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Neue Grenzen im Süden

Von Simone Schlindwein

Reflexionen

Die Afrika-Politik der EU hat zur Zeit vor allem ein Ziel: Die Migration soll eingedämmt werden, und das mit Hilfe der afrikanischen Staaten.


Vor dem Kongresszentrum werden Flaggen gehisst, Polizei und Militär stationiert, denn Protestmärsche sind angekündigt. In Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, laufen die Vorbereitungen für den großen Gipfel der Afrikanischen Union (AU) und der Europäischen Union (EU), der von 26. bis 30. November dauern soll. "Investieren in die Jugend für eine nachhaltige Zukunft" lautet das Thema. Konkret geht es darum, wie man die Jugend Afrikas davon abhalten kann, nach Europa auszuwandern.

Der Abidjan-Gipfel ist der nächste entscheidende Schritt in einem zweijährigen Verhandlungsmarathon, der im November 2015 mit einem außerordentlichen Gipfeltreffen auf der maltesischen Mittelmeerinsel Valletta seinen Anfang nahm. In Brüssel, Berlin, Paris oder Rom fürchtete man in jenem Herbst, dass es mit der unkontrollierten Migration so weitergehen könnte - nicht nur aus Syrien, sondern vor allem aus Afrika. Einem Massenandrang der Afrikaner sollte frühzeitig begegnet werden, so die Idee der Europäer. In Valletta machte die EU deswegen ein Angebot: In den Nothilfe-Fonds für Afrika wurden Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit eingestellt, um Fluchtursachen zu bekämpfen und die Migration in Richtung Europa zu stoppen - die sogenannten Migrationspartnerschaften. Es existiert bereist ein Labyrinth bedruckter Seiten zu dieser Frage, doch alle Konzepte haben im Wesentlichen zwei Ziele:

1. Die Migration vom südlichen Nachbarkontinent soll eingedämmt werden und

2. die Afrikaner sollen bei Abschiebungen besser als zuvor mit den Europäern zusammenarbeiten.

Migrationskontrolle

Die EU bietet dafür immer mehr Geld. Die Entwicklungshilfe wird zunehmend an Bedingungen geknüpft, sprich: Es werden diejenigen Staaten belohnt, die bei der Migrationskontrolle kooperieren, und gleichzeitig werden diejenigen sanktioniert, die sich den EU-Zielen entgegenstellen. Bis 2020 will die EU dafür 14 Milliarden Euro bereitstellen. Sie begleicht damit die Kosten, die durch die Kontrolle der Migration selbst entstehen: Jeeps oder Schiffe für die Grenzpolizei, Abschiebungen oder Internierungslager. Aber sie gibt gewissermaßen als Prämie eine Extraportion Entwicklungshilfe für die Koalition der Willigen in Sachen Grenzschutz.

Seitdem hat sich viel getan: Manche Staaten Afrikas stellen nun die Ausreise in Richtung Europa unter Strafe. Manche sperren Migranten einfach ein. Manche errichten Grenzposten, wo bislang keine waren. Manche nehmen Abgeschobene zurück, selbst wenn sie gar nicht ihre eigenen Bürger sind. Manche Staaten blockieren Migrationsrouten mit Soldaten. Manche erlauben europäischen Beamten, dies gleich selbst zu übernehmen. Und manche schließen die Grenzen: nicht nur für Transitmigranten, sondern auch für die eigenen Bürger.

In dieser neuen Welt wächst auch die Bereitschaft, militärische Mittel zu wählen. Dies zeigen nicht zuletzt die Maßnahmen der Grenzkontrollen, die nun im Rahmen des sogenannten Khartum-Prozesses zum Beispiel mit dem Sudan, Äthiopien oder Eritrea umgesetzt werden. Für Westafrika wurde parallel der sogenannte Rabat-Prozess ins Leben gerufen. Ziel soll es jeweils sein: "Menschenhandel und Schleusertum einzudämmen", heißt es im Khartum-Abkommen.

