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Die Ära der Selbstoptimierung

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Die Fitness-Industrie erlebt einen neuen Boom. Immer mehr Menschen stählen sich als Abonnenten im Studio.


Gesundheit als Statussymbol: Selbstoptimierung ist ein neoliberales Programm.
© Victor Freitas

Wenn man in den Abendstunden durch die Innenstädte spaziert und einen Blick in die Glasfassaden moderner Gebäude wirft, sieht man zuweilen sportliche Männer und Frauen, die in Fitness-Studios auf Laufbändern joggen oder auf Hometrainern strampeln, als würden sie eine Art Schaulaufen vollführen. Es sind nicht nur die durchtrainierten, asketischen, drahtigen Figuren, die sich hier stählen, sondern auch durchschnittlich sportliche Männer und Frauen, manche sogar leicht übergewichtig, die nach dem Feierabend beim Workout ihre körperliche Fitness optimieren. Studenten, Arbeiter, Hipster, Banker, Unternehmensberater - es sind alle gesellschaftlichen Milieus vertreten.

Fitness-Ketten wie McFit werben mit Slogans wie: "Dein stärkster Muskel ist dein Wille" oder "Werde Teil von etwas Großem: Dir selbst." In Werbespots, die mit einer Ästhetik aus amerikanischen Gyms und "Rocky"-Filmen spielt, appelliert das Unternehmen an die ultimative Eigenverantwortung: "Nichts kann jemanden stoppen, der auf dem Weg zu sich selbst ist. Mach dich wahr!"

Arbeit am Selbst

Die "Financial Times" fragte kürzlich in ihrer Wochenendausgabe unter der Überschrift "The dumb-bell economy" ("Dumbbell" kann im Englischen sowohl Dummkopf als auch Hantel bedeuten): "Wo sich Millennials immer mehr um ihr physisches und mentales Wohlergehen sorgen, ist der Gym zum neuen Pub geworden?" Immer mehr Jugendliche gehen in ihrer Freizeit ins Fitness-Studio, stemmen Gewichte, stählen ihre Muskeln beim Hanteltraining und verbessern die Kondition auf dem Laufband. Die Generation Koma-Saufen, die im Alkohol einen Bewältigungsversuch auf die Wirren der Moderne sah, ist passé. Stattdessen feilt man heute an seiner Fitness. Die Studios platzen aus allen Nähten, an jeder Ecke eröffnet ein neues Zentrum. Analysten sagen ein "goldenes Zeitalter" der Fitness-Industrie voraus.

Nach Angaben der Marktforschungsgesellschaft Marketwatch haben US-Amerikaner allein im vergangenen Jahr 19 Milliarden Dollar für Mitgliedschaften in Fitness-Clubs ausgegeben. Dazu kommen 33 Milliarden Dollar für Sportartikel. Eine regelrechte Fitness-Industrie ist in den vergangenen Jahren entstanden. Online-Shops wie "mycare.de" oder "feelgood-shop.com" vertreiben Nahrungsmittelergänzung wie Pro-
teinpräparate, Grüntee-Extrakte in Kapselform und flüssiges Eiklar.

Auf Portalen wie "I Make You Sexy" melden sich tausende Menschen kostenpflichtig an, um per Abnehm-Coaching zur Traumfigur zu gelangen. Was treibt diese Menschen an? Was ist das für eine Gesellschaft, wo man nach der kräftezehrenden Arbeit, nach einem Zehn-Stunden-Tag im Büro oder am Fabrikband in einem Fitness-Studio auch noch an der körperlichen Physis schuftet? In der man sich abends nicht mehr auf ein Feierabendbier in der Bar verabredet, sondern auf einen Eiweißshake im Fitness-Studio?

Dass die Arbeit am Selbst mittlerweile selbst zur Arbeit geworden ist, ist eine Zeitdiagnose, die man immer wieder liest (nicht zuletzt in dem Buch "Das Metrische Wir" des Soziologen Steffen Mau). Doch wo Arbeit als Broterwerb in einer Leistungsgesellschaft alternativlos erscheint, gibt es zur Arbeit am Selbst sehr wohl Alternativen. Niemand ist gezwungen,
10.000 Schritte am Tag zu gehen und mit dem Fitnesstracker den Leistungsnachweis physischer Aktivität zu erbringen. Warum tut man es trotzdem? Gibt es vielleicht doch einen Zwang?

