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Geballtes Wiener Wissen

Von W. Edgar Yates

Reflexionen

Die "Wiener Vorlesungen" feiern heuer ihr 30-jähriges Jubiläum. Der große wissenschaftliche Ertrag dieser Veranstaltung ist in neun Schriftenreihen dauerhaft dokumentiert worden. Eine Rückschau.


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Hubert Christian Ehalt, Spiritus Rector der Wiener Vorlesungen, mit Ruth Klüger, die mehrmals im Rahmen der Vorlesungen referiert hat.
© Wiener Vorlesungen

Heuer feiern wir 30 Jahre Wiener Vorlesungen. Seit der ersten Vorlesung am 6. Mai 1987 ist Hubert Christian Ehalt der Planer und Koordinator dieses Programms - eine enorme Verpflichtung, die mit bewundernswerter Konsequenz erfüllt wurde. Mit Recht hat Ehalt geschrieben, die Wiener Vorlesungen seien "dem Projekt der Aufklärung verbunden". Und auf diese Weise ist Wien, wohl wie keine andere europäische Großstadt, zu einer Stadt der Wissenschaften und der Forschung geworden - eine Entwicklung, die Ehalt folgendermaßen beschrieben hat: "Das Wiener Rathaus, Ort der Kommunalpolitischen Willensbildung und der Stadtverwaltung, verwandelt bei den Wiener Vorlesungen seine Identität von einem Haus der Politik und Verwaltung zu einer Stadtuniversität".<p>Zu diesen Vorlesungen haben vielfältige Aktivitäten gehört: Vorträge, Symposien, Podiumsdiskussionen, schließlich auch Buchpublikationen: Rund 300 Bücher in neun Buchreihen dokumentieren die Ergebnisse der gesamten Vortragsreihe. Ehalt selbst wurde mehrfach für seine Arbeit geehrt, u.a. als Universitätsprofessor, als Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse, als Präsident der Gesellschaft der Freunde der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und seit 2013 als Ehrenmitglied der Gesamtakademie.<p>

Immer unterhaltend

<p>Dazu darf ich mich auch an meine eigene Erfahrung erinnern, die auf die editorische Arbeit an der kritischen Nestroy-Ausgabe zurückgeht. Es handelte sich um eine Edition von insgesamt 57 Bänden, die von einem internationalen Team von Kollegen zusammengestellt wurde. Schon der erste Band der Ausgabe erschien im Jahr 1979 "mit besonderer Förderung des Kulturamtes der Stadt Wien". Und auch die letzten Bände erschienen noch "mit besonderer Förderung des Magistrats der Stadt Wien, MA 7 - Kultur, Wissenschaft und Forschung". Ein Schlüssel zur Vervollständigung der Ausgabe war in den letzten Jahren Ehalts Unterstützung von Nestroy-Symposien; ich erinnere mich an Gespräche zusammen mit dem mittlerweile leider verstorbenen deutschen Kollegen Jürgen Hein im Arbeitszimmer Ehalts: immer konstruktiv, immer unterhaltend.<p>Auf der Grundlage dieser Symposien entstanden vier Bände der Reihe "Wiener Vorlesungen, Konversatorien und Studien". Die Bände dokumentieren Funde, Entscheidungen und Überlegungen - Beiträge von 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.<p>Aber natürlich gibt es andere faszinierende Bücher aus dem Fundus der "Wiener Vorlesungen". Ein Band der Reihe "Bibliothek urbaner Kultur" trägt z. B. den Titel "Ich stamme aus Wien. Kindheit und Jugend von der Wiener Moderne bis 1938". Es handelt sich dabei wohl um eines der persönlichsten der von Ehalt herausgegebenen Bücher. Wie so oft bei Ehalt besteht der Band zum Teil aus Gesprächen, zum Teil aus Essays. Er hat vor allem jüdische Bürgerinnen und Bürger befragt, die durch die Nazis aus Wien vertrieben wurden. Für Ehalt wie für die Wiener Vorlesungen war es "ein Anliegen, Persönlichkeiten einzuladen, die ihre Wurzeln in Österreich haben und durch den Nazi-Terror zu Flucht, Emigration und Exil gezwungen worden waren". Nach der Einführung folgen etwa 200 Seiten mit vierzehn "Gesprächen", u.a. mit Hermann Bondi, Ernst Gombrich, Marie Jahoda, Felix Kreissler und George Weidenfeld, (der einer der einflussreichsten Verleger in England geworden war), dann zwölf "Essays" mit autobiographischen Erinnerungen (Marie Jahoda, Ruth Klüger, Frederic Morton, George Weidenfeld und Harry Zohn gehören zu denen, die hier zu Wort kommen). Ein solches Buch liest man nicht nur einmal. Unter den vielen Passagen, die mir unvergesslich geblieben sind, ist ein Absatz in einem Teil des "Essays" von Ruth Klüger:<p>"Der Wiener Dichter Theodor Kramer schrieb, nachdem er 1957 aus dem Londoner Exil nach Wien zurückkehrte: ‚Erst in der Heimat bin ich wirklich fremd.’ Ich war schon im Alter von sechseinhalb Jahren, als die deutschen Truppen im März 1938 einmarschierten, bis September 1942, als ich mit meiner Mutter nach Theresienstadt verschleppt wurde, so fremd in der Heimat wie nirgends wieder danach auf der Welt - außer in Auschwitz: dort war’s noch fremder."<p>

