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Der schwierige Nachbar

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen

Die Geschichte zeigt, dass ein Dialog mit Ungarn sinnvoll ist, ein "Beitritt" zur Visegrád-Gruppe aber nicht.


Noch in den frühen 1980er Jahren kursierte anlässlich von Fußball-Länderspielen zwischen der damaligen Volksrepublik Ungarn und Österreich ein Witz, der das Fortwirken der Donaumonarchie aufs Korn nahm. In einem fiktiven Dialog sagte ein Mitarbeiter zu Otto Habsburg, der als bayerischer Abgeordneter für die CSU im Europaparlament wirkte, zugleich aber Oberhaupt der Familie und potenzieller Thronfolger beider "Erbländer" war: "Kaiserliche Hoheit, heut’ spielt Österreich-Ungarn". Die Antwort fiel soigniert aus: "Fein, fein, gegen wen spiel’n wir denn?"

Gegenseitige Sympathie

Abgesehen vom Hause Habsburg und seinen paneuropäischen Bemühungen gab es wenig Gemeinsamkeiten, aber die Bevölkerung handelte stets solidarisch, gewährte beim Ungarnaufstand und anlässlich der Grenzöffnung knapp vor der deutschen Wiedervereinigung sofort bereitwillig Einlass und bot den Ungarn-Flüchtlingen vor sechzig Jahren Nahrung und Quartier.

Trotz aller Widrigkeiten seit den Verträgen von Saint-Germain-en-Laye 1919 (betraf die Grenze Österreich/Ungarn und die Nachkriegsordnung der Republik) und Trianon 1920 (betraf Ungarns Grenze zu Rumänien) und der langen Durststrecke unserer Nachbarn im sozialistischen System war das Verhältnis "unten" stets herzlich, von gegenseitiger Sympathie und einem regen Handelsaustausch gekennzeichnet.

Heute lautet das Match indessen eher "EU mit Österreich" gegen Ungarn oder "EU mit Österreich" gegen Visegrád; gemeinsame europapolitische Interessen verfolgen die beiden "verfreundeten" Nachbarn kaum. Als der tschechische Präsident Milo Zeman 2016 vorschlug, dass Österreich zu den Visegrád-Konferenzen eingeladen werden sollte, beeilten sich die Ungarn rund um Ministerpräsident Orbán, den Wiener Nachbarn wieder auszuladen.

Aber die Idee einer Annäherung an die 60 Millionen Unionsbürger vertretende, informelle osteuropäische Interessensgruppe hält sich hartnäckig und fasziniert rechtspopulistische Politiker. Neuerdings, seit den Wahlen vom 15. Oktober 2017, geistert eine Annäherung an diese osteuropäische Vierergruppe durch die Medien. In freiheitlichen Kreisen scheint eine Annäherung an Ungarn, Polen, die tschechische Republik und die slowakische Republik das probate Mittel, der "mächtigen" und "zentralistischen" EU die Stirn zu bieten.

Dagegen sprechen sich vehement langjährige Spitzendiplomaten wie Albert Rohan aus, die befürchten, dass über das Donauknie von Visegrád der Weg in eine selbstgewählte Außenseiterrolle am Rand der EU führen würde. Und nachdem schon deutsche Medien Befürchtungen über "Habsburg light" angestellt haben, fand es auch der amtierende Außenminister und baldige Bundeskanzler Sebastian Kurz angebracht, in Brüssel Entwarnung zu geben. Nein, Österreich werde der Vise-grád-Gruppe auch künftig nicht beitreten, so lautete kurz und bündig die Stellungnahme aus dem Außenamt. Doch kann man einer informellen Gruppe "beitreten"? Freihandel besteht ja schon kraft der EU-Verträge, solcherart entstünde eine Art ex-post-Bekräftigung eines bereits existierenden Vertrags. Die heutige Visegrád-Gruppe geht ja auf ein durch den EU-Beitritt aller Beteiligten überholtes Freihandelsabkommen von 1991 zurück.

Antiösterreichische Note

Historisch spricht aus österreichischer Sicht viel gegen, aber nichts für Visegrád. Die Symbolik dieses Treffpunkts trägt eine antihabsburgische und somit unter den politischen Kautelen eindeutig antiösterreichische Note. Denn im Oktober 1335, als das Dreikönigstreffen in der ungarischen Donaufestung stattfand, war kein Habsburger eingeladen. Vielmehr konferierten König Kasimir der Große von Polen, der Ungarn-König Karl von Anjou sowie der Böhmen-König Johann in Visegrád in trialistischer Manier, ohne Beisein eines Wiener Gasts.

Der in Prag residierende Johann, Vater des späteren römisch-deutschen Kaisers Karl IV., war ein heftiger Gegner der Habsburger, er stammte aus dem Geschlecht der Luxemburger. Johann und Karl befanden sich im Konkurrenzkampf mit den Herzögen in Wien, Rudolf IV. behalf sich sogar der Fälschung des privilegium maius, um sein Ansprüche zu wahren. Konkurrenz wurde auch bei Gründungen, Bauten und Stiftungen in Wien, Prag und Budapest sichtbar. Schon als König von Böhmen setzte Karl Akzente, wie etwa die Gründung der Prager Universität, die nach ihm benannt ist und siebzehn Jahre vor der Wiener Gründung des ehrgeizigen Rudolf IV. stattfand.

Sich Visegrád anzuschließen ist weder historisch-symbolisch angebracht noch zweckmäßig, völkerrechtlich zudem schwierig bis unmöglich. Integrationspolitisch betrachtet ist die Ausrichtung der Gruppe umstritten. Die Bielefelder Soziologen Marcel Schütz und Finn-Rasmus Bull haben die "Unverstandene Union" in den politischen Wissenschaften aufgearbeitet. Sie sehen die Visegrád-Gruppe als eine interne strukturelle Sonderform der EU und ihrer Organisationen.

Konfrontation mit EU

Da im EU-Verband die Mitglieder grundsätzlich gleichberechtigt sind und in wichtigen Fragen einstimmig handeln, kommt es ersatzweise und hinter den Kulissen zu internen Zweckbündnissen wie jenem der vier Staaten. So entstehen dauerhafte Allianzen, die aber letztlich auf Konfrontation mit den EU-Organen ausgerichtet sind. Die Visegrád-Gruppe habe somit den Status einer Art widerspenstiger Binnenorganisation innerhalb der EU, so die Autoren.

Ungarn und Polen stehen meist in einem betonten Gegensatz, ja in politischer Opposition zu den Machtträgern in Brüssel und Straßburg. Die Antworten der EU-Organe fallen in letzter Zeit recht harsch aus. Der EuGH befand im September 2017, dass Ungarn aus den abgesprochenen, aber nicht eingehaltenen Flüchtlingsquoten umgehend rund 1300 Personen aufnehmen müsste - und unterließ es nicht, die mangelnde Solidarität Ungarns zu geißeln. Die Kommission setzte noch eines drauf und verweigerte eine Refundierung der Kosten von rund 400 Millionen Euro, welche Viktor Orbán für den Grenzzaun im Süden eingefordert hatte. Grenzzäune zu errichten, zähle nicht zu den Aufgaben der EU, so die Begründung, zudem hätte Ungarn bestimmte Fördermittel verfallen lassen, die allerdings nur ein Zehntel der gewünschten Summe abgedeckt hätten.

Gegen die wenig freundliche EU-Politik hat sich Widerstand in Wiener Kreisen formiert. Das Nicht-Kooperieren und die Missachtung der Donauachse könnte sich längerfristig als ein Fehler erweisen, so lautet die Befürchtung jener Gruppe, sie sich stärker von Kanzlerin Merkels "Einladungspolitik" distanziert.

Auf Grund der geopolitischen Lage und der historischen Rolle Ungarns als Bollwerk gegen Vorstöße aus dem Balkan, aus Russland und aus Vorderasien, sollte Österreich den Blick stärker nach Osten wenden. Es gehe nicht (nur) um eine Annäherung an Visegrád, sondern auch um kulturelle und akademische Zusammenarbeit im Sinne des als "Rechten" unverdächtigen Erhard Busek und des renommierten Instituts für den Donauraum (IDM), wo seit Jahrzehnten ein Dialog mit Ungarn, Polen, der slowakischen und der tschechischen Republik stattfindet.

Auch die Idee einer außenpolitischen Zusammenarbeit ist nicht neu, denn Verteidigungs- und Innenministerium kooperieren seit dem ersten großen Flüchtlingsansturm intensiv. Österreichische Polizei hilft an der serbischen Außengrenze und fährt im Burgenland gemeinsame Grenzpatrouillen, auch im Rahmen des Bundesheer-Assistenzeinsatzes gab es keine Probleme mit dem ungarischen Militär, an der Grenzinfrastruktur wird gemeinsam gearbeitet.

Ausgleichsverhandlung

Eine lange, gemeinsame Geschichte zeigt, dass es stets schwierig war, auf einen grünen Zweig zu kommen. Die ab 1867 im Zehnjahresturnus zu führenden Ausgleichsverhandlungen waren dem heutigen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden vergleichbar. Sie beschworen regelmäßig Krisen und heftigste Auseinandersetzungen herauf. Das Königreich Ungarn sah sich als gleichberechtigter Partner, die Residenzstadt Budapest beanspruchte Präsenz der Habsburger, hatte ab 1867 eine eigene Regierung und ein autonomes Parlament, nur zwei Ressorts waren "k.u.k.", das heißt gemeinsam verwaltet, sodass letztlich nur die gemeinsame Armee (mit Besonderheiten) und die gemeinsame Außenpolitik die lose Personalunion aneinander schmiedeten.

Die cisleithanische Reichshälfte durfte sich auch verfassungsmäßig gar nicht "Österreich" nennen, was Robert Musil in seinem legendären Kapitel "Kakanien" im Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften" thematisiert hat. Erst knapp vor dem Ersten Weltkrieg wurde diese uns so vertraute und zudem 1000 Jahre alte Bezeichnung offizieller Staatsname Cisleithaniens, da der Kaiser zuvor die ungarischen Reaktionen fürchtete. Als sich 1908 nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina Wappenfragen stellten, ging der Streit wiederum los.

Maßnahmen zur Zollvereinheitlichung und Durchsetzung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets misslangen. Die Tabakregie konnte in Budapest und dessen transleithanischem Herrschaftsbereich (inklusive Slowakei und Kroatien, Bosnien wurde nach Besetzung und Annexion gemeinsam verwaltet) kein Monopol etablieren. Die ungarischen Adeligen pochten auf Sonderrechte, die ihrer Ansicht nach den Staatsgrundgesetzen und dem Ausgleichsrecht vorangingen. Grenznahe Magnaten beharrten darauf, dass Tabakmühlen den an der Leitha geschmuggelten oder selbst angebauten Tabak verarbeiten durften. In ihrer Verzweiflung setzte die k.k. Tabakregie auf Dumpingpreise in Budapest und die Politik suchte nach Verbündeten an der Universität.

Hans Kelsen las nach seiner Habilitation 1911 "Ausgleichsrecht", die rasch abfolgenden Ministerpräsidenten Cisleithaniens verbrauchten zahlreiche Verfassungsexperten für die Verhandlungen. Im Reichsrat, der die Ausgleichsfragen ebenfalls abzusegnen hatte, kam es regelmäßig zu einem Eklat, wenn sich ein Jahr mit einem "7er" anbahnte und das Thema "Ausgleich" wieder auf der Tagesordnung stand.

Statt das Dreißigjahrjubiläum der Verfassung 1867 gebührend zu feiern, zerbrach das Wiener Parlament 1897 beinahe an der Nationalitätenfrage, nicht zuletzt weil sich die zahlenmäßig stärkeren slawischen Bevölkerungsgruppen die Bevormundung nicht mehr länger gefallen lassen wollten und die deutschsprachigen Österreicher um ihren Primat fürchteten. Bis heute gelingt es Budapest und Wien über Fragen zu streiten, die in die Zeit der Donaumonarchie zurückreichen, wie etwa die Eigentümerschaft am Österreichischen Hospiz, welche Erzbischof Schönborn mit guten Gründen für Wien reklamierte.

Blieben der ungarische Nationalismus und die Tendenz zu illiberalen Strömungen beim Nachbarn. Nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich ein sozialistisches System, denn die Bolschewisten rund um Bela Kún und seinen "Vollstrecker" Samuely hatten bereits 1918/19 Angst und Schrecken verbreitet. Der ehemalige k.u.k. Admiral und Reichsverweser Horthy erschien vielen Enteigneten als Erlöser, kann aber auch nicht gerade als liberaler Machthaber bezeichnet werden.

