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Wortreiche Naturerschließung

Von Alexander Kluy

Reflexionen

Hierzulande im Vormarsch, hat "Nature Writing" in den USA und Großbritannien Tradition. Das Literaturhaus München widmet dem Genre nun eine Ausstellung.


Beobachten und beschreiben: Ausstellungssujet "Maiwiese" von Brigitte Stenzel.
© Walter Bayer

Auf den Knien liegt er, vor einem Thymianbusch, ein Vergrößerungsglas in der Hand, auf dem Kopf einen Filzhut. Jean-Henri Fabre ist gebannt von den Vorgängen, die sich vor ihm abspielen: Eine Sandwespe ist auf Beutejagd. Sie scharrt am Strunk des Stocks, steckt ihren Kopf unter lose Erdkrumen. Und tatsächlich, es gelingt, einen großen grauen Wurm, aufgeschreckt durch die Aktivitäten nahe seines unterirdischen Verstecks, herauszutreiben. Und prompt ist es um ihn geschehen.

Dass diese detaillierte dramatische Schilderung noch heute, mehr als 120 Jahre, nachdem Fabre (1823-1915) sie zu Papier brachte, spannend zu lesen ist, verdankt sich der Sprache des Südfranzosen, der sich, in eine arme Bauernfamilie geboren, zäh und ehrgeizig zum Lehrer für Mathematik und Physik hocharbeitete und sich viele Jahrzehnte autodidaktisch dem Studium der Insekten widmete. Denn Fabre, von seinem Zeitgenossen, dem Romancier Victor Hugo, zum "Homer der Insekten" erhoben und von Charles Darwin als "observateur inimitable", als unnachahmlicher Beo-bachter, gepriesen, schrieb in einem Stil, der biegsam und farbig, voller pittoresker Einzelheiten, unterhaltsam und stets dem Konkreten verpflichtet ist. Frei von akademischer Nüchternheit, handelt es sich, so Fabre ganz richtig, um "exakte Aufzeichnungen beobachteter Vorgänge". In eine andere Sprache übersetzt: Es ist Nature Writing.

1879 erwarb Fabre für sich und seine vielköpfige Familie ein Haus in Sérignan-du-Comtat im Vaucluse, zwischen Mont Ventoux und dem Rhonetal, heute Museum und Gedenkstätte, wo man den winzigen Schreibtisch des Insektenkundlers und Naturforschers bewundern kann. Der Garten war sein Freiluftlaboratorium. 1879 erschien auch der erste Band seiner gesammelten entomologischen Studien, deren zehnter und letzter 1907 herauskam. Wohl diesen Herbst wird die erste deutsche Gesamtübersetzung endgültig komplett vorliegen.

Eine Frau, Anfang 50, watet durch das Watt und Strände entlang, den Blick gebeugt über Tümpel, Wasserlöcher oder auf die Meeresoberfläche gerichtet. Sie schaut aber auch nach oben, beobachtet die Vögel und deren Verschwinden. Im September 1962 erscheint ihr Buch, das sich bis heute millionenfach verkauft und wohl den nachhaltigsten Einfluss auf die chemische Industrie hatte. "Der stumme Frühling" von Rachel Carson (1907-1964), Zoologin und Beamtin in einer nachgeordneten Umweltschutzbehörde, führte dazu, dass das bis dahin massenhaft versprühte Pflanzenschutzmittel DDT weltweit verboten wurde.

Blakeney Quay, Norfolk, England. Es gibt wahrlich schönere Orte, um aufs Meer, in diesem Fall die Nordsee, hinauszuschauen. Und doch saß Hugh Aldersey-Williams, geboren 1959, wochenlang dort am Strand und beobachtete Flut und Ebbe, wie das Wasser stieg und wie es wieder sank. Gras beim Wachsen zuzuschauen, dürfte, scherzt er, interessanter sein. Ist dieser Engländer somit einer von nicht wenigen spleenigen Käuzen unter seinen insularen Landsleuten? Nein. Denn was der Londoner Naturwissenschafter und Ausstellungskurator beim Tidenhub beobachten konnte, ausgestattet mit Fotoapparat, Notizbuch, Millimeterpapier, Lupe, kleinen Sackerln fürs Sammeln von Pflanzen und dem 550 Seiten starken Taschenbuch "The Oxford Book Of The Sea", ist spannend und füllt fast 400 Buchseiten von "Flut". Der deutschen Übersetzung verpasste der Hanser Verlag 2017 den treffenden Untertitel "Das wilde Leben der Gezeiten".

