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Der musealisierte Nationalstaat

Von Oliver Kühschelm

Reflexionen
Selbstbeschau des Nationalstaats im "Haus der Geschichte" in St. Pölten, das 2017 eröffnet wurde.

Weder Staat noch Nation, wie wir sie heute kennen, werden sich rasch verflüchtigen. Trotzdem sollte man beginnen, über sinnvolle Alternativen nachzudenken.


Der Nationalstaat bleibe das beste Vehikel, um das Leben der Menschen zu verbessern, erklärte US-Präsident Trump, als er im September vor der UNO sprach. Die FPÖ ließ schon 1992 "unser" Pendant zu Trumps Kampagnenslogan plakatieren: "Österreich zuerst". Das Motto hat sie beibehalten, verändert hat sich hingegen der politische Raum, in dem sie agiert.

Einer mit dem Nationalstaat identifizierten Heimat wird weithin neue Dringlichkeit zuerkannt und ihre "Sicherheit" als politische Aufgabe in den Vordergrund gestellt. Bekanntlich hielt auch Peter Pilz, als er noch offensiv politisch agierte, die Devise "Österreich zuerst" für einen geeigneten Ansatzpunkt von Politik. Trotz aller Kautelen dient das Nationale so als eine Brücke, die sich von Links nach Rechts und umgekehrt begehen lässt, ohne dass man aber - entgegen der üblichen Funktion einer Brücke - je an einen Ort käme, der nicht die Na-
tion ist. . .

Dominantes Modell

Für die politische Verwertung der Nation scheint die Anhänglichkeit vieler Menschen an nationale Identifikationsmuster zu sprechen, ebenso die Kraft des Faktischen, die vom Nationalstaat als einem dominanten Modell staatlicher Herrschaft ausgeht. Die entscheidende Frage ist trotzdem, ob sich die Nation für eine im weitesten Sinn progressive Politik besetzen lässt; oder ob man sich mit einem solchen Versuch nicht in einen Käfig der Borniertheit sperrt.

Kann es also einen progressiven Nationalismus geben, der individuelle Freiheit und soziale Emanzipation vorantreibt? In Österreich und Deutschland hat man gute, historische Gründe zur Skepsis, was dessen prinzipielle Möglichkeit und politische Wahrscheinlichkeit betrifft. Ohne Beispiel ist ein solcher Nationalismus jedoch selbst in Zentraleuropa nicht. Die Nation der Schweizer überwand ethnische und konfessionelle Spannungen durch eine liberalkonservative Vorstellung bürgerlicher Freiheit.

Auch die Auflösung der Habsburgermonarchie schuf keineswegs nur Spielwiesen für auto-
ritäre Nationalismen. Die tschechische Nationalbewegung, die 1918 zu ihrem Staat kam, orientierte sich in wesentlichen Teilen liberal und demokratisch. Das global sichtbarste Beispiel für ein Amalgam aus Nationalismus und staatsbürgerlichen Rechten boten aber seit ihrer Gründung die USA. In einer ihrer dominanten Linien verstand sich die nationale Idee "Amerika" als liberaldemokratischer Patriotismus.

Diese Beispiele haben indes ihre Fehler. Die Grenzen zwischen Patriotismus und nationalistischer Engstirnigkeit sind notorisch unscharf. So propagiert seit 2008 die Tea Party-Bewegung ihre Version von US-Verfassungspa-triotismus, die mit einem xenophoben Ressentiment einhergeht. Die amerikanische Nation wurde außerdem auf dem Rücken einer afroamerikanischen Unterklasse errichtet. Daran hat sich bis heute sozial und ökonomisch wenig geändert. Das ist nur einer der augenfälligsten Makel der "shining city upon a hill", die gleichermaßen nationales Projekt und universales Modell sein wollte.

Hierzulande trieben nach 1945 die politischen Eliten das Projekt einer im Kleinstaat eingerichteten Nation voran: eine freundliche und gastfreie, folglich nicht-nationalistische Nation Österreich. Dieser Ambition kam das Wirtschaftswunder zu Hilfe, das die Transformation vom Problemfall mangelnder "Lebensfähigkeit" zur Wohlstandsgesellschaft einleitete.