Perpetuiertes Zerrbild

Kulturkritiker lamentieren schon seit Längerem, dass in TV-Formaten wie "Germany’s Next Topmodel" oder "The Biggest Loser" ein falsches Schönheitsideal kultiviert werde, in der Menschen auf ihr Äußeres reduziert werden und eine nachgerade sozialdarwinistische Auslese praktiziert werde, die suggeriere, dass nur die Fittesten im Leben reüssierten. Das ist freilich grob verzerrend und verkennt, dass auch ohne die TV-bildliche Spiegelung attraktive Menschen im Berufsleben bevorzugt werden (das belegen zahlreiche Studien) - und adipöse Menschen gesellschaftlich geächtet. Witze über Dicke gab es schon immer. Marius Müller-Westernhagen sang sein Schmählied "Dicke" ("Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin/ Denn dick sein ist ’ne Quälerei . . .") im Jahr 1978, lange bevor Abnehm-Formate auf Sendung gingen.

Diese Sendungen kommen nicht mit einem volkspädagogischen Gestus daher, sie bedienen ein in der Gesellschaft ausgeprägtes Verlangen danach, so auszusehen wie die durchtrainierten TV-Sternchen mit ihren Sixpacks und Knackpopos. Insofern kultivieren sie kein falsches Schönheitsideal, sondern perpetuieren lediglich ein Zerrbild. Denn dass nicht jeder so aussehen kann wie Brad Pitt und Angelina Jolie, ist offenkundig - und an sich auch beruhigend, weil eine moderne Gesellschaft nur über Differenz funktioniert. Das betrifft Aussehen gleichermaßen wie politische Einstellungen.

Doch in einer individualisierten, atomisierten und digitalen Gesellschaft, in der jeder sein eigener Regisseur ist und sich auf Social-Media-Plattformen präsentieren muss, lassen sich über Aussehen und Fitness Distinktionsmerkmale setzen. Auf Kuppelplattformen wie Tinder, wo Algorithmen unsere Attraktivität raten, kann ein trainierter Body den Marktwert erhöhen. Das heißt: "Investitionen" in das "Humankapital" zahlen sich aus. Das Geld und die Zeit, die man in Fitness-Studios in seinen Körper steckt, werden in eine immaterielle Währung der Attraktivität konvertiert.

Diese körperliche Fitness macht sich wiederum in anderen Lebensbereichen bezahlt. Versicherungen bieten "Pay as you live"-Tarife" an, die Prämien bereithalten, wenn die Versicherten Bewegung, Ernährung, Stress, Schlaf und andere Körperdaten aufzeichnen. Du bist, was du isst, was du zahlst, lautet die Formel dieses Geschäftsmodells. Der Anreiz, sich zu optimieren, ist also nicht nur intrinsisch.

"Feel Rich: Health Is the New Wealth", war 2017 ein Dokumentarfilm betitelt. Er erzählt die Geschichte von Rappern und Hip-Hop-Künstlern, die, statt Drogen zu konsumieren, gesundheitsbewusst leben, Yoga machen oder bei Ausdauerläufen schwitzen, und am Ende von sich sagen: "Ich fühle mich reich!". In dieser Losung steckte sicherlich auch ein wenig PR, doch trifft es den Zeitgeist auf den Punkt: Gesundheit wird zum Statussymbol.

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Betriebssystem Körper

Stars wie die Schauspielerin Nina Dobrev prahlen heute nicht mehr mit teuren Uhren oder der Luxuskarosse vor der eigenen Villa, was längst als dekadent und prollig gilt, sondern mit der eigenen Fitness. Auf ihrem Instagram-Account, den 14,2 Millionen Menschen abonniert haben, stammt fast jedes dritte Bild aus einem Cardio-Workout oder Fitness-Kurs. Die Botschaft, die sie mit diesen Bildern an ihre Fans aussendet, lautet: "Ich bin fit und vor allem diszipliniert!" Im Subtext heißt das: Nur wer diszipliniert ist, bringt es zu etwas. Und im Umkehrschlusses bedeutet dies freilich: Wer undiszipliniert ist, hat weniger Erfolg im Leben.

Der ideologische Kern dieser obsessiven Selbstoptimierung steckt in der Biohacking- bzw. Quantified-Self-Community, die ihren Körper als manipulierbares Betriebs-system erachtet und in der Bewirtschaftung ihres Organismus eine Technik zum Glück erblickt - einen Shortcut zum Wohlbefinden. Es geht bei der Selbstoptimierung nicht nur darum, alles aus sich herauszuholen, ein gutes Gefühl nach dem Sport zu haben, sondern auch darum, das Projekt der "Ich AG" in einer hyperkompetitiven Gesellschaft auch auf dem Feld der Gesundheit zu verwirklichen. Wer im Beruflichen nicht reüssiert, kann zumindest seinen Körper zur Hochleistungsmaschine aufrüsten und sich dadurch soziale Anerkennung verschaffen.

Die digitalen Kanäle bieten dabei die Möglichkeit, der Autor seines eigenen Drehbuchs zu werden. Man erzählt seine Geschichte heute nicht mehr im Pub, sondern breitet sie per Social Media aus. Insofern kehrt die Sozialität, aber auch der systemimmanente Zwang, bestimmte Normen zu erfüllen, durch die Hintertür der Digitalisierung zurück. Die digitalen Technologien schaffen eine neue Vergleichbarkeit. Man sieht, wie viele Kilometer der Facebook-Freund gelaufen ist, und nimmt diesen Wert als Benchmark, seine eigene "Laufleistung" anzupassen.

Was vorher nur gefühlt werden konnte, wird plötzlich messbar. Die Daten-Selfies dokumentieren die eigene Fitness-Historie, konstituieren aber gleichsam soziale Normen. Es ist eine Wechselwirkung zwischen Körper und Technologie: Die Daten formen das (digitale) Ich, und das Ich formt die Daten. Das Fitness-Studio wird zum Pub, weil dort jeder in seiner Datenförmigkeit gleich ist.

Daten-Buddhisten

In einer aktuellen Studie des Gottlieb Duttweiler Institute ("Wellness 2030: Die neuen Techniken des Glücks") heißt es: "Dank der Daten könnte der Code des Glücks bald geknackt werden, dabei wird Glück dekodiert und immer wieder neu kodiert. Glück wird individueller definiert und auch individuell erreichbar gemacht. Wir werden quasi auf Knopfdruck zu Daten-Buddhisten." Hier bekommt die Selbstoptimierung eine spirituelle Komponente. In der traditionellen Vorstellung des Buddhismus führte der Weg zum Glück über Leiden und persönliche Anstrengung. Wer es zum Meister bringen wollte, musste viel üben. Der Daten-Buddhismus beschleunigt diesen Weg, indem das Upgrade bis zum Super-Ego nur einen Mausklick entfernt scheint.

Dieses tranzendentale Versprechen zum perfekten Ich ist jedoch eine Illusion, weil eben nicht jeder zum Ebenbild göttlicher Diven und Superhelden werden kann. Das liegt schon an den genetischen Dispositionen. Der eigentliche Zweck ist ein anderer: Durch die körperliche "Dressur" und "Disziplinierung" (Foucault) der Individuen erhält die Industrie ein biopolitisches Zugriffsrecht auf das Leben von Menschen, indem sie ihren Alltag konditioniert. Der nette Nebeneffekt ist, dass den Unternehmen stets fittes Personal zur Verfügung steht, der Krankenstand reduziert wird und das Fitness-Studio zur verlängerten Werkbank wird. Selbstoptimierung ist das größte neoliberale Programm, das es je gegeben hat. Man macht nicht mehr die Politik für Arbeitslosigkeit oder Unzufriedenheit aus, sondern seine eigene (mangelnde) Fitness. Und geht im Zweifel ins Studio.

Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und Rechtswissenschaft in Tübingen, Heidelberg und Paris. Freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum (u.a. "FAZ", "NZZ" und "Wiener Zeitung").