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Zivilisation als Endstadium

Von Gerhard Lechner und Michael Schmölzer

Reflexionen
Kein Vertreter von "Multikulti": Oswald Spengler (1880-1936), Zeichnung von Rudolf Großmann, 1922.
© Abb.: gemeinfrei

100 Jahre nach Erscheinen erlebt Oswald Spenglers epochales Werk "Der Untergang des Abendlandes" eine Renaissance. Was fasziniert vor allem Konservative und Neue Rechte daran?


Es wurde während des Ersten Weltkrieges verfasst. Als es 1918 in einem ersten Band erschien, schlug es ein wie eine Bombe. Heute, 100 Jahre nach Erscheinen, erlebt Oswald Spenglers epochales Werk "Der Untergang des Abendlandes" eine Renaissance.

Anfang des 20. Jahrhunderts, nach dem vierjährigen blutigen Schlachten, stieß Spenglers pessimistische Untergangsprognose auf offene Ohren. Verschwunden war der liberale Fortschrittsoptimismus der Vorkriegszeit, als viele Europäer wie der deutsche Kaiser Wilhelm II. von "herrlichen Zeiten" träumten. Lange unlösbare sozialpolitische Probleme erschienen durch die rasanten Fortschritte in Wissenschaft und Technik plötzlich lösbar.

Die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung der Großmächte schien Kriege zwischen ihnen zu einem Anachronismus zu machen. Und auch die außereuropäische Welt sollte an die westliche Zivilisation herangeführt werden - eine Zivilisation, von der nicht nur der Reformer der Türkei, Kemal Atatürk, überzeugt war, dass sie die einzig mögliche darstellt, den Gipfelpunkt der Entwicklung. Dementsprechend linear war das Geschichtsbild der Vorkriegsepoche - und ist uns bis heute gut bekannt: Die Geschichte stellt eine Geschichte des Fortschritts dar, einer immer höheren Vervollkommnung, sozusagen von der Steinzeit in die Jetztzeit und weiter in eine helle Zukunft.

Kommunistische Gefahr

Spengler hat mit diesem Bild radikal gebrochen. Die Zeit hat einen Perspektivenwechsel notwendig gemacht: Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges hat das Zeitalter von Europas Herrlichkeit beendet und auch die Vorstellung einer steten Entwicklung nach oben - oder vorne - fragwürdig erscheinen lassen. Die Russische Revolution mit all ihren Verbrechen, die Errichtung von kommunistischen Räterepubliken in Ungarn und Bayern verstärkten die Angst vor der kommunistischen Gefahr.

Der Zusammenbruch Jahrhunderte alter Monarchien, die Emanzipation der Frau, das zunehmende Selbstbewusstsein außereuropäischer Kulturen, vor allem aber die Wirtschaftskrisen der 1920er Jahre führten zu einem Lebensgefühl der Krise, zu einer allgemeinen Orientierungslosigkeit. "Die konservativen Intellektuellen haben unter den Zeitumständen gelitten und sich nach der Schaffung einer alten Ordnung gesehnt", sagt der Grazer Philosoph und Spengler-Experte Peter Strasser zur "Wiener Zeitung".

Die Gegenwart wurde von ihnen als "inhaltsleere Zivilisation" begriffen. Strasser verweist auf das Gefühl der Ausweglosigkeit nach 1918, die unglaubliche Zerstrittenheit der Parteien, die sich auf nichts mehr einigen konnten. "Das alles ist tief in Spengler drinnen, auch die Demütigung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg".

Das Bild einer stetigen Entwicklung nach oben ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. Nun leuchtete Spenglers zyklisches, biologistisches Modell vielen ein, wonach Kulturen wie Pflanzen wachsen, blühen, verwelken und sterben; wonach es junge, hungrige und alte, müde Kulturen gibt. Seine Vision für die abendländische, westliche Kultur war dabei nicht rosig: Die "faustische Kultur" des Abendlandes, so Spengler, befinde sich im letzten Sta-
dium vor dem Tod - oder der "Vollendung", wie er es auch nannte: im Stadium der Zivilisation.

Zivilisation, das war für ihn eine Verfallsform einstmals blühender Kulturen. Das Zeitalter der Zivilisation ist - analog etwa zum alten Rom der Kaiserzeit - ein Zeitalter der Massen, des Plebs, von "Brot und Spielen", von wohlfahrtsstaatlicher Rundumversorgung auf dem Boden von ins Riesenhafte angewachsenen Weltstädten. Bändigen könne dieses Chaos letztlich nicht die demokratische Mitbestimmung des mündigen Bürgers, sondern nur ein "Cäsarismus" von Führernaturen, die sich - ganz im Gegensatz zu demokratisch gewählten Politikern - ihrer Verantwortung, nämlich zu herrschen, bewusst sind.

"Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie", heißt es in "Untergang des Abendlandes". Spengler plädiert sozusagen für den Primat der Politik vor einer sich globalisierenden Wirtschaft - den er aber nur gegen die Demokratie durchsetzen zu können glaubt, denn: "Die privaten Mächte der Wirtschaft wollen freie Bahn für ihre Eroberung großer Vermögen. Keine Gesetzgebung soll ihnen im Wege stehen. Sie wollen die Gesetze machen, in ihrem Interesse, und sie bedienen sich dazu ihres selbstgeschaffenen Werkzeugs, der Demokratie, der bezahlten Partei."

Nur "starke Geschlechter", die nicht im Anhäufen von Reichtümern, sondern "in den Aufgaben echten Herrschertums jenseits aller Geldvorteile" Befriedigung fänden, könnten diese Aufgabe durchführen.

Tiefsinnig & prophetisch

Kalt gelassen hat Spengler niemanden. 1918 habe er es "mit traumwandlerischer Sicherheit" geschafft, alle intellektuellen Gruppen anzusprechen, Linke wie Rechte, weiß Spengler-Experte Strasser. Seine Theorien wurden ebenso leidenschaftlich abgelehnt wie als "tiefsinnig und prophetisch" empfunden. "Die Rechten verfochten die Devise ,Vorwärts nach hinten‘, doch das wollte Spengler überhaupt nicht", gibt Strasser zu bedenken. "Er dachte, das Abendland sei am Ende, die Zivilisation sei ein Endstadium, jetzt kämen nur mehr technische Höchstleistungen."

Auch Robert Musil, für den Spengler ein "Dilettant" gewesen ist, habe sich seiner Faszination indes nicht ganz entziehen können. Genausowenig wie andere Geistesgrößen: "Das Gefühl der Entartung der Zivilisation hatten ja alle: Von Karl Kraus bis Spengler. Auch Ludwig Wittgenstein hat so gedacht. Das waren alles elitäre Leute, denen graute vor der Massendemokratie, vor der Verflachung durch Massenmedien. Die Idee des Fortschritts war ihnen ein Anliegen, aber andererseits auch tief verdächtig. Es gab das Gefühl: die Tiefe fehlt uns. Der Pöbel wird den Aufstand machen - und putzt dann unsere Kultur weg." Auch Thomas Mann applaudierte Spengler zunächst. "Thomas Mann sagte: Dem deutschen Wesen entspricht die Demokratie nicht".

Hatte Untergangsprophet Spengler das Ende der Weimarer Republik und den Aufstieg Hitlers mitzuverantworten? Hier ist Strasser vorsichtig: "Spengler glaubte in Hitler und Mussolini zunächst diese neuen Cäsaren- und Führertypen zu sehen". An Hitler hätten ihn aber zwei Sachen gestört: "Das eine war der Antisemitismus, den nennt Spengler plebejisch. Und es hat ihn gestört, dass sich Hitler als Führer einer Partei verstanden hat. Spengler wurde dann von den Nazis totgeschwiegen."

Heute sei eine veritable "Spengler-Renaissance" feststellbar, sagt Strasser. "Das hat aber weniger mit den Thesen zu tun, die er wirklich verficht, als damit, dass er Demokratie und Liberalismus ablehnt. Dass er alles, was wir als liberale Demokraten schätzen, nicht will. Es ist ein Muster der konservativen Revolution, das jetzt bei der sogenannten Neuen Rechten großen Anklang findet", so Strasser unter Verweis auf Pegida, die deutsche AfD und den französischen Front National.

Spengler sei in diesen Kreisen "ein ganz wichtiger Anhaltspunkt, weil er die antidemokratischen Tendenzen damit rechtfertigt, dass die Demokratie kulturlos ist." Sie führe in den Untergang, ins Nichts.

In der friedlichen Wohlstandszeit nach dem Zweiten Weltkrieg ließ das Interesse an Spengler nach. Mitte der 1990er Jahre aber sprach der US-Politologe Samuel Huntington, Spengler nicht unähnlich, von einem kommenden "Zusammenprall der Zivilisationen". Spätestens mit den Anschlägen von 11. September 2001 und den folgenden islamistischen Attentaten in Europa stiegen auch Spenglers "Aktien" als Prophet wieder. Die Einwanderungswelle des Jahres 2015 löste bei manchen Beobachtern Assoziationen an das Ende des Römischen Reiches aus, das ebenfalls mit einer Fluchtbewegung begann.

Der Althistoriker David Engels wiederum sieht - ganz an Spengler angelehnt - in seinem Bestseller die EU "Auf dem Weg ins Imperium", und spricht davon, dass Europa in 20 bis 30 Jahren ein autoritärer oder imperialer Staat geworden sein wird - nach einer Phase bürgerkriegsähnlicher Zustände und Verfallserscheinungen.

Das Motiv, das Europa "von Horden aus Afrika und Asien überrannt wird", also ein Bild, das dieser Tage in der Diskussion über die Flüchtlingsproblematik bemüht wird, findet sich laut Strasser bei Spengler nicht, aber: "Was mit Spