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Der denkende Betrachter

Von Hermann Schlösser

Reflexionen
Jacob Burckhardt (1818-1897).
© Ullsteinbild - Photo 12

Vor 200 Jahren wurde der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt geboren. Seine anschauliche Sprache kann der Kulturwissenschaft bis heute als Vorbild dienen.


Jacob Burckhardt war kein Freund der Selbstdarstellung. Eine einzige autobiographische Aussage ist von ihm bekannt, und die wurde ihm von seiner Heimatstadt abverlangt. In Basel war es damals Sitte, bei Begräbnissen "Personalien" zu verlesen, die von den Verstorbenen zu Lebzeiten selbst verfasst werden mussten.

Auch Burckhardt folgte diesem Brauch und schrieb einen kurzen, sehr konventionellen Text, der schließlich nach seinem Tod am 8. August 1897 im Gottesdienst auch vorgetragen wurde. Über die inneren Beweggründe und Antriebe seines Schaffens teilte Burckhardt hier kaum etwas mit, aber die äußeren Stationen seines Gelehrtenlebens sind auf der Basis dieser Quelle gut zu referieren:

Jacob Christoph Burckhardt, geboren am 25. Mai 1818 in Basel, studierte nach dem Besuch des Gymnasiums zunächst evangelische Theologie (auf Wunsch des Vaters, eines Pastors), gab dann aber (mit gütiger väterlicher Erlaubnis) dem Studium der Geschichte und Kunstgeschichte den Vorzug. Er absolvierte seine Studien in Bonn und vor allem in Berlin. Geschichte hörte er dort bei Leopold v. Ranke, sein Lehrer der Kunstgeschichte war Franz Kugler, "eine edle Persönlichkeit", so Burckhardt. Dem Studium folgten Bildungsreisen nach Frankreich und Italien sowie Broterwerbe als Journalist, Kunstschriftsteller und Lehrer.

1855 wurde Burckhardt auf eine Professur nach Zürich berufen, drei Jahre später wechselte er an die Universität Basel, wo er für den Rest seines Lebens als Professor für Geschichte und Kunstgeschichte tätig war. Und mehr als das, so darf man vermuten, hätte die Nachwelt von den Lebensumständen dieses Schweizer Gelehrten eigentlich nicht erfahren sollen.

Immense Sachkenntnis

Auch in seinen Forschungen vermied Burckhardt das bloß Biographische. Er war zwar durchaus geneigt, Kunstwerke als Leistungen bedeutender Individuen zu würdigen, doch stellte er seine Betrachtungen stets in größere kulturhistorische Zusammenhänge. Vom "Käs der Künstlergeschichte", wie er selbst es genannt hat, hielt er nicht viel.

Die Monographie, die er dem Werk eines einzelnen Künstlers gewidmet hat, trägt den Titel "Erinnerungen aus Rubens" - wobei es sich fragt, ob das wie ein Reisebericht erscheinen soll (analog zu "aus Griechenland") oder ob man sich diese "Erinnerungen aus Rubens" vorzustellen hätte wie Souvenirs "aus" Holz oder Glas. Jedenfalls kündigt der Rätseltitel keine Biographie des Barockmalers Peter Paul Rubens an, sondern vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit dessen Malerei.

Burckhardt, der von den Zeitgenossen für seine immense Sachkenntnis bewundert wurde, ging immer von Einzelheiten aus, die er dann behutsam verallgemeinerte. So entstanden zunächst zahlreiche Detailstudien, dann so groß angelegte Epochengemälde wie die 1860 erschienene Monographie "Die Cultur der Renaissance in Italien". Stolz las das Bürgertum des 19. Jahrhunderts diese Geschichte der beginnenden Neuzeit als seine eigene Vorgeschichte; heute gilt das Renaissance-Werk als Pionierleistung der Kulturgeschichte.

Ein anderes Erfolgsbuch Burckhardts war "Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens", erstmals erschienen 1855. Burckhardt erweist sich in diesem Kunstführer als Meister der Beschreibung. Schon die Eröffnungssätze des "Cicerone" zeigen ihn auf der Höhe seiner literarischen Möglichkeiten.