Als ein Index des Erfolgs galten Auto, Kühlschrank und Fernsehgerät ebenso wie der Umstand, dass sich die österreichische Na-tion einer steigenden Zustimmung erfreute. Um sie zu messen, verwendete die Sozialforschung das neue Instrumentarium der repräsentativen Umfrage. Erhebungen zum Nationalbewusstsein begannen typischerweise damit, die Auskunftspersonen zu fragen, wann es den Österreichern am besten gegangen sei. Die Formierung einer nationalen Erfahrung, die individuellen und kollektiven Erfolg aneinander band, erreichte in den 1970er Jahren unter sozialdemokratischer Ägide ihren Höhepunkt und Abschluss.

Österreich ist seither wesentlich ein Synonym von Wohlstand, den es eifersüchtig zu hüten gilt. Ihn mit Anderen außerhalb der nationalen Erfolgsgemeinschaft zu teilen, ist Aufwallungen an Wohltätigkeit nach Art christlicher caritas vorbehalten. Es ist nicht Gegenstand von Politik, wie die geringen Beträge für Entwicklungszusammenarbeit verraten.

Die eiserne Regel ist: Geht etwas zu Ende, bekommt es ein Museum. Es ist kein Zufall, dass Österreich bald zwei Museen haben wird, die sich nach Bonner Vorbild "Haus der Geschichte" nennen. Darunter könnte man alles Mögliche verstehen, doch handelt es sich wesentlich um die Selbstbeschau des Nationalstaats und einer Gesellschaft, die seinen imaginierten und administrativ gesetzten Grenzen entspricht.

Eines der beiden Häuser hat bereits in Niederösterreich eröffnet, das andere entsteht gerade in Wien - je eines also in der "roten" Hauptstadt und im "schwarzen" Kernland. Die Verteilung weist zurück auf eine Zeit, als Sozialdemokratie und Christlichsoziale, SPÖ und ÖVP, Politik und Nation umspannen konnten. Das aber ist vorbei.

Meta-Nationalstaat EU

Österreich wird Erinnerungsort, um einen Begriff aufzunehmen, den der Historiker Pierre Nora in der Auseinandersetzung mit der Grande Nation Frankreich prägte. Er meinte damit Kristallisationspunkte des Übergangs zwischen gelebter Erinnerung und offiziöser Geschichtspolitik; reale oder symbolische Orte, die von der Vergangenheit und ihren Anstrengungen zehren. Musealisierung kann hier als nostalgische Blockade anheben oder sie fungiert als reflektierende Abschiedsgeste. Letzteres ist der klügere Ansatz.

Die Frage nach Alternativen zum Nationalstaat lässt sich schwer mit einem Masterplan zu seiner Abschaffung beantworten. Das ist indes kein Grund, sie schnell wieder zu vergessen.

Die gängigsten Antworten verweisen auf die Europäische
Union. In ihrer aktuellen Gestalt hat sie zwar viele Fehler. Sie fokussiert auf deregulierte Märkte und verschärft die demokratischen Defizite der Mitgliedstaaten. Ein Zerfall der Union in ein Europa ungebremster Nationalstaatsegoismen würde die Aussichten aber nicht verbessern. Auch dass die Union zu abstrakt, die Nationalstaaten hingegen konkreter und naturgemäß Objekte größerer Anhänglichkeit seien, ist ein Argument, mit dem bereits die Formierung von Nationalstaaten an lokalen und regionalen Loyalitäten hätte scheitern müssen.

Dass freilich die "europäische Idee" in breiten Bevölkerungsteilen wenig Enthusiasmus weckt, liegt nicht bloß an der Verstocktheit der Menschen, sondern da-ran, dass Europa bisher vor allem Eliten und aufstiegswilligen Mittelschichten attraktive Perspektiven bietet. Braucht es also ein sozialeres Europa? Sicherlich, aber Jahrzehnte neoliberalen Umbaus haben die Denkräume so weit verengt, dass das Maximum an Utopie ein auf europäisches Format gehobener Wohlfahrtsstaat, Modell ca. 1970, erscheint.