Internationaler Kontext

<p>Unter "Wiener Moderne" versteht man aber vor allem die Wiederentdeckung des Kulturlebens des Fin de Siècle. Die Publikation, die seinerzeit die wichtigsten Einsichten und Erkenntnisse bot, war das Buch "Fin-de-Siècle-Vienna. Politics and Culture" des amerikanischen Gelehrten Carl E. Schorske, für das er 1981 den Pulitzerpreis erhielt und das 1982 unter dem Titel "Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle" ins Deutsche übersetzt wurde. Band 167 der Wiener Vorlesungen, "Schorskes Wien: Eine Neuerfindung", enthält die (überaus aufschlussreiche) Laudatio von Ehalt anlässlich der Überreichung der Ehrenbürgerurkunde an Schorske am 25. April 2012, zusammen mit Beiträgen anderer Forscher und Forscherinnen, u.a. von Edward Timms, dem Autor wichtiger Arbeiten über Karl Kraus.<p>In den Jahren nach Schorskes Buch war eine Reihe von Ausstellungen und Publikationen erschienen, denen die neu erschlossene Kultur der "Wiener Moderne" zugrundelag: 1983 das Edinburgh International Festival; 1985 in Wien die bahnbrechende Ausstellung "Traum und Wirklichkeit"; dann 1986 in Paris, im Centre Pompidou, "Vienna 1888-1938. L’Apocalypse Joyeuse" - wohl die beste der Ausstellungen und mit Sicherheit der schönste Katalog. Dem Datum "1938" kann der Leser entnehmen, dass es sich hier um eine "Moderne" handelt, die bis zum Anschluss dauerte; das Buch endet mit der großen "Todesfuge" von Paul Celan.<p>Und inzwischen sind immer mehr Bücher oder Symposien zum Thema der Kultur Wiens erschienen - in den USA etwa "Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle", in Österreich ein von Sigurd Paul Scheichl und Wolfgang Duchkowitsch herausgegebener Band "Zeitungen im Wiener Fin die Siècle" (1997).<p>Ein vielseitiges Buch, der zweite Band der "Bibliothek urbaner Kultur", heißt einfach "Wien: Die Stadt lesen" - ein vielversprechender Titel, der sich fast als Zusammenfassung der Arbeitsweise von Hubert Christian Ehalt verstehen ließe. Ein Untertitel lautet "Die Stadt als Text: verfasst und wahrgenommen". Es geht um die Vielseitigkeit des Lebens und vor allem der Menschen der Stadt: In seinem eigenen Beitrag, "Wiener Qualitäten", schreibt Ehalt: "Wien ist ein Paradies ganz unterschiedlicher Lebensqualitäten, die sich den BewohnerInnen und BesucherInnen zum Teil unmittelbar und offenherzig, zum Teil nur in einem langen Aneignungsprozess erschließen." Und auch dann ist die Sichtweise jedes Individuums anders - in diesem Buch wird die Stadt nicht zuletzt von Dichtern und Schriftstellern "gesehen".<p>In einem Beitrag mit dem schönen Titel "Als das Schimpfen noch geholfen hat" schreibt Klaus Kastberger, Wien habe in den letzten Jahrzehnten "eine eigene literarische Gattung hervorgebracht: die Kunst der Beleidigung" - was zwanglos zu Gedanken über Thomas Bernhard führt, der gezeigt habe, "dass die Beschimpfung immer wieder zur Kunst wird". Die Dichterin Elfriede Gerstl macht aus dem ironischen Geständnis einer Schwäche ein ganzes Lebensbild: "Meine Tandelleidenschaft treibt mich seit Jahren in den zweiten Bezirk". Und in dem gleichen Band schreibt Ruth Klüger in ihrem Beitrag "Erlesenes Wien: Wie seine Dichter es sahen und sehen" über "literarisierte" Städte, nostalgische Verklärung, oder wiederum über Thomas Bernhard und die "Hassliebe zu Wien". In einer interessanten Passage über den "armen Spielmann" Grillparzers erinnert sie daran, dass der Autor "erstaunlicherweise in keinem seiner Stücke die Stadt Wien als Kulisse gewählt" hat.<p>

Schöpferisches Klima

<p>Diskussion und Kritik bilden das schöpferische Klima der Wiener Vorlesungen. Die breit gefächerten Themen der Vorlesungen und der damit verbundenen kritischen Unterhaltungen sprechen für sich: etwa 1994 der bereits erwähnte Band "Zur Epidemie der Gewalt", 2002 "Anfang und Ende der Egomanie" (ein Vortrag von Horst-Eberhard Richter anlässlich der Eröffnung des dritten Weltkongresses für Psychotherapie. Analog dazu heißt es in der "Programmatik" der Wiener Vorlesungen "Empathie statt Egomanie"), 2008 "Kunst und Kultur am Ausgang des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts" (alle als "Wiener Vorlesungen" gedruckt), 2012 "Biologie und Biotechnologie - Diskurse über eine Optimierung des Menschen" (Band 9 der "Edition Gesellschaftskritik").<p>Zu den Mitautoren gehören bekannte Wissenschafter und Wissenschafterinnen, u.a. Eric J. Hobsbawm, Horst-Eberhard Richter und Jürgen Habermas, und in allen diesen Bänden finden sich über die Vorträge der eingeladenen Referenten hinaus Beiträge von Hubert Christian Ehalt - dessen aufklärerisches Ideal kaum besser zum Ausdruck gebracht werden kann als mit dem Titel "Optimierung des Menschen".

Die "Wiener Vorlesungen" sind in ca. 300 Bänden und in fünf verschiedenen Verlagen erschienen:<p>1. Wiener Vorlesungen - Das Dialogforum der Stadt Wien. (Picus).<p>2. Edition Gesellschaftskritik (Picus).<p>3. Konversatorien und Studien (Wiener Universitäts Verlag).<p>4. Forschungen (Peter Lang).<p>5. Wiener Karl Kraus Vorlesungen zur Kulturkritik (Bibliothek der Provinz).<p>6. Bibliothek urbaner Kultur.(Bibliothek der Provinz)<p>7. Österreich - Zweite Republik. (Studienverlag).<p>8. Enzyklopädie des Wiener Wissens (Bibliothek der Provinz).<p>9. Enzyklopädie des Wiener Wissens. Porträts (Bibliothek der Provinz).<p> In dieser Reihe ist soeben erschienen:<p>Hubert Christian Ehalt: Wiener Wissen. Entwicklungen, Projekte, Impulse. 292 Seiten, 24,- Euro.

W. Edgar Yates, geb. 1938, ist Professor emeritus an der Universität Exeter (GB). Er ist Mitherausgeber der historischen kritischen Nestroy-Ausgabe und Fachmann für österreichische Literaturgeschichte.