergangenheit, sondern einzig eine Prüfung von Sinnmomenten, die zeitlich und räumlich auseinandergezogen werden.
Erinnerung ist eine hochgradig subjektive, psychische Kompetenz des Individuums, deren Aktivität natürlich in kulturelle Kontexte, Sozietäten und Lebensstile eingebunden ist. So betrachtet haben Überlegungen wie jene der mémoire collective, dass Erinnerung in sozialen Zusammenhängen stattfindet, ihre Berechtigung.
Transformation
Was die kognitive Wissenschaft nüchtern mit Synapsenschaltungen erklärt, ist in seinem ursprünglichen Kern jedoch viel mehr. Die literarische Erinnerungskunst führt es vor. Sie besitzt viel weniger ein rationales, als vielmehr ein freies Gedächtnis. Die literarische mémoire involontaire wie jene Prousts ist eine Form des Gedächtnisses, die sich der Vernunft, der Kontrolle, und der Willensanstrengung entzieht.
Es vermeidet ein allzu angestrengtes Regelsystem des Erinnern-Wollens. Das Erinnerungsgebäude entsteht spontan, unwillkürlich viel weniger mnemotechnisch als mnemopoetisch. Erinnern und Gedächtnis wirken über eine subtile, suggestive, frei assoziierende und transformatorische Kraft.
Die Aufladung des architektonischen und urbanen Erbes und der Umgang mit bestehender Substanz kann nicht zuletzt durch die "Erkenntnis" einer freien Erinnerung eine befreiende Entlastung erfahren. Bewahren und Tradieren erhalten damit eine neue und veränderte Bedeutung. So kann Erinnern in der Architektur zu einer poetischen, der persönlich-subjektiven Gestaltungsfreiheit offenen, transformierenden Kraft werden: Offen für den Wandel und seine Zeit.