Um dies zu erreichen, will die EU Afrikas Grenzbehörden unterstützen: in Form von "Training, technischer Hilfe und Lieferung von angemessener Ausrüstung, um die Migrationspolitik umzusetzen", heißt es in der Projekt-Beschreibung zum Khartum-Abkommen.

Fragwürdige Helfer

Doch diese afrikanischen Grenzbehörden sind Sicherheitskräfte, die in der Regel der Polizei, Armee oder auch dem Geheimdienst unterstehen. In einigen afrikanischen Staaten sind diese berüchtigt für Menschenrechtsverbrechen. So das Beispiel Sudan: Das Regime in der Hauptstadt Khartum war lange Zeit international geächtet. Auf Präsident Omar al Bashir hatte der Internationale Strafgerichtshof bereits 2009 einen Haftbefehl ausgeschrieben. In diesem Haftbefehl wird der darfurische Milizenchef Generalmajor Mohammed Hamdan Daglo alias Hametti als Bashirs Handlanger für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Heute ist er Sudans oberster Grenzschützer, der Jagd auf Migranten macht.

Welche Konsequenzen diese Politik hat, zeigt sich am Beispiel Niger, einer der Haupttransitstaaten von Migranten aus Westafrika. Durch die nigrische Handelsstadt Agadez, die letzte große Oase, geht seit Jahrtausenden alles hindurch, was von Westafrika durch die Sahara will: Waren, Händler, Kamele und Migranten. Jetzt wird die Stadt zum Schlachtfeld in Europas Kampf gegen die Migration.

Dass die Armee heute an den Wasserstellen postiert ist, um die Schlepper zu fangen, ist eine direkte Folge des Besuchs der deutschen Bundeskanzlerin im Oktober 2016 in Niger. Angela Merkel hatte dem Land damals "umfassende Hilfe" gegen die illegale Migration angekündigt. Deutschland werde die nigrische Armee mit Lastwagen und Kommunikationsausrüstung unterstützen, sagte Merkel nach einem Treffen mit Staatschef Mahamadou Issoufou. Sie versprach, Deutschland werde Nigers Sicherheitskräfte mit zehn Millionen Euro Ausrüstungshilfe unterstützen, die unter anderem für neue Funktechnik für die Polizei und Grenzsicherung ausgegeben werden sollten. Die nigrische Armee solle deutsche Lastwagen erhalten. Verbindungsbeamten von Bundespolizei und Bundeswehr sollen nach Niamey entsandt werden, um ihre nigrischen Kameraden in Verhaftungstechniken fit zu machen.

Um nicht gefasst zu werden, kommt es seitdem zunehmend dazu, dass Lastwagenfahrer, die Migranten von Agadez durch die Wüste transportieren, ihre illegalen Passagiere in der Wüste aussetzen und sich aus dem Staub machen. Bis zu hundert Menschen, darunter Frauen und Kinder seien so im Sommer 2017 in der nigrischen Wüste qualvoll verdurstet, so Albert Chaibou, Journalist aus Niger und Gründer einer Migranten-Notruf-Hotline: "Unser Land ist im Dienst Europas zum Friedhof verkommen", klagt er. Gratuliert hat die Europäische Kommission Niger am 15. Dezember 2016 dafür, dass weniger Migranten nach Europa kommen. Einem EU-Bericht zufolge war die Zahl der Transitmigranten von 70.000 im Mai auf 1500 im November 2016 gesunken.

Abschiebungen

Die Migrationskontrolle ist eine Sache, welche die EU den Afrikanern in Valletta als Bedingungen gesetzt hatte - die andere ist die bessere Kooperation bei Abschiebungen. Das Problem der EU: Die meisten Afrikaner wollen sich bei ihrem Asylverfahren nicht ausweisen. Das macht es aber im Falle einer Ablehnung schwer, sie wieder loszuwerden, denn man weiß nicht wohin.