Alle drei beobachten die Natur, Tiere, Naturphänomene, winzig kleine Sensationen - und sie schreiben darüber, geschmeidig und literarisch ambitioniert. In England und den USA hat solches Schreiben über Natur, eben Nature Writing, eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert und noch weiter zurückreicht. In England war es 1793 Gilbert White, der "The Natural History Of Selborne" herausbrachte, ein bahnbrechendes Buch, weil der Pfarrer und Ornithologe in seinem 25-jährigen detaillierten Protokollieren von Wetter, Natur, Vögeln und Pflanzen beschrieb, was heute "Ökosystem" heißt.

Auch hierzulande ist dieses Genre, Literatur jenseits esoterischer Baumversteher und Pflanzenflüsterer, auf dem Vormarsch. Nicht zufällig widmet das Literaturhaus München diesem Thema aktuell eine Ausstellung: ",Ins Blaue!‘ Natur in der Literatur". Dabei wird eher historisiert. Der Bogen reicht von Homer über Jean Paul und Grillparzer zu Kafka und Nelly Sachs. Als Kontrast dazu wurden neue "Naturstücke" verfasst, unter anderem von Christoph Ransmayr, Arno Geiger, Ilija Trojanow, Eva Menasse und Teresa Präauer. Beratend beigezogen wurde die Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky, die seit fünf Jahren mit der von einem Mäzen finanzierten Reihe "Naturkunden" (im Matthes & Seitz Verlag) Nature Writing hierzulande bekannt gemacht hat.

Dabei steht diese Reihe auf den Schultern Anderer. Ein deutschsprachiger literarischer Vorreiter war W. G. Sebald, der 1995 eine "englische Wallfahrt" vorlegte. "Die Ringe des Saturn" des da schon Jahrzehnte in England lebenden Allgäuers war ein Gängebuch durch eine Landschaft, in der - und darauf spielt der Titel an - sich die eigene melancholische Seelenlage spiegelt.

In den Wald

Der aus der Schweiz gebürtige Soziologe und Stadt- und Landschaftsplaner Lucius Burckhardt, der in Kassel "Sozioökonomie urbaner Systeme" lehrte, erfand ein Jahrzehnt zuvor die "Strollology", die Promenadologie, zu Deutsch: die Wissenschaft vom Spazierengehen. Wie Burckhardt scharfsinnig hinwies, beruht Wahrnehmung ja auf dem kinematografischen Effekt dieser Tätigkeit.

Hat sich dies nicht in den letzten 20 Jahren grundlegend verändert? Würde man heute nicht sofort vom digitalen Effekt schreiben? Hat nicht das Eindringen einer medialen Rundumbewaffnung nahezu alles verändert, auch und vorrangig den Umgang mit Natur? Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han meinte jüngst in seinem Buch "Lob der Erde. Eine Reise in den Garten": "Die Digitalisierung der Welt, die einer totalen Vermenschlichung und Subjektivierung gleichkommt, bringt die Erde ganz zum Verschwinden. Wir überziehen sie mit unserer eigenen Netzhaut."

Sind Naturbücher also Verlustanzeigen? Oder sind sie scheinbar heile Gegenpositionen zur Hypermedialisierung, querstehend zum zeitgenössischen Medienverhalten und sprunghaften Verarbeiten schnellstmöglich übermittelter Informationspartikel? Man muss nur einmal mit Bim oder Bahn unterwegs sein, um festzustellen, dass heutzutage kaum mehr jemand durch das reale Fenster schaut, sondern alle auf das winzige Digitalauge von Smartphone oder Tablet starren.

