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Dinge, Wörter, Bilder

Von Hermann Schlösser

Reflexionen

Zahlreiche Übungen und Trainingsprogramme versprechen eine Optimierung des Gedächtnisses. Bei allen Unterschieden haben diese aktuellen Verfahren eines gemeinsam: ihren Ursprung in der antiken Mnemotechnik. Ein kurzer Rückblick auf eine lange Geschichte.


Das Gedächtnistheater des Guilio Camillo Delminio aus dem 16. Jahrhundert gehört zu den ambitioniertesten Zeugnissen der Mnemotechnik.

Der griechische Poet Simonides von Keos war bekannt für seine Preis- und Ruhmeslieder, die er gegen Bezahlung zum Lob des Auftraggebers anfertigte. Einmal rühmte er während eines Festes den Skopas, einen reichen Mann und erfolgreichen Faustkämpfer.

Er schmückte dabei nach Dichterart das Gesagte aus und besang zugleich die "Dioskuren", also das mythologische Zwillingspaar Castor und Pollux. Skopas meinte daraufhin verärgert, er werde dem Dichter nur die Hälfte des vereinbarten Honorars zahlen, für den Rest sollten Castor und Pollux aufkommen. In diesem Augenblick wurde Simonides nach draußen gerufen, weil zwei unbekannte Jünglinge nach ihm verlangten. Kurz nachdem er das Haus des Skopas verlassen hatte, stürzte es ein und erschlug alle Anwesenden. So zahlten die Dioskuren dem Dichter ihr Honorar.

Die Pointe dieser rätselhaften Geschichte folgt allerdings erst später: Die Leichen derer, die von dem einstürzenden Gebäude getötet worden waren, hatten derart entstellte und zerstörte Gesichter, dass sie nicht mehr eindeutig zu erkennen waren. Simonides hatte sich während seines Vortrags jedoch genau eingeprägt, wer welchen Platz an der Festtafel innegehabt hatte, und indem er sich an diese Plätze erinnerte, konnte er als Einziger die Toten identifizieren.

Wenn man der Überlieferung glauben will, entstand aus dieser Leichenschau die Mnemotechnik. Das Wort, das problemlos als "Gedächtniskunst" eingedeutscht werden kann, weist auf griechische Ursprünge hin: mneme ist das altgriechische Wort für Gedächtnis, und techne bedeutet Kunst, Fähigkeit, "Technik". Oft war und ist auch von der ars memoriae die Rede, denn die Römer griffen das griechische Erbe auf und entwickelten es weiter.

Feiner Unterschied

Aber ob nun griechisch, deutsch oder lateinisch bezeichnet - gemeint ist auf jeden Fall ein Verfahren, das dem Gedächtnis mit künstlichen (oder künstlerischen) Mitteln zu Hilfe kommt. Dafür gibt es verschiedene Methoden, die aber allesamt von der Voraussetzung ausgehen, ein gutes Gedächtnis sei nicht einfach angeboren, sondern könne durch bewusste Übungen trainiert werden.

Marcus Tullius Cicero, einer der bedeutendsten Theoretiker der Gedächtniskunst.
© Uffizien/Ullstein

Diese Voraussetzung versteht sich keineswegs von selbst: Dass die Fähigkeit, sich zu erinnern, jedem Menschen von Geburt an mitgegeben ist, wurde auch von den antiken Erfindern der Mnemotechnik nicht bezweifelt. Also stellte (und stellt) sich die Frage, was dann eigentlich noch gelernt werden kann oder muss. Um dieses Problem genauer zu begreifen, empfiehlt es sich, zwischen "Erinnerung" und "Gedächtnis" zu differenzieren.

Schon Aristoteles hat versucht, die genauen Unterschiede zwischen Erinnerung und Gedächtnis zu erfassen, und seitdem streiten sich die Gelehrten aller Disziplinen darüber. Im Lichte der neuesten Hirnforschung erweist sich dieser Streit zwar als ein eher theoretisches Unternehmen, denn in der Biologie des menschlichen Gehirns sind Erinnerung und Gedächtnis durchaus nicht so trennscharf voneinander unterschieden, wie es die Philosophen gerne hätten.