Der heute vorherrschende Orbánismus ist nicht antidemokratisch, aber, wie der Ministerpräsident selbst freimütig zugibt, von seiner Ausrichtung her antiliberal. Damit steht Ungarn aber im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die es als Europaratsstaat anerkannt und ratifiziert hat. Aus mehreren Artikeln der EMRK wird deutlich, dass es in Europa nicht nur um demokratische Fundierung der Regierungen und der Parlamente geht (wie es das erste Zusatzprotokoll verlangt). Vielmehr liegt der EMRK eine Vorstellung von Demokratie zugrunde, in der Meinungs- und Informationsfreiheit herrschen. Einschränkungen sind nur dann zulässig, wenn sie in einem demokratischen Staat (unbedingt) notwendig sind und zur Verfolgung öffentlicher Interessen oder der Rechte Dritter dienen.

Somit lässt der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte nur in Ausnahmefällen Bestrafungen von Medien und Journalisten zu, etwa wenn es um die Privatsphäre von Personen geht, die keine "public figures" sind, wie es ja auch das österreichische Me-dienstrafrecht vorsieht. Aus der Judikatur des EGMR folgt im Umkehrschluss, dass Politiker wie der Ministerpräsident oder sein Außenminister wegen ihrer Wortwahl und illiberalen Maßnahmen kritisiert werden dürfen. Sie müssen in einem liberal-demokratischen System diese Werturteile erdulden, auch wenn das ihrer Vorstellung von Demokratie mit einem Hauch autoritären Regierens missfällt.

Kritik am EuGH

Dasselbe gilt für die Anerkennung der grundsätzlich endgültigen und durch Rechtsmittel nicht mehr bekämpfbaren Rechtsprechung internationaler Instanzen. Wenn Ungarn ankündigt, das Urteil des EuGH vom 6. 9. 2017 über die Flüchtlingsquoten mit allen Mitteln bekämpfen zu wollen, dann verkennt es, dass ebenso wie der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte auch der Gerichtshof der Europäischen Union endgültig entscheidet. Zwar mag es legitim sein, politische Maßnahmen zu setzen, um eine Änderung der EU-Flüchtlingspolitik zu erwirken - und es sieht so aus, als ob dieser Schwenk ohnehin bereits erfolgt ist -; aber was beschlossen und in den Rechtsbestand der EU aufgenommen wurde, hat Legitimität und Gültigkeit auch für Budapest.

Die in der Wortwahl sehr aggressive Kritik am EuGH erinnert an Zeiten, in denen Wien und seine wenigen gemeinsamen Einrichtungen in der k.u.k. Monarchie am Pranger standen. Rückblickend versteht man heute besser, warum es in der Dezemberverfassung nicht einmal gelang, ein gemeinsames Verfassungs- und Höchstgericht zu etablieren.

Ungarn hat auch immer auf akademische Eigenständigkeit gepocht, was zur Folge hatte, dass an ungarischen Universitäten vor allem in Naturwissenschaften und Mathematik Höchstleistungen erbracht wurden, aber im Bereich der Sozialwissenschaften Störfeuer zwischen Politik und akademischer Welt entstand. Und so könnte sich auch die konsequente Unterdrückung eines wissenschaftlichen Informationsflusses oder einer akademischen Einrichtung, die dem Regime missliebig ist, als problematisch erweisen, wo es zwar kein spezielles Menschenrecht auf Wissenschaftsfreiheit gibt, sehr wohl aber internationale Abkommen, den Bolognaprozess und das nicht zu vernachlässigende Gebot der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, dass die höheren Studien allen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten offen stehen sollen (Art. 26 Absatz 1 AE).

Die im Visegrád von heute konzertierten Bemühungen Ungarns innerhalb der EU haben vielfältige historischen Wurzeln und es gab immer wieder Amplituden in einem Diskurs mit dem Westen. Dennoch gilt: Kooperation und Dialog unter Beibehaltung demokratischer, liberaler und grundrechtlicher Wertepositionen sind besser als Isolation und Entfremdung eines Nachbarn, der emotional, historisch und mentalitätsmäßig stets Teil des gemeinsamen Europa war - und auch bleiben soll.

Literatur:
Marcel Schütz/Finn-Rasmus Bull: Unverstandene Union - Eine organisationswissenschaftliche Analyse der EU. Springer VS, Wiesbaden 2017.

Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.