Ein Beispiel ist Mali: 2014 wurden 5495 Malier aufgefordert, die EU zu verlassen. 610 wurden abgeschoben - bei den übrigen fiel es den europäischen Behörden schwer, nachzuweisen, dass sie tatsächlich aus Mali stammen. Seit dem Valletta-Gipfel 2015 hat die Steigerung dieser Quote für die EU höchste Priorität. Allein Mali boten die Europäer sofort 145 Millionen Euro und für die nächsten Jahre wohl noch mehr - wenn es "konkrete und messbare Ergebnisse bei der zügigen operativen Rückführung irregulärer Migranten" gebe, wie es in einem Ratspapier heißt. Dazu hat die EU eigene Reisepapiere für die Abschiebung entworfen, die sogenannten Laissez-Passers. Auf diesen kann die EU einfach selbst festschreiben, dass eine Person aus Mali stammt.

Das Problem der EU: Kein afrikanischer Staat erkennt diese an. Denn die Zusammenarbeit mit der EU bei Abschiebungen ist nicht nur in Mali umstritten. Migration ist in den meisten afrikanischen Ländern ein Versprechen für viele, die nach etwas Besserem suchen, und sie ist Lebensgrundlage für viele Menschen, die Angehörige in der Diaspora haben.

So kam es am 29. Dezember 2016 zum Eklat. An jenem Tag näherten sich zwei Flugzeuge der Fluggesellschaft AirFrance der malischen Hauptstadt Bamako. Beide hatten je einen Mann an Bord, den Frankreich nach Mali abschieben wollte. Beide hatten keinen Pass. Es war ein Testlauf für die Laissez-Passers. Die EU wollte wissen, ob Mali nun offiziell diese EU-Dokumente anerkennt. Doch am Abend des 29. Dezember ließen die malischen Grenzpolizisten am internationalen Flughafen von Bamako die beiden Abgeschobenen nicht einreisen. Stundenlang protestierten die französischen Begleitpolizisten. Doch die malischen Beamten blieben hart. Am nächsten Morgen waren die beiden Malier wieder in Paris.

Neue Verhandlungen

In der Migrationsfrage konnte sich die EU also bisher nicht voll gegen die Afrikaner durchsetzen, trotz aller Milliarden, die in die Hand genommen werden. Viele Regierungen haben sich zwar in den Dienst stellen lassen, für die EU den Türsteher zu spielen und ihre Grenzen zu schließen. Doch Abschiebungen mit EU-Reisepapieren zuzulassen, dagegen wehren sie sich. Die Afrikaner wollen ihrerseits Visaerleichterungen für ihre Staatsbürger in die EU. Doch Arbeitsmigranten aus Afrika - das will weder die EU noch die europäischen Regierungen.

In den vergangenen Monaten wurde deutlich: Die Interessen der EU und AU gehen weit auseinander. In Afrika wird Migration als Entwicklungsmotor gesehen, deswegen soll sie erleichtert und nicht erschwert werden. 2018 will die AU die Visafreiheit auf dem ganzen Kontinent und einen gemeinsamen afrikanischen Reisepass einführen. Ob das realistisch ist, wird sich zeigen; auch, wie die EU damit umgehen wird. All das wird nun auf dem anstehenden Gipfel in Abidjan weiterverhandelt. Klar ist: Solange dieses Interessensdilemma nicht gelöst ist, wird es keine echte Partnerschaft geben.

Simone Schlindwein, geboren 1980, lebt seit 2008 in Uganda und berichtet u.a. für die "Wiener Zeitung" aus Afrika. Soeben ist ein Buch zum Thema dieses Artikels erschienen: Christian Jakob / Simone Schlindwein: Diktatoren als Türsteher. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. LINKS-Verlag, Berlin 2017, 320 Seiten, 18,50 Euro.