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Der Stein von Ensisheim

Von Christian Pinter

Reflexionen

Vor 525 Jahren ereignete sich der älteste dokumentierte Meteoritenfall Europas. Mit ihm sind zahlreiche berühmte Männer verbunden.


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Der Meteorit Ensisheim kam 2013 auf Kurzbesuch nach Wien, ins Naturhistorische Museum: Die rotgekleideten Herren zählten damals zu seiner Leibgarde.
© Pinter

Knapp vor Mittag erschüttert ein "grausam Donnerschlag" das Elsass und die umliegenden Regionen. Nach dem großen "Klapf" fährt ein schwerer Stein aus dem Himmel herab. Er schlägt vor den Toren der elsässischen Stadt Ensisheim auf und bohrt sich in ein Weizenfeld - eine halbe Mannslänge tief. Ein Bub wird Augenzeuge des Falls. Bald mühen sich kräftige Männer ab, den zunächst wohl 130 kg schweren, dunkelgrauen Donnerstein zu bergen. Man schreibt den 7. November 1492.<p>Bei diesem unerhörten Ereignis muss es sich um ein Wunder handeln! Die Menschen hacken etliche kleine Stücke als Glücksbringer ab. Der Landvogt schreitet ein und lässt den Stein am Eingang der Pfarrkirche St. Martin ablegen. Am Tag des Falls weilt der römisch-deutsche König und spätere Kaiser Maximilian in Metz. 1477 hatte er die Herzogin Maria von Burgund zur Frau genommen. Das brachte Burgund, das ebenso reiche Flandern und weitere Gebiete in den Besitz der Habsburger. Allerdings bestritt Frankreich von Anfang an Marias Erbfähigkeit. So kam es zum Burgundischen Erbfolgekrieg zwischen Frankreich und Österreich: Der ist selbst 1492 noch nicht entschieden.<p>

Habsburger-Herrschaft

<p>Acht Jahre nach Marias frühem Tod nahm König Maximilian die Herzogin Anne de Bretagne zur Frau; und zwar per procurationem, also mit Hilfe eines Stellvertreters. Dieser vollzog die Ehe freilich nur symbolisch. Nur drei Monate später besetzten französische Truppen die Bretagne. Anne stand fortan unter Hausarrest. Ende 1491 sah sie sich gezwungen, Karl VIII. zu ehelichen.<p>Eigentlich war der Franzosenkönig bereits vergeben, hatte er 1483 doch die dreijährige Margarete von Österreich geheiratet - und damit ausgerechnet die Tochter König Maximilians. Der fühlt sich jetzt gleich doppelt gedemütigt, als Ehemann und als Vater.<p>Ensisheim steht seit dem 13. Jahrhundert unter der Herrschaft der Habsburger. Es fungiert als Verwaltungssitz. Nur 19 Tage nach dem Steinfall trifft Maximilian mit 1200 Reitern ein. Er lässt den Donnerstein ins Schloss bringen, mustert ihn lange. Dann kommt er mit seinen Vertrauten überein, den Vorfall als günstiges Zeichen für den Kampf gegen die Franzosen zu werten. Offenbar wolle Gott ihn so seines Beistands versichern.<p>Der Habsburger lässt zwei Stücke abschlagen, für sich selbst und für den Erzherzog Sigmund von Österreich. Dann verbietet er jede weitere Schmälerung des Steins. Zur Sicherheit muss dieser fortan im Chor der Pfarrkirche aufgehängt werden. Danach zieht der König mit seinen Soldaten weiter.<p>In diesen Tagen werden die ersten Flugblätter feilgeboten, die vom sonderbaren Steinfall berichten. Deren Illustratoren stehen vor einer herausfordernden Aufgabe: Wie sollen sie die Bewegung des Donnersteins darstellen? Die meisten setzen ihn zu diesem Zweck gleich zweimal in ihren Holzschnitt: oben ins Gewölk und unten auf den Boden. Herabblitzende Strahlen stellen die Verbindung her.<p>Der gebürtige Straßburger Sebastian Brant ist Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Basel. Er beeilt sich ganz besonders, seinen Einblattdruck unters Volk zu bringen. Dessen Verse sind in Latein und in Deutsch abgefasst. Der Donnerstein zeige "eine besondere Plage" für Maximilians Feinde an, schreibt Brant: "Frankreich zittert gewiss".<p>

Stein als Mahnung?

<p>König Maximilian solle sich gegen die hochmütigen Feinde zur Wehr setzen, seine Ehre und seinen guten Namen retten; Gott hätte ihm den Stein als Mahnung zum Handeln geschickt, betont Brant. "Kum nit zu spat", ruft er dem Kaisersohn zu. Das Flugblatt findet Anklang. Es wird mehrmals nachgedruckt. Sogar Raubkopien tauchen auf.<p>Basel liegt knapp 40 km südsüdöstlich von Ensisheim. Ähnlich wie Straßburg oder Nürnberg ist es eine renommierte Druckerstadt. Hier wird Brant zwei Jahre später auch sein "Narrenschiff" veröffentlichen. Die Moralsatire stellt menschliche Unsitten bloß: darunter Habsucht, Schwätzerei, Unbesonnenheit, Völlerei, Zorn, Wollust, Neid, Hass oder Scheinheiligkeit.<p>Das Werk wird sich bald größter Beliebtheit erfreuen. Seine Holzschnitte stammen möglicherweise von Albrecht Dürer. Der 21-Jährige hält sich Ende 1492 in Basel auf. Er muss den donnernden "Klapf" gehört haben. Nicht ganz ausgeschlossen, dass er damals auch einen Feuerball am Taghimmel sah. Schließlich kehrt Dürer in seine Heimatstadt Nürnberg zurück. In seinem Fachwerkhaus wird man später versuchen, seine einstige Werkstatt nachzuempfinden. Der Besucher wandelt auf knarrenden Böden an einer Räderuhr vorbei, hin zu einer alten Hochdruckpresse. Durch die Butzenscheiben fällt mildes Licht. Ein Schaukasten präsentiert naturkundliche Objekte, die Dürer studiert hat: Zwischen Muscheln und Geweihspitzen erblickt man einen vorgeblichen "Meteoriten". Es gibt aber nicht den geringsten Hinweis, dass ein solcher je zu Dürers Sammlung zählte.<p>Spiegelt sich der Donnerstein von Ensisheim dennoch in den Arbeiten des Künstlers wider? Manche glauben das. Vier Jahre nach dem Fall malt Dürer das Ölgemälde "Büßender Hieronymus". Auf dessen Rückseite ist ein anscheinend zerplatzender, gelber Himmelskörper festgehalten; rote Strahlen ziehen von ihm weg. Eine Erinnerung an 1492 - oder bloß eine besonders helle Sternschnuppe, die Dürer irgendwann beobachtet hat?<p>In Dürers 1514 geschaffenem Meisterstich "Melencolia I" wird die Nacht ebenfalls von einem strahlenden Gestirn erhellt. Es ähnelt einem Kometen. Sicher ist das ein Symbol - doch wofür? Einige Betrachter werden es später mit dem Steinfall von Ensisheim in Verbindung bringen.<p>Vielleicht ist Dürer an der Vorbereitung der "Schedelschen Weltchronik" beteiligt. Deren Holzschnitte stammen jedenfalls von seinem Lehrer Michael Wolgemut (und dessen Stiefsohn Wilhelm Pleydenwurff). Den Text verfasst der Nürnberger Arzt und Historiker Hartmann Schedel. Er schildert darin die Geschichte der Welt, von der Schöpfung bis zum Druckjahr 1493. Danach folgt eine Vorschau auf den Weltuntergang und das Jüngste Gericht.<p>Den Ensisheimer Donnerstein kann Schedel gerade noch in seine Chronik aufnehmen. Als Quelle dient ihm Brants Flugblatt. Im Anschluss ist noch von "viel kriegerischer Aufruhr" zwischen Maximilian und Karl VIII. die Rede; der Streit sei 1493 aber mit "gütlich Vertrag hingelegt" worden. Tatsächlich beendet der Vertrag von Senlis den Burgundischen Erbfolgekrieg.<p>

Goethes Skepsis

<p>Im Dreißigjährigen Krieg wird Ensisheim mehrmals schwer verwüstet. Der im Kirchenchor hängende Stein übersteht die Wirren. 1793, zur Zeit der Französischen Revolution, entführt man ihn ins nahe Colmar. Dort werden neuerlich Stücke abgeschlagen.<p>Im Zeitalter der Aufklärung glauben die Gelehrten nicht mehr an das Herabstürzen von Steinen aus dem Himmel. Schließlich beteuert das abergläubische Volk ja auch, es habe Milch, Blut, Fleisch, Quecksilber oder Geldmünzen regnen sehen. Manche der angeblichen "Luftsteine" werden nun aus den Sammlungskabinetten verbannt. Auch Johann Wolfgang von Goethe teilt diese skeptische Haltung zunächst. Er hat den Ensisheimer Stein 1771 selbst gesehen.<p>Erst Ende des 18. Jahrhunderts zeichnet sich ein neuerliches Umdenken ab: 1794 vergleicht der Deutsche Ernst Florens Chladni verschiedene Berichte über die Fallumstände und das Antlitz von Donnersteinen. Zwischen 1800 und 1803 gelingen zum ersten Mal aussagekräftige chemische Analysen solcher Objekte; auch sie finden Gemeinsamkeiten. Außerdem kommt es 1794 in Siena und 1803 in L’Aigle zu wahren Steinregen - vor tausenden Augenzeugen.<p>1803 kehrt auch der Ensisheimer Stein in die Pfarrkirche zurück. Chladni inspiziert ihn dort, drei Meter über dem Kirchenboden. Elf Jahre später erscheint der dritte Teil von Goethes Autobiografie. Der blickt auf den seinerzeitigen Besuch in Ensisheim zurück und lässt den Meinungswandel erkennen, der sich seither vollzogen hat:<p>"In Ensisheim sahen wir den ungeheuren Aerolithen in der Kirche aufgehangen und spotteten, der Zweifelsucht jener Zeit gemäß, über die Leichtgläubigkeit der Menschen, nicht vorahnend, dass dergleichen luftgeborene Wesen, wo nicht auf unsern eignen Acker herabfallen, doch wenigstens in unsern Kabinetten sollten verwahrt werden."<p>Dass Steine tatsächlich vom Himmel herabstürzen können, ist jetzt allgemein anerkannt. Umstritten bleibt zunächst aber noch die Genese solcher Objekte. Für Chladni sind sie im All entstanden. Er wird damit Recht behalten.<p>

Auf 56 kg abgemagert

<p>Als die Ensisheimer Pfarrkirche 1854 teilweise einstürzt, holt man den Stein ins Gemeindeamt. Es ist im Regentschaftsschloss untergebracht. Das Bauwerk stammt aus dem 16. Jahrhundert und beherbergt heute das Musée de la Régence. Dessen größter Schatz ist - natürlich - der alte Donnerstein. Er wiegt jetzt kaum noch 56 kg und besitzt den Durchmesser einer Langspielplatte. Eine eigene Leibgarde bewachte ihn bis vor kurzem.<p>Das historisch überaus wertvolle Exponat geht selten auf Reisen. 2013 sah man es ganz kurz in Wien, und zwar im Naturhistorischen Museum. Das hat natürlich schon lange zuvor mehrere kleinere Stücke dieses Steinmeteoriten besessen.<p>Sein Fall ist bestens dokumentiert; ebenso blieb analysierbares Material vorhanden. "Ensisheim" ist der älteste Meteorit Europas, der diese beiden Bedingungen erfüllt. Auf der ganzen Welt macht ihm da bloß einer Konkurrenz: der Meteorit Nogata. Er landete am 19. Mai 861 auf der japanischen Insel Kyushu.<p>Natürlich kennt man heute zigtausende Meteorite, die bereits vor "Ensisheim" und "Nogata" herabgestürzt sind - allerdings undokumentiert. Bei der Datierung helfen Isotopenmessungen weiter. Manchmal mit verblüffenden Ergebnissen: So fiel der Schweizer Eisenmeteorit Twannberg schon vor 165.000 Jahren! Und die fossilen Meteorite aus dem südschwedischen Thorsberg-Steinbruch trafen sogar vor 470 Millionen Jahren auf Erden ein. Ohne Fallbericht, versteht sich.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt in Wien und schreibt seit 1991 über Astronomie im "extra". Internet: www.himmelszelt.at