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Zeit der Imperien

Von Hans-Heinrich Nolte

Reflexionen
Der Konstantinsbogen in Rom als Erinnerung an das Imperium Romanum. Doch heute ist die Zeit der Imperien vorbei.

Ein Rückblick auf die dreitausendjährige Geschichte der Weltreiche - samt nüchterner Würdigung ihrer Leistungen.


Im ersten Jahrtausend vor Christus, zusammen mit vielen Weltreligionen und in der Periode, die Karl Jaspers Achsenzeit genannt hat, entstanden die ersten Imperien der Assyrer und Babylonier. Die Jahrtausende danach wurden von Imperien gestaltet - Persien, Alexander und die Diadochen, China, Rom, Dschingis Khan und die Osmanen, das britische Empire, um nur einige zu nennen. Heute allerdings sind sie verschwunden. Doch sie wirken fort.

Die gegenwärtigen Grenzen Chinas stammen aus den Siegen der Mandschu über die Tibeter, und die heutigen Grenzen des Irak aus den Niederlagen der Perser gegen Istanbul; einige der kulturellen Wurzeln Spaniens, Frankreichs, Italiens und sogar Rumäniens liegen in Rom, und die Prägung der Länder östlich der zentralasiatischen Hochgebirge durch China führte u. a. zur Entstehung der Weltsprache Mandarin mit über einer Milliarde Sprechern.

Die Durchsetzung der Weltsprache Englisch mit über einer halben Milliarde Sprechern wiederum geht auf die Siege des Britischen Empires zurück - und auf jene seines republikanischen Bruders, die USA. Was leisteten nun die Imperien, warum waren sie so erfolgreich? Und warum wurde die Institution im 20. Jahrhundert so entschieden bekämpft, dass die Bezeichnung zu einem Schimpfwort wurde?

Kaiserreich China

Die klassische chinesische Historiographie hat eine Antwort auf die Frage nach den Funktionen. Die großen Erfindungen der frühen Jahrtausende - etwa Jagd und Landwirtschaft, Handel und die Schrift - wurden kulturellen Heroen zugeordnet. Die großen Religionsgründer des 6. und 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung wanderten zwischen den Königreichen des damaligen China - Konfuzius etwa wäre gerne irgendwo Minister geworden, um seine von den Familien ausgehende Morallehre in der Politik zu erproben.

Im dritten Jahrhundert v. Chr. eroberte das westlichste der chinesischen Königreiche, Qin, die anderen und gründete 221 das Kaiserreich. Die Königreiche wurden abgeschafft und das gesamte Territorium in Regieringsbezirke aufgeteilt, deren Verwaltungschefs von der kaiserlichen Kanzlei ernannt wurden.

Maße, Münzen, Gewichte und Schrift wurden für das ganze Reich standardisiert. Auch die Geschichtsschreibung wurde normiert - Texte, welche lokale oder oppositionelle Themen behandelten, wurden vernichtet. Der Kaiser förderte die Expansion der Han-Chinesen in den Süden und fasste die vielen Wälle gegen nomadische Völker im Norden zur gemeinsamen Mauer zusammen. Die Funktionen des Imperiums waren also Vereinheitlichung der Normen, Förderung und Reglementierung der Wissenschaft, gemeinsame Abwehr im Norden und Ausbreitung im Süden.

Die Legitimation der Herrschaft war schamanistisch: die Aufgabe des Kaisers war es, die Brücke zwischen Himmel und Erde zu bauen. Der Kaiser pflügte die erste Furche, und die Kaiserin pflückte die ersten Blätter des Maulbeerbaums für die Seidenzucht. Die Riten sicherten für die Bauern die Fruchtbarkeit des Landes, und Missernten galten als Zeichen, dass der Kaiser mit dem Himmel nicht im Einklang war - was zu einem der vielen Bauernaufstände der Geschichte Chinas führen konnte.

Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Römischen Imperium fallen ins Auge. Schon die Republik hatte den Mittelmeerraum zu einem Staatengebilde vereint, hatte griechische Königreiche und gallische Stammesstaaten unterworfen. Die Ausdehnung der Latifundien auf Kosten der Bauern und der Machtanstieg einzelner Adelsfamilien wie der Julier oder der Pompei zerrissen Rom jedoch in langen Bürgerkriegen. Die riesigen zu Rom gehörenden Territorien von Frankreich bis Anatolien ließen sich mit den Institutionen eines Stadtstaats nicht länger regieren.

Imperium Romanum

Im größten erhaltenen Egodokument der Antike, der Gedenktafel aus Ankara, rühmte Augustus sich, dass er Ägypten erworben, seine Veteranen in Kolonien angesiedelt und aus eigenen Mitteln Tempel gebaut habe. Er berichtete, dass der Senat ihn zum "Vater des Vaterlandes" ernannte und ihm ein Imperium nach dem anderen gab. Es deutet sich schon an, dass aus Imperium als Befehlsgewalt das Territorium wird - aber Augustus selbst lässt sich immer wieder in das Amt des Imperators wählen. Schließlich wurde sein Name und der seines Vaters zum Titel - Caesar, Augustus.

Er legitimierte seine Herrschaft, indem er den Bürgerkrieg für beendet erklärte und die "Pax Augusta" ausrief. Stolz berichtete er, dass er den "äußeren Völkern" die Grenzen gezeigt habe. Das tat er mit dem Aufbau einer langen Grenzbefestigung, dem Limes, welcher wirklich half, die "Barbaren" über drei Jahrhunderte lang fernzuhalten. Grenzbefestigungen bäuerlicher gegen mobilere Gesellschaften, wie sie Rom und China (aber später auch Russland und Österreich) erbauten, bildeten eine grundlegende Legitimation dieser Imperien: Schutz vor Raub und Vernichtung.

Die Chinesische Mauer, imperialer Abwehrwall gegen die Nomaden im Norden.
© Ahazan / Wikimedia gemeinfrei

Aber trotz der Mauern wurden sowohl das Römische als auch das Chinesische Reich von wandernden Stämmen erobert. Wahrscheinlich waren sie in beiden Fällen angetrieben von demselben Steppenvolk aus Zentralasien, den Hunnen. Beide Imperien zerfielen in Königreiche, die von den Migranten auf altem Reichsboden errichtet wurden, wie den Königreichen der Goten in Italien und Spanien oder dem Reich Khitan im heutigen Nordchina.

Während es jedoch in China unter der Dynastie der Tang gelang, das Imperium wieder herzustellen und sogar die Seidenstraße bis Zentralasien zu beherrschen, um den Export zu sichern, misslang die Renovatio Imperii Roms. Islamische Mächte eroberten die gesamte Südküste des Mittelmeeres und insbesondere Ägypten, die Kornkammer Roms und Konstantinopels, und in Westeuropa setzten sich Königreiche durch. Arabische Heere haben auch die Chinesen besiegt, 851 am Fluss Talas, aber das hatte diese nur zum Rückzug aus Turkestan gezwungen.

Die Idee der Wiederherstellung des Römischen Reiches wurde jedoch von der Kirche weitergetragen, und sie fand in dem Frankenkönig Karl einen neuen Imperator. Warum ließen die fränkischen Eliten sich auf dieses Programm ein, obgleich sie nur einen kleinen Teil des alten Westens kontrollierten? Das ist ohne Religion nicht zu erklären.

Die frühen fränkischen Könige hatten noch mit schamanistischem Heil regiert: nur wenn sie über das Land fuhren, so glaubten die Bauern, gab es gute Ernten und gedieh der Staat. Wenn die Karolinger ohne das Königsheil regieren wollten, brauchten sie nicht nur den Segen, sondern auch die Konzepte der Kirche. Seit dem Heiligen Augustin glaubte man, dass die Goten das Römische Reich eben nicht zerstört hätten; dass dieses vielmehr entsprechend dem Traum des Daniel das letzte irdische Reich sei, bei dessen Ende Christus wieder auf der Erde erscheinen werde. Da das Ende des Römischen Reichs auch das Ende der Welt sein würde, musste es immer wieder "erneuert" werden.

Als die Karolinger daran scheiterten, dieses auf den Abgaben der Bauern beruhende neue Reich zwischen Elbe und Atlantik gegen die nächsten Nomaden zu verteidigen - diesmal waren es die Ungarn -, übernahmen die Ottonen das Programm der Renovatio Imperii. Dabei verfügten sie weder über eine etablierte Verwaltung noch über eine einheitliche gebildete Elite - manche Kaiser konnten nicht einmal selbst lesen.

Der Versuch Ottos des Großen, Verwandte mit der Verwaltung der Teile zu betrauen, misslang kläglich, da viele dies als Aufforderung verstanden, eine eigene Herrschaft zu gründen. Doch Otto besiegte die heidnischen Ungarn und stellte das Imperium wieder her, wenn auch nur von der Schelde bis Rom: gestützt auf die Kirche, welche damals im Westen allein über eine Schicht von Gebildeten verfügte. Der Kaiser schenkte also den Bischöfen und Erzbischöfen Länder und Güter, und er bestätigte die Stiftung des Landes zwischen Po und Tiber an den Papst - das war schon eine Schenkung der Karolinger, und die Kurie hatte sie scheingealtert und Kaiser Konstantin zugeschrieben.

Der Klerus gewann also für das Imperium eine zentrale Bedeutung, sowohl weil der Kaiser seine Beamten daher rekrutierte als auch, weil die Kaiser sie mit Reichsgut beschenkten, um den Stammesherzögen Pari zu bieten. Der Kaiser ging davon aus, dass er die Einsetzung der Bischöfe und Äbte beeinflussen, wenn nicht bestimmen konnte. Als gläubige - und das heißt fast immer: radikale - Christen dann diese Praxis als Simonie, als Sünde angriffen und nach einem Jahrhunderte dauernden Streit dem Kaiser den Zugriff auf die Kirchenämter tatsächlich weithin entzogen, war das eine Krise des Imperiums.

Zwar versuchten die Staufer nach dem Erbe Siziliens, auf der Basis ihres Besitzes die Einheit der christlichen Welt unter imperialer Führung aufrecht zu halten, aber sie scheiterten - am Widerstand Frankreichs sowie an jenem des Papstes, und auch daran, dass die Fürsten im Reich es schafften, Landesherren zu werden.

Christenheit als System

Die Christenheit ließ sich nicht vereinheitlichen, sondern wurde ein System von Mächten ganz unterschiedlicher Größe zwischen Polen und Aragon, dem Königreich beider Sizilien und Schottland. Das "Heilige Römische Reich" wurde ein Staat im Rahmen dieses Systems, und das Reichsgrundgesetz, die Goldene Bulle, verteilte die Wahl des Königs und Kaisers an sieben Kurfürsten - drei geistliche (Köln, Trier und Mainz) sowie vier weltliche (Pfalz, Böhmen, Sachsen und Brandenburg).

Die Christenheit wurde also ein System. So etwas hatte es schon mehrfach gegeben, zum Beispiel die tatarischen Chanate zwischen Krim und Sibirien im 15. Jahrhundert. Obwohl dieses Territorium nicht nur durch Außenhandelsinteressen, sondern auch eine gemeinsame Herscherdynastie - die Nachfahren Dschingis-Khans - zusammengehalten wurde, ereilte es das Schicksal vieler anderer - es wurde zwischen dem aufsteigenden Nationalstaat Russland und dem Osmanischen Imperium aufgeteilt, weil es seine Mittel nicht vereint einsetzen konnte.

Die Osmanen waren nahe daran, dieses Ende auch dem System Christenheit zu bereiten. Es war durch die gemeinsame Kirche, die lateinische Bildungssprache, den freien Zugang zu den Universitäten zwischen Paris und Prag, aber auch durch eine Tradition von Beratung der Mächte zusammengehalten. So war man beispielsweise gewohnt, Expansionen abzusprechen - von der Partitio Romana, der Aufteilung des Oströmischen Reichs zwischen den Teilnehmern im 4. Kreuzzug 1204 bis zur Aufteilung der Neuen Welt zwischen Portugal und Kastilien im Vertrag von Tordesillas.

Vom 14. Jahrhundert an drangen die Heere des Osmanischen Imperiums trotzdem in Südosteuropa vor, 1526 vernichteten die türkische Artillerie und Infanterie die ungarische Reiterei in der Schlacht bei Mohacz, und die Türken standen vor Wien.

Konzert der Mächte

Aber das System verteidigte sich gegen das Imperium, und die Konkurrenz zwischen den Staaten, die dauernde Kompetenzakkumulation, der Kampf um die Hegemonie und die erfolgten Expansionen machten es zu einem Erfolgsmodell. Die Einbeziehung der protestantischen Mächte förderte die Säkularisierung der Politik (1648), und aus der Christenheit wurde Europa. Wer jetzt noch Imperium sein wollte westlich des Ural, musste sich an das Konzert der Mächte anpassen - wie Russland unter Peter dem Großen, einige Jahrzehnte später Napoleon und schließlich auch Österreich, nachdem das ständische "Heilige Römische Reich" zwischen Frankreich und neuen Landesherren wie Bayern und Preußen aufgeteilt worden war.

Kolonialismus als Unterhaltung: ein historisches "British Empire"-Spiel.
© Archiv

Das 18. Jahrhundert war weltweit durch eine "Revolution des Fleißes" gekennzeichnet. Auf der Basis ihrer Manufakturen eroberten China unter den Mandschu die östliche Hälfte Zentralasiens, Österreich und Russland die westlichen Provinzen des Osmanischen Reichs und die Englische Ostindienkompanie das Mogulreich. Die Industrielle Revolution in England, welche die anderen Europäer schnell nachholten, vermehrte deren Machtmittel dann radikal - vor allem durch die Massenproduktion von Eisen, die genaueren sowie weiter schießenden Kanonen und den Einsatz der Dampfmaschine.

Die europäischen Staaten eroberten die Welt - wobei es auch jetzt neben der Konkurrenz viel Absprache gab -, und gründeten immer neue Imperien, wie man Nationalstaaten mit Kolonien jetzt nannte. Die gesamte Periode wurde zum "Imperialismus", in welcher der Welthandel von Europa kontrolliert und die globalen Migrationen der Europäer militärisch gegen den "Rest der Welt" erzwungen sowie als Kulturmissionen legitimiert wurden.

Die Politik im System wurde durch den Aufstieg der Nationalstaaten revolutioniert. Nationale Eliten riefen zum Widerstand gegen die alten Imperien, aber auch den neuen Imperialismus auf. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden das Osmanische, Russische und das Österreich-Ungarische Imperium zerschlagen. Selbstverständlich wussten die Mächtigen des Friedens von Versailles, dass die vielen kleinen Nationalstaaten in Ostmitteleuropa den Großmächten nicht Parole bieten konnten und dass man eine Union brauchte, um die transnationalen Interessen zu sichern, von Handel und Wissenschaft über die Migrationen bis zum militärischen Gleichgewicht.

Die stärkste Macht aber, die USA, ohne deren Eingreifen die Mittelmächte gar nicht besiegt, die Imperien also gar nicht zerschlagen worden wären, zogen sich auf ihre Rolle als Nation zurück: Sie machten beim Völkerbund nicht mit und erließen rassistische Gesetze, welche Osteuropäer und Asiaten von der Einwanderung ausschlossen. Italien, Deutschland und Japan nutzten die Schwäche des internationalen Systems für Versuche, neue Imperien aufzubauen. Das deutsche "Dritte Reich" sollte auf der Basis von Genoziden an Juden und Roma sowie Massenmorden an Polen, Ukrainern, Russen und anderen errichtet werden.

Symbolisiert durch Auschwitz wurde Imperium, "Reich", endgültig zu einem Unwort, mit dem die schlimmsten Menschheitsverbrechen verbunden wurden. Die Nationen begaben sich 1945 erneut daran, eine globale Union aufzubauen, um Weltfrieden zu sichern, Welthandel und Weltfinanzen zu ordnen, globale Flüchtlingsströme zu organisieren und weltweite Informationskanäle zu sichern.

Imperien sind Institutionen von Herrschaft. Sie entsprechen der Weltgesellschaft schlechter als Nationen, wenn diese Partizipation bieten und Stabilität versprechen - wenn auch auf Kosten der anderen. In immer mehr Nationen ermöglichte der Anstieg der Einkommen Kämpfe um Emanzipation. Die Ausweitung des Wahlrechts wurde für alle Männer in einigen Staaten schon im 19. und für Frauen oft im 20. Jahrhundert erreicht.

Viele Frauen wurden ökonomisch selbstständig und benötigten keinen "pater familias" mehr. Entsprechend brauchten solche Gesellschaften auch keinen "Landesvater", und die Rolle jener Monarchien, die weiter bestanden, wurde auf "pomp and circumstance" beschränkt. Unionen von Nationen bieten heute bessere Möglichkeiten, transnationale Aufgaben zu erfüllen.

Zwar werden Großmächte wie die USA, Russland oder China gelegentlich als Imperien beschimpft, und manche "leiden" auch an "postimperialen" Traumata. Aber eigentlich ist die Zeit der Imperien vorbei - und damit der Moment gekommen, ihre Leistungen nüchterner zu würdigen. Sie haben in ihrer dreitausendjährigen Geschichte zu transnationaler Arbeitsteilung, zur Verbreitung von Weltreligionen und Weltmigrationen sowie nicht zuletzt zur Globalisierung der Wissenschaften bedeutend beigetragen.

Hans-Heinrich Nolte, geboren 1938 in Ulm, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hannover. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: "Kurze Geschichte der Imperien" (Böhlau, Wien 2017). Mitherausgeber der "Zeitschrift für Weltgeschichte".