Vereinigte Staaten von Europa in sozialdemokratischer Fassung wären nur eine weitere Variante, sich den Nationalstaat in Form der keynesianisch moderierten Wachstumsmaschine zurückzuwünschen. Diese strebte Vollbeschäftigung an, versteckte viele ihrer Kosten im globalen Süden und sah steigenden Ressourcenverbrauch als unproblematischen Indikator dafür, dass alles gut läuft.

Jedoch ist es nötig, Vorstellungen und Praktiken des Wohlstands so zu orientieren, dass sie nicht einen stets größeren ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Auch ist es weder wünschenswert noch machbar, sich an Tauschverhältnisse zu klammern, mit denen die einstige "Dritte Welt" den Wohlstand eines US-amerikanischen und westeuropäischen Zentrums der Weltwirtschaft stützte.

Vollbeschäftigung wiederum ist in mehrfacher Hinsicht ein dubioses Ziel. Die Arbeitsgesellschaft des 20. Jahrhunderts mythologisierte selbst nervtötende Fabriks- und Büroarbeit als wichtigste Quelle des Selbstwertgefühls. Die Fortschritte der Automatisierung und künstlichen Intelligenz eröffnen die Chance, die Menschen künftig von der Notwendigkeit der Erwerbsarbeit zu befreien. Dass diese Prozesse bisher nur wenigen einen - dafür unverhältnismäßigen - Gewinn einbrachten und immer mehr Menschen ohne Einkommen oder in prekären Positionen zurücklassen, ist sozial und politisch konstruiert, aber kein Naturgesetz.

Allgemeine Muße

Sozialpartnerschaftliche Regime sahen eine Verteilung vor, die den Beitrag zum Wirtschaftswachstum als Kriterium akzeptierte. Das kann nicht mehr die Basis sein, um Handlungsspielräume gerecht zu verteilen, die außerdem viel zu sehr auf Vermögen und Erwerbseinkommen gründen. Deshalb sind etwa Modelle eines bedingungslosen Grundeinkommens wertvolle Versuche, das Soziale anders zu denken. Die Verknappung von Erwerbsarbeit ist insgesamt nur unter dem gegenwärtigen Sozialkontrakt eine unheilvolle Drohung; sie könnte ebenso ein Vehikel der Demokratisierung und der Freisetzung von Kreativität sein.

Das lebendige Assoziationswesen sah bereits Alexis de Tocqueville als den Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie. Wenn die Vermehrung und Pflege von Vereinigungen zu kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Zwecken ein Gegengewicht zu Herrschaftsmonopolen bildet, muss es demokratischen Verhältnissen schaden, dass die Zeitressourcen der Einzelnen vor allem durch den Produktionsapparat in Anspruch genommen sind.

Als Voraussetzung einer Beteiligung am Leben der Polis galt schon in der Antike die Muße. Ihre Verallgemeinerung würde eine Demokratisierung der Gesellschaft in Schwung bringen, die das Potential hat, den Nationalstaat - und auch eine Europäische Union als Meta-Nationalstaat - zu ergänzen und zu unterlaufen.

Weder der Staat noch die Na-
tion, wie wir sie in der Gegenwart kennen, werden sich von heute auf morgen verflüchtigen. Aber es bedarf nur ein wenig historischer Perspektive, um zu erkennen, dass eines gewiss ist: Staat und Nation werden verschwinden bzw. einem Formwandel unterliegen, der allenfalls die Namen bewahrt, nicht aber ihre konkrete Bedeutung. Sich der kurzfristigen politischen Opportunität wegen an den Nationalstaat der langen Nachkriegszeit zu ketten, ist eine intellektuelle Selbstfesselung, die nirgendwohin führt.

Oliver Kühschelm ist Historiker am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien.