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Kampfkunst als Psychotherapie

Von Dagmar Weidinger

Reflexionen
Die Kunst des Aikido besteht im Umlenken der Angriffsenergie.
© Ullstein Bild-INSADCO/ Nicole Ploeb

Das japanische Aikido ist eine hohe Schule der Körperbeherrschung und kann helfen, Hemmungen und Ängste zu überwinden.


Wenn Neue kommen, weiß Stefan Berger rasch, wer bleiben und wer gehen wird. Berger (40) ist Aikido-Trainer und eröffnete 2010 seine erste Schule, Dojo genannt, in Wien. Heute ist er einer von zwei selbstständigen Trainern in Wien und überzeugt davon, dass Aikido etwas ganz Besonderes ist. Es ist der Kampfsport für die Sensiblen.

Während Aikido in Ländern wie Frankreich oder Italien eine lange Tradition hat und weit verbreitet ist, kämpft man hierzulande erst seit den 70er Jahren. Ein paar tausend Personen betreiben österreichweit Aikido, sind also Aikidoka. Das hat mit der Verbreitungsgeschichte zu tun. Gründer Morihei Ueshiba hinterließ, als er 1969 starb, eine Handvoll Schüler, die in verschiedene Länder ausschwärmten und dort Schulen gründeten. Sie wurden die Stammväter der heutigen Aikidoka in der westlichen Welt.

Einer ihrer Nachfolger, Suga Toshiro, kommt zweimal im Jahr auf Besuch nach Wien und nimmt hier auch Stefan Bergers Schülern die Meisterprüfungen ab. Aikidoka können die fünf Schülergrade, die sogenannten Kyus erwerben, danach beginnt die Reihe der zehn Meistergrade, auch Dans genannt. Offiziell anerkannt werden die Grade von der bereits in den 1940er Jahren gegründeten Aikikai-Stiftung in Tokio, die bis heute die Home-Base aller anerkannten Aikidoka weltweit darstellt und vom Enkel des Gründers geleitet wird.

Wettkämpfe gibt es im Aikido keine, Gewichtsklassen ebenso wenig. "Eine zarte Frau kann einen schweren Mann problemlos umwerfen, wenn sie über die richtige Technik verfügt", sagt Berger und fügt hinzu: "Kraft, Stärke und Schnelligkeit sind im Aikido kein Kriterium mehr." Wer verstehen will, warum dem so ist, wirft am besten einen Blick zurück in die Geschichte zum Stammvater der Kampfkunst selbst.

Drei bedeutende Silben

Morihei Ueshiba, der auch O’Sensei, der erleuchtete Meister, genannt wird, wurde 1883 in Tanabe/Japan als vierter Sohn eines wohlhabenden Bauern geboren. In jungen Jahren erlernte er die traditionellen Kampfkünste Daitô Ryû, Jujutsu, Kenjutsu und Sôjutsu und zog in den russisch-japanischen Krieg (1904-1905). Nach seiner Rückkehr schloss er sich für kurze Zeit einer Sekte an, die sein Denken über die Kampfkünste wesentlich beeinflusste.

Ueshiba kehrte der Sekte den Rücken, entwickelte jedoch auf Basis der dort gemachten spirituellen Erfahrungen seine eigene Form der friedfertigen Kampfkunst - Aikido. Die drei Silben AI, KI und DO erklären, worum es im Wesentlichen geht. AI steht im Japanischen für Freundschaft, Gleichgewicht und Harmonie, KI bedeutet Energie, Geist und Wille und DO bezeichnet den Weg bzw. die Philosophie.

Als Meister praktizierte und unterrichtete Ueshiba die neue Kampfkunst viele Jahre lang in seinem Dojo in Iwama, 100 Kilometer nördlich von Tokio. Ein Hauptprinzip lag für ihn im Schutz und in der Achtung des Anderen. Wohl nicht zufällig war Aikido die erste Kampfkunst, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan wieder praktiziert werden durfte.

Der Gründungslegende zufolge erkannte Ueshiba in einer Art Erleuchtungserlebnis die Einheit des Universums. Wie bei jeder asiatischen Kampfkunst ist der körperlich ausgetragene Konflikt somit nur eine Dimension - viel wesentlicher ist die geistige Weiterentwicklung durch die Praxis.

Der Grazer Psychotherapeut Rainer Dirnberger (53) ist einer, der sich lange mit dem psychischen Wachstumspotential, das dem Aikido zugrunde liegt, beschäftigt hat. 2013 publizierte er ein Buch dazu: "SELE. Selbsterkenntnis durch Leiberfahrung. Eine Synthese aus Psychotherapie und der Kampfkunst Aikido" (Books on Demand, Norderstedt Paperback Verlag). Dabei war es mehr ein Zufall, der ihn 1985 erstmals selbst auf die Matte brachte. Zwei sehr überzeugende Freunde und die Tatsache, dass gesundheitlich etwas getan werden musste, waren der Auslöser dafür.

Gewaltfreier Kampf

"Ich war mein Leben lang so pazifistisch eingestellt, dass ich mir unmöglich vorstellen konnte, je selbst eine Kampfkunst auszuüben", erzählt Dirnberger im Rückblick. Doch schon die erste Stunde "wirkte". Dirnberger war erstaunt und fasziniert zugleich - anstatt eines Kampfes gegeneinander erlebte er eine große Freude am gemeinsamen Training.

"Das Faszinierende an Aikido war für mich von Anfang an, dass die Prinzipien Gewaltfreiheit und Widerstandslosigkeit in einer effizienten Technik zusammenkommen. In einer entspannten, ruhigen Haltung wird die Kraft des Gegners aufgenommen und in eine für beide sichere Bewegung gebracht", erklärt Dirnberger das Hauptprinzip des Aikido. Der ausgebildete Transaktionsanalytiker begann sich bald darauf auch als Psychotherapeut mit dem im Aikido praktizierten Konfliktlösungsmodell zu beschäftigen. "Unsere unmittelbaren biologischen Antworten auf Konflikte sind immer Flucht/Vermeidung, Totstellen oder Gegenangriff", sagt Dirnberger und fügt hinzu: "Viele Menschen sind gefangen in der Vermeidungsfalle."

Aikido würde einen sinnvollen alternativen Weg darstellen. "Die Idee ist es, in den Konflikt hineinzugehen, für einen Moment die Perspektive des Angreifers zu übernehmen, und dann die Bewegung sicher zu Ende zu führen." Übertragen auf die Gefühlsebene würde dies bedeuten: Nimm den Konflikt an, anstatt ihn zu vermeiden, aber lass’ nicht zu, dass der Andere dich überwältigt.

Was auf den ersten Blick sehr theoretisch klingen mag, illus-triert Dirnberger mit einem Beispiel aus einer Therapiegruppe. Eine Frau kommt mit Burn-out in Behandlung. Die alltäglichen Anforderungen hätten begonnen, sie massiv körperlich zu beeinträchtigen. "Alle wollen dauernd etwas von mir", formuliert sie ihr Unwohlsein. Im Versuch, es ihrer Umgebung Recht zu machen, hätte sie sich komplett aufgerieben.

Freiraum gewinnen

In der Gruppe versucht Dirnberger die Situation der Frau in einer symbolisch adäquaten Angriffssituation nachzustellen. Die Frau begibt sich also in die Mitte der Gruppe, die einen Kreis um sie bildet. Die anderen Teilnehmer beginnen sie nun von allen Seiten hin- und her zu werfen und äußern dabei Sätze aus dem Alltag der Klientin. Da sind die Kinder, die immer wieder rufen: "Ich will spielen!", "Ich will essen!", die Chefin, die sagt: "Mach das sofort!", der Mann, die Freunde, alle rufen ihr ihre Wünsche zu . . .

Anforderungen von allen Seiten, so viele, dass der Raum für die eigenen Bedürfnisse der Klientin scheinbar fehlt. Sie reagiert reflexartig, wendet sich getrieben vom einen zum anderen, verliert dabei ihr körperliches Gleichgewicht und stolpert.

"In dieser Situation würde man im Aikido die Konfrontation zuallererst zulassen", erklärt Dirnberger. Mit anderen Worten: Raus aus der Passivität, rein in eine aktive Rolle. Die junge Frau entspannt sich also und dreht sich bewusst mit jeder Aufforderung in die jeweilige Richtung. Durch die gelöste Haltung bewegen sich ihre Arme mit und schwingen locker um den Körper - die umstehenden Personen treten so unmittelbar einen Schritt zurück. Der Freiraum wird größer. "Die Klientin hat erlebt, dass es nicht nur die beiden Möglichkeiten gibt: Ich muss dagegen kämpfen und stolpere, oder ich verliere mich selbst, sondern dass es auch eine Alternative gibt", sagt der Therapeut. Gerade bei Burn-out oder Angsterkrankungen könne Aikido ein Mosaikstein in der Therapie sein. Die aktivierende Wirkung der Kampfkunst könne eingefahrene Muster auf körperlicher Ebene auflösen. "Man kann auch auf der Matte Nein-Sagen lernen", sagt Dirnberger.

"Zen in Bewegung"

Auch Stefan Berger hat seine Erfahrungen mit Angst und Aggression im Aikido gemacht und ist überzeugt, dass Menschen, die Aikido praktizieren, entspannter und humorvoller mit Konfrontationen umgehen lernen. "Es geht darum, seinen Standpunkt mit einem Lächeln zu vertreten - ohne Angriff", sagt Berger. Aller Anfang ist dabei die Entspannung. Achtsamkeitsübungen, die sich auf die Atmung (Kokyu) oder die Konzentration auf den Mittelpunkt beziehen (Hara) sowie die bewusste Lockerung verkrampfter Körperpartien stehen deshalb zu Beginn jeder Aikido-Einheit. "Wer sich nicht entspannt, kann sich nicht öffnen", sagt Berger und meint damit, dass der nötige Schritt in den Angriff des Gegners hinein bei zu viel Angst und Anspannung nicht möglich ist.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Koshi Nage (Koshi = Hüfte, Nage=Wurf). Kommt ein Angreifer festhaltend von hinten, wäre der normale Reflex, sich gegen den Angriff zu stemmen. Im Aikido jedoch entspannt sich die angegriffene Person, schmiegt sich mit den Hüften für einen Moment in den Angreifer hinein und lässt ihn dann über die Hüfte abrollen. Das Umlenken der Angriffsenergie führt zum Wurf. Anstatt den Gegner weiter zu schädigen, wird dieser nur gesichert.

Während Dirnberger seine Überlegungen in der Gruppe reflektiert, versucht der Aikidoka Berger seine Teilnehmer von allzu viel Intellektualisieren abzuhalten. "Sie sollen ja üben und nicht darüber diskutieren", sagt er. Ziel ist es, aufmerksam im Moment verwurzelt zu sein. Die Wirkung würde dann auch ohne großes Nachdenken eintreten. So wie übrigens auch bei ihm selbst. Denn auch Berger spürt, dass Aikido für ihn mehr als nur ein "Sport" ist. "Aikido ist, wie wenn ich zum Arzt gehe", sagt er. Über das Training würde er rasch jede Verspannung abbauen. Wer Aikido praktiziert, würde lernen, sich ganz anders mit dem eigenen und dem Körper des Anderen zu bewegen. "Aikido zieht friedfertige und sensible Menschen an, die ohnehin schon sehr achtsam durchs Leben gehen", sagt der Trainer. "Durch die Kampfkunst können sie lernen, in der toughen Welt nicht unterzugehen."

Dagmar Weidinger,geboren 1980, Kunsthistorikerin, schreibt als freie Journalistin für österreichische Zeitungen und Magazine.

Mehr unter:

http://aikido-kampfkunst.at
www.aikido-wien.at