Der Poseidontempel in Paestum wird in wenigen Strichen sichtbar hingestellt und zugleich im historisch-mythologischen Zusammenhang gedeutet: "Von den drei erhaltenen Tempeln der alten Poseidonia sucht das Auge sehnsüchtig den größten, mittlern. Es ist Poseidons Heiligtum; durch die offenen Trümmerhallen schimmert von fern das blaue Meer. Ein Unterbau von drei Stufen hebt das Haus des Gottes über die Fläche empor. Es sind Stufen für mehr als menschliche Schritte."

Dieser Prosastil gehört bis heute zu Burckhardts unbestreitbaren Qualitäten. Seine Forschungen und Erkenntnisse mögen in vielem veraltet sein, auch teilte er manche Vorurteile und Überheblichkeiten seiner Zeit und seiner Gesellschaftsschicht: In seinen Briefen finden sich gelegentlich antisemitische Bemerkungen, und dass er die "Negervölker" zu den "geringern Rassen" zählt, ist in seinem späten Hauptwerk, "Weltgeschichtliche Betrachtungen", nachzulesen. Trotzdem könnte sich die heutige Kulturwissenschaft Burckhardts Wissenschaftssprache noch zum Vorbild nehmen: schnörkellos, durchdacht, anschaulich und zugleich von einer großen inneren Anteilnahme getragen, die sich hier vor allem im ganz und gar unwissenschaftlichen "sehnsüchtigen Auge" zu erkennen gibt.

Zorniges Auge

Das Auge kann sich jedoch auch in ein zorniges verwandeln. Burckhardt gestand sich und jedem Kunstliebhaber das Recht zu, selbst bedeutendste Kunstwerke bei Nichtgefallen abzulehnen.

Er war zum Beispiel ein erklärter Gegner Rembrandts. Als geübter Kenner erkannte er durchaus Rembrandts Qualität als Gestalter von Lichtverhältnissen. Er äußerte aber mehrmals den Verdacht, diese virtuose Hell-Dunkel-Regie diene auch dazu, zeichnerische Schwächen bei der Darstellung menschlicher Körper zu kaschieren.

Bei einem Besuch in Dresden notierte er angesichts eines berühmten Gemäldes: "Rembrandt und seine Frau, das enorm überschätzte Bild. Wo ist sein zweiter Schenkel? Auf was sitzt sie? Wo ist ihr Hinterer? Was würde für eine Gestalt daraus werden, wenn sie aufstände?"

Ein Bild, das auf solch simple Fragen keine befriedigenden malerischen Antworten gibt, gehört für Burckhardt nicht zur allerersten malerischen Klasse, da können die Gelehrten reden, so viel sie wollen. Im Schönen wie im Abstoßenden beharrt er auf der Evidenz seines subjektiven Eindrucks, und er ist sich durchaus bewusst, dass er dabei nicht wie ein Wissenschafter vorgeht, sondern wie ein "Erzdilettant" - so hat er sich selbst genannt.

Berühmte Schüler

In seinen späten Jahren beschränkte sich Burckhardts Wirken auf Vorträge in Basel und auf briefliche Mitteilungen an Schüler und Freunde. Zwei dieser Schüler sind selbst berühmt geworden: der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin, der eine Zeit lang als Nachfolger Burckhardts in Basel tätig war; und der Philosoph Friedrich Nietzsche, der als junger Dozent in Basel Burckhardts Vorlesungen besucht hatte und zeitlebens eine sehr hohe Meinung von dessen Gelehrsamkeit und Denkkraft behielt.

Dass Nietzsche jedoch schroffere Wege ging als der bedächtige Lehrer und Kollege, zeigte sich spätestens in einem sogenannten "Wahnsinnszettel", den Nietzsche 1889, kurz vor seinem psychischen Kollaps, an Burckhardt schickte: "Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen." Es ist bekannt, dass Burckhardt dieses hochfahrende Schreiben mit tiefer Beunruhigung aufgenommen hat.

Jacob Burckhardt hat nicht an eine Veröffentlichung seiner Basler Vorlesungen gedacht. Erst nach seinem Tod wurden alle verfügbaren Manuskripte gesammelt. Zur Zeit entsteht eine 29-bändige kritische Werkausgabe, die von den Verlagen C. H. Beck und Schwabe (Basel) besorgt wird.

Das bedeutendste Werk aus dem Nachlass ist nun zum 200. Geburtstag seines Verfassers bei Beck wieder aufgelegt worden. Sein Titel "Weltgeschichtliche Betrachtungen", der an Nietzsches "Unzeitgemäße Betrachtungen" erinnert, stammt nicht von Burckhardt, ebenso wenig ist der Text von ihm in die vorliegende Form gebracht worden. Jakob Oeri, ein Neffe Burckhardts, komprimierte 1905 mehrere Vorlesungsmanuskripte zu einem knappen Text, der seither von Burckhardt-Lesern hoch geschätzt wird.

Diese "Betrachtungen" sind ein bilderreiches Gedankenbuch, dessen beste Einsichten in beiläufigen Aperçus versteckt sind, und das sich folglich nicht leicht auf den Begriff bringen lässt. Grob gesprochen, entwirft Burckhardt ein Modell vom Geschichtsverlauf: Das dynamische Wechselverhältnis der drei "Potenzen" Reli-gion, Staat und Kultur bewirkt in seiner Sicht die immerwährende historische Veränderung. Die Ökonomie, die Karl Marx, der andere Mai-Geborene des Jahres 1818, als Motor des Wandels verstanden hat, wird vom Kulturhistoriker Burckhardt in der Potenz "Kultur" mitgedacht - oder, wie eine seiner schönen Vokabeln heißt: "subintelligiert".

Theorien-Skepsis

Es entspricht Burckhardts Neigung zum Herunterspielen, dass er diese Gedanken ausdrücklich nicht als "Geschichtsphilosophie" versteht, obwohl sie genau das sind. Im Unterschied zu Marx und vielen anderen glaubt Burckhardt allerdings nicht daran, dass dem Verlauf der Geschichte eine gesetzmäßige Rationalität innewohne, und dass die Geschichte ein Ziel habe. Alle Theorien über Ursprung und Ziel verweist er ins Reich der Spekulation, und der Vorstellung eines Menschheitsfortschritts vom Schlechten über das Bessere zum Guten begegnet er mit der Skepsis eines konservativen Kulturbürgers, der letztlich der Kunst mehr Wahrheitsfähigkeit zutraut als der Politik und der Geschichte.

Burckhardt beansprucht jedoch nicht, die unwiderlegliche Wahrheit über den Geschichtsverlauf gefunden zu haben. Für ihn bestimmen nicht die angewandten wissenschaftlichen Methoden den Wert eines Gedankens, sondern einzig die Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit des einzelnen Wissenschafters.

Diese Überzeugung führt dazu, dass Burckhardt, der von seiner Privatperson so wenig Aufhebens gemacht hat, in all seinen Schriften deutlich als ein Autor mit eigener Stimme vernehmbar ist. Warum? Das erklärt er selbst in zitierfähiger Präzision: "Übrigens ist jede Methode bestreitbar und keine allgültig. Jedes betrachtende Individuum kommt auf seinen Wegen, die zugleich sein geistiger Lebensweg sein mögen, auf das riesige Thema zu und mag dann diesem Wege gemäß seine Methode bilden."

Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Herausgegeben von Jakob Oeri. Mit einem Nachwort von Jürgen Osterhammel. C. H. Beck Verlag, München 2018, 301 Seiten.

Jacob Burckhardt: Die Kunst der Betrachtung. Aufsätze und Vorträge. Herausgegeben von Henning Ritter. DuMont Verlag, Köln 2006, 468 Seiten.

Hermann Schlösser war Redakteur des "extra" der "Wiener Zeitung" bis April 2018.