Was aber macht die Natur mit uns? Und was macht sie anders? "Wer in einen Wald geht", so Roger Deakin in seinem Buch "Wilde Wälder", "betritt eine andere Welt, in der er sich verwandelt." Der 2006 verstorbene Brite fügt literarhistorisch listig hinzu: "Es ist kein Zufall, dass in Shakespeares Komödien Menschen in den Wald gehen, um zu wachsen, zu lernen und sich zu verändern."

Ein Historiker des Nature Writing, Frank Stewart, macht darauf aufmerksam, dass dieses Genre objektiv, also informierend, und zugleich subjektiv sei. Letzteres, weil stets die Rede vom Einzelnen ist, nicht nur vom Schreibenden selbst, seinen Befindlichkeiten und Herausforderungen und Abenteuern, von Sympathien, gelegentlich auch Antipathien, sondern eben auch von jenen, für die er schreibt. Über die Natur schreiben ist, auch das macht es besonders, dezidiert kein Tagebuchschreiben, baut es doch auf naturwissenschaftlichen Fakten auf. So ist es exakt und literarisch, expressiv und streng realistisch. "Naturalist" heißt die Quasi-Berufsbezeichnung wunderbar passend im Englischen hierfür.

Exakte Poesie

Einer der bekanntesten Naturschriftsteller der britischen Inseln ist der 1941 geborene Richard Mabey. Mit einer Verzögerung von dreizehn Jahren erscheint nun sein Band "Die Heilkraft der Natur" auf Deutsch. Bei ihm stellte sich nach Beziehungsproblemen und nach der Fertigstellung eines umfangreichen Buches eine schwere Depression ein. Für eine Weile musste er sogar hospitalisiert werden.

Sein Buch ist vieles in einem. Ein Loblied auf die Literatur als Rettungsanker. Die Beobachtung von fragiler Natur, fragiler, täglich vom Tode bedrohter Tierwelt und einem sehr fragilen Ich. Und eine Liebesgeschichte. Mabey findet nach düsteren Monaten, in denen ihm die Natur keinerlei Rückhalt mehr geben konnte, eine neue Liebe. Zugleich ist es ein Registratur-Akt in elastischer Prosa. Sowie ein Beschreibungsrapport, wie ein Naturmensch den Bezug zur Natur einbüßt - und wiederfindet. Eine Meditation über Auflösung und Selbst-Versicherung, auch über eine Zivilisation, die blind und taub ist für das, was sie unübersehbar in Landschaft, Tierwelt und Natur anrichtet.

Nature Writing, das nicht selten mit Reisebeschreibung verquickt wird, etwa in Madeleine Buntings feinem Porträt der Inselgruppe der Hebriden ("Love Of Country", 2016), verhandelt das Eigene und das Andere, Krise, Erholung und auch aufleuchtendes Glück. Es handelt vom Sich-Zeit-Nehmen und Ausbalancieren von Ratio und Gefühl, Intuition und Leidenschaft. Und ist im besten Fall: exakte Poesie.

Roger Deakin: Wilde Wälder. Aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 440 Seiten, 39,10 Euro.

Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers. Bd. 1-8. Aus dem Französischen von Friedrich Koch, Ulrich Kunzmann und Heide Lipecky. Matthes & Seitz, Berlin 2010-2018, je Band 38,- Euro.

Roger Mabey: Die Heilkraft der Natur. Aus dem Englischen von Christa Schuenke, Britta Waldhof und Claudia Arlinghaus. Matthes & Seitz 2018, 280 Seiten, 25,70 Euro.

",Ins Blaue!‘ Natur in der Literatur": Ausstellung im Literaturhaus München. Bis 7. Oktober 2018. www.literaturhaus-muenchen.de

Matthes & Seitz vergibt gemeinsam mit dem Bundesamt für Naturschutz den Deutschen Preis für Nature Writing.

Alexander Kluy lebt und arbeitet als Journalist, Kritiker und Autor in München.