Dennoch kann es dem Verständnis zugute kommen, wenn man sich eine gängige Unterscheidung klar macht: "Erinnerung" wurde und wird gern als ein Prozess verstanden, der unwillkürlich einsetzt und nicht völlig der bewussten Kontrolle unterliegt. Sein Hauptziel besteht darin, (subjektiv erlebte) vergangene Ereignisse oder Empfindungen dem Vergessen zu entreißen. Dabei ist eine psychische Energie im Spiel, die jedem Menschen zur Verfügung steht, also nicht eigentlich gelernt werden muss (auch wenn es - etwa in der Literatur oder der Psychoanalyse - Methoden gibt, Erinnerungen zu mobilisieren).

Denkerische Disziplin

Die Leistung des "Gedächtnisses" hingegen besteht darin, (intersubjektiv vorgegebene) Sachverhalte oder Formulierungen so exakt zu speichern, dass sie gar nicht mehr vergessen werden können. Das ist ein bewusster, rationaler Akt, der sehr viel leichter kontrolliert werden kann als das Erinnern und der deshalb auch bis zu einem gewissen Grad lernbar ist.

Das bedeutet nicht, dass die Gedächtnisleistung deshalb auch einfacher zu erbringen wäre - es gibt genügend Menschen, die sich mühelos daran erinnern können, was es vor zwanzig Jahren bei Tante Helenes 80. Geburtstag zu essen gegeben hat, während es ihnen unmöglich ist, im Gedächtnis zu behalten, wann die Schlacht am Lechfeld stattgefunden hat. Aber wie auch immer sich das im Einzelnen verhält - der Mnemotechnik geht es jedenfalls um das "Gedächtnis", und nicht um das komplexere, schwerer zu fassende Phänomen der "Erinnerung" - auch wenn unbestreitbar ist, dass beide Fähigkeiten nur zwei Aspekte derselben Sache sind.

Ein klassisches Lehrbuch der Gedächtniskunst trägt den Titel "De Oratore" ("Über den Redner"). Darin erklärt der römische Schriftsteller und Politiker Marcus Tullius Cicero, was ein guter Redner kennen und können muss. Zu den wichtigsten Fähigkeiten zählt Cicero das umfassende Gedächtnis (lateinisch memoria) für Dinge und für Wörter.

Dass Dinge und Wörter nicht miteinander identisch sind, hat nicht erst die moderne Linguistik entdeckt, das wussten auch die scharfsinnigen Denker der Antike. Cicero unterscheidet zwischen dem Dinggedächtnis, der memoria rerum, und dem Wortgedächtnis, der memoria verborum. Das Dinggedächtnis speichert die Fakten, Sachen und Sachverhalte, über die der Redner sprechen will, das Wortgedächtnis hingegen speichert die Ausdrucksmittel, von denen er dabei Gebrauch macht.

Diese Unterscheidung ist keineswegs obsolet. Angenommen, ein Redner möchte darüber sprechen, dass alles immer teurer wird. Dann muss in seiner memoria rerum verzeichnet sein, wie hoch die Preise vor zehn Jahren waren und wie hoch sie heute sind, er muss Menschen zitieren können, denen die Effekte der Teuerung zu schaffen machen, und dergleichen mehr. Seine memoria verborum hingegen muss ihm Begriffe wie Teuerung, Kostenexplosion, Inflation usw. zur Verfügung stellen - je mehr verschiedene Wörter er präsent hat, desto plastischer kann er die Sachverhalte, um die es geht, ausmalen.

So ist also das lateinisch disziplinierte Gedächtnis beschaffen, das in einer anderen Schrift Ciceros präzise als "die sichere Wahrnehmung von Dingen und Wörtern in der Seele" definiert wurde.

Wie aber kann ich mein naturgegebenes Gedächtnis, das unvermeidlicherweise mit Lücken und Falscherinnerungen zu kämpfen hat, zu einem derartigen Präzisionsinstrument entwickeln? Um dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt Cicero ein recht kompliziertes Verfahren, das er am Beispiel des eingangs erwähnten Simonides von Keos verdeutlicht: Von ihm sei zu lernen, dass man sich Dinge und Wörter leichter merkt, wenn man sie sich bildlich vorstellt und ihnen zugleich im Kopf bestimmte Plätze zuweist.

Bildliche Entsprechung

Diese Verankerung bildlicher Vorstellungen in einem gedachten Raum ist vor allem gemeint, wenn von der Mnemotechnik die Rede ist. Cicero war ihr berühmtester, aber nicht ihr einziger Lehrer: Von der Antike über das Mittelalter und die Renaissance bis in den Barock hinein war diese Kunst europaweit verbreitet und wer sich ihrer bediente, erbaute sich im Geist ein Haus, einen Tempel oder auch eine Stadt mit klar voneinander abgegrenzten Räumen oder Straßen.

Dann suchte man für die Dinge und Begriffe, die man sich merken wollte, bildliche Entsprechungen. Diesen Bildern wurde ein fester Platz im Bau des Gedächtnisses zugewiesen. So entstand allmählich ein rein gedankliches, aber dennoch sehr bildhaltiges Speichersystem für Dinge und Wörter.

Anschaulich beschreibt der
afrikanische Gelehrte Martianus Capella im 5. Jahrhundert n. Chr., wie diese Gedächtniskunst vor sich geht: "Will man beispielsweise eine Hochzeit im Gedächtnis behalten, so stelle man sich im Geist ein Mädchen mit einem Brautschleier vor; oder für einen Mord ein Schwert oder eine andere Waffe; welche Bilder an einem Ort sozusagen deponiert wurden, die gibt der Ort dem Gedächtnis zurück. Denn wie das Geschriebene durch die Buchstaben im Wachs festgehalten ist, so ist das im Gedächtnis Hinterlegte den Orten eingedrückt, wie auf Wachs oder auf einer Buchseite; und die Erinnerung an die Dinge wird durch die Bilder aufrechterhalten, als ob sie Buchstaben wären."

Nun wetteiferten im Lauf der Zeit die verschiedensten mnemotechnischen Schulen miteinander, deren Ratschläge zuweilen äußerst komplex ausfielen. Eine bildliche Entsprechung zu finden war nicht immer so einfach wie bei einer Hochzeit oder einem Mord. Deshalb wurden Bücher mit Bildertafeln herausgegeben, auf denen gängige Begriffe ebenso gängig verbildlicht wurden. Einige dieser Bildkonzepte haben sich lange gehalten; die Waage, die das Recht bedeutet, ist zum Beispiel heute noch geläufig.

"Gedächtnistheater"

Aber je mehr Begriffe im Haus des Gedächtnisses gespeichert werden sollten, desto geräumiger musste es angelegt werden. Die wahrhaft großen Gedächtnisbauten wurden deshalb nicht nur im Kopf errichtet, sondern - etwa in der Lehre des Philosophen Raimundus Lullus (1235-1316) - in komplizierten Diagrammen und Tabellen visualisiert, oder schließlich sogar in einem prächtigen "Gedächtnistheater" inszeniert.

Im 16. Jahrhundert baute der venezianische Gelehrte Giulio Camillo Delminio jahrzehntelang an diesem Modell eines Theatergebäudes, das nicht für Schauspieler, sondern für Begriffe eingerichtet war. Da es Platz für den gesamten Kosmos bieten sollte, versteht es sich von selbst, dass es unvollendet blieb.

Da die memoria von den mittelalterlichen Theologen zu den "Kardinaltugenden" gezählt wurde, bestanden nicht nur praktische Interessen an der Gedächtnisverbesserung, sondern auch geistliche und philosophische: Wer ein schlechtes Gedächtnis hatte, stand im Verdacht, ein schlechter Mensch zu sein. Deshalb war das Bedürfnis nach Hilfsmitteln zur Perfektionierung groß. Dies galt nur für Priester und Gelehrte, denn in einer weitgehend analphabetischen Welt war diese Art von Gedächtnisübung nur einer kleinen Bildungsschicht vorbehalten.

Einige mnemotechnische Kreationen waren allerdings so umständlich, dass man sich heute kaum noch vorstellen kann, wie irgendein Mensch einen sinnvollen Gebrauch davon machen konnte. Die britische Kulturhistorikerin Frances A. Yates, die 1966 das bis heute unübertroffene Standardwerk über die alte Mnemotechnik verfasst hat (dem auch die meisten Beispiele dieses Artikels entnommen sind), schildert die vertracktesten Gedächtnishilfen unserer Vorfahren in liebevoller Detailliertheit. Sie berichtet etwa vom Bild einer sehr hässlichen Frau, das dazu verwendet wurde, die Sünde der "Idolatrie" (Götzenverehrung) zu versinnbildlichen.

Diese Frau ist als Prostituierte dargestellt, sie ist blind, hat verstümmelte Ohren, trägt eine Trompete, die sie als Verbrecherin kennzeichnet, ihr Gesicht ist entstellt und sie schaut krank aus. Wenn man sich alle diese Accessoires merkt, vergisst man den Begriff "Idolatrie" nie mehr.

Angesichts solch überkomplexer Bilder stellt sich die Frage, ob es nicht einfacher und sinnvoller ist, den Begriff "Idolatrie" umweglos im Gedächtnis zu speichern. Auch in der Antike hat es schon Kritiker gegeben, die keine Lust hatten, sich ein Schwert vorzustellen, um sich an einen Mord zu erinnern: So belaste man sein Gedächtnis doppelt, wo man sich doch auch ganz einfach das Wort "Mord" merken könne. Dieser Einwand ist nicht restlos zu widerlegen, aber das Gegenargument ist ebenfalls bedenkenswert: Gerade die doppelte oder gar vielfache Einprägung ist ein Garant dafür, dass man etwas verlässlich im Gedächtnis behält.

Tatsächlich scheint es in der Antike und im Mittelalter Menschen gegeben zu haben, die mit Hilfe der aufwändigen Mnemotechnik zu ganz außerordentlichen Gedächtnisleistungen fähig waren. Der Naturforscher Plinius d.Ä. hat einige von ihnen beschrieben. Unter anderem berichtete er, dass Lucius Scipio alle Einwohner Roms mit Namen kannte, dass Mithridates von Pontus, der König zweiundzwanzig verschiedener Völker, die Sprachen aller seiner Untertanen beherrschte, und dass der Grieche Charmadas alle Bände einer Bibliothek auswendig wusste.

Die Entwertung

Angesichts solcher Gedächtnisathleten müssten die kritischen Einwände eigentlich verstummen. Sie wurden aber immer lauter und ernsthafter, je weiter die Zeit in jene Epoche voranschritt, die sich selbst als "Neuzeit" begriff - und noch immer begreift.

Im 15. und 16. Jahrhundert hat eine Reihe von Ereignissen zur Entstehung dieser Neuzeit beigetragen: Die Einsicht machte sich breit, dass die Erde eine Kugel ist und sich um die Sonne dreht, Amerika wurde für Europa entdeckt, Luthers Reformation spaltete die Kirche.

Die wichtigste Zäsur für die Geschichte des menschlichen Gedächtnisses war aber Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern im Jahr 1448. Je zugänglicher und preiswerter die Bücher von da an wurden, desto weniger hing davon ab, wie viel man sich auswendig merken konnte.

Doch wurden gegen die alte Mnemotechnik nicht nur praktische Einwände erhoben, sondern auch wissenschaftliche. Die mnemonischen Häuser und Tempel sind von den alten Gedächtnisphilosophen ja nicht nur mit Abbildern nützlichen Wissens angefüllt worden, sondern auch mit okkulten Geheimlehren aller Art. (Darin haben sie eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Internet, dem großen, wahllosen Gedächtnistheater unserer Zeit.) Von Spekulationen über die Erdentstehung ("Kosmogonien") bis zu genauesten Berechnungen der Engelordnungen im Jenseits fand sich hier vieles, was dem modernen Ideal der Wissenschaftlichkeit nicht mehr standhielt.

Schließlich schärfte sich auch das Bewusstsein dafür, dass die tradierte memoria eine allzu starre Form der Wissensverwaltung war. Das vornehmste Ziel der Mnemotechnik bestand ja darin, alle Kenntnisse für immer unverändert zu bewahren. Die Neuzeit dagegen ist von Anfang an durch die Erfahrung geprägt, dass sich auch anerkannte Gewissheiten ändern können und müssen, dass also treu gehütete Wissensschätze mit einem Schlag veralten können. René Descartes, der philosophische Begründer des Rationalismus, hielt von der überlieferten Mnemotechnik gar nichts - er empfahl jedem Denker, alle überlieferten Lehrmeinungen systematisch zu vergessen, damit der Kopf frei werde für eine empirisch ausgerichtete, rationale Welterkenntnis.

Auch in der rationalistisch geprägten Aufklärung wurde das ungeprüfte Konservieren des Althergebrachten abgelehnt, und damit verlor das trainierte Gedächtnis, das in alten Zeiten hoch im Kurs stand, einen Teil seines Ansehens. Es erschien den neuzeitlichen Menschen immer mehr wie ein sinnloses Zirkuskunststück.

Einer der wirkungsmächtigsten Philosophen der Moderne, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, bezeichnete die mnemotechnischen Bilder als "schale, alberne, ganz zufällige Zusammenhänge". An ihre Stelle sollte das "Verstehen" treten, das den Sachen auf den Grund geht, und sich nicht mit unbegründeten Assoziationen (Trompete = Idolatrie) zufrieden gibt. Wer eine Sache gründlich verstanden habe, so die optimistische Hoffnung des Philosophen, der werde sie auch nicht mehr vergessen. Und so büßte eine Kunst, die in der Antike und im Mittelalter anspruchsvollste Geister beschäftigt hatte, in der Neuzeit zusehends ihre philosophische Würde ein.

Trotzdem ist sie nicht verschwunden, ganz im Gegenteil: Sie wurde popularisiert und hat bis zum heutigen Tag eine gewisse Breitenwirkung. Wer diese Behauptung überprüfen will, braucht nur im allmächtigen Internet das Stichwort "Mnemotechnik" einzugeben. Da eröffnen sich Hinweise auf vielerlei Spielarten des Gedächtnistrainings. Trotz der markanten Unterschiede, die zwischen diesen unterschiedlichen Angeboten bestehen, ist doch bei allen die Familienähnlichkeit zur althergebrachten ars memoriae unverkennbar.

Diese Demokratisierung einer einstigen Elitenkunst hat wohl mit der Entstehung der allgemeinen Schulpflicht begonnen. In den öffentlichen Schulen und Gymnasien der Neuzeit entstanden handliche, brauchbare Ableger für den Alltagsgebrauch: Tabellen, Synopsen, schematische Darstellungen wurden zur Vermittlung des Lernstoffes verwendet, ohne dass man dabei die alten mnemotechnischen Grundsätze in aller Strenge befolgte.

Die Eselsbrücken

Im Lauf der Generationen wurden auch für fast alle Gegenstände, die in der Schule unterrichtet wurden, mehr oder weniger witzige Merksprüche erfunden, die unter dem Namen "Eselsbrücken" nach wie vor beliebt sind: "Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess’ ich nimmer". Es ist anzunehmen, dass die meisten dieser "Eselsbrücken" ihren Anfang im Schulgeschehen hatten. Da sie sich aber gut einprägen, bleiben sie vielen Menschen ein Leben lang erhalten, und tragen unter anderem zur nostalgischen Erheiterung bei. Während das sachliche Schulwissen (memoria rerum) mit der Zeit vergessen wird, entweder weil es tatsächlich überholt ist oder weil es der Einzelne in seinem Berufsleben nicht mehr braucht, bleiben die Wortlaute der alten Eselsbrücken (memoria verborum) vielen ehemaligen Schülern ein Leben lang erhalten.

So kommt es, dass man selbst den Spruch "Trenne niemals s vom t, denn es tut den beiden weh" nicht vergisst, obwohl er von den Regeln der neuesten Rechtschreibung längst außer Kraft gesetzt worden ist.

Hermann Schlösser, geboren 1953, ist Literaturwissenschafter und "extra"-Redakteur.

Literaturhinweise:
Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Aus dem Englischen, Übersetzer nicht genannt. Akademie Verlag, Weinheim 1990.

Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hrsg.):Gedächtnis und Erinnerung.Ein interdisziplinäres Lexikon. Rowohlt, Reinbek 2001.

Harald Weinrich:Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens.Beck Verlag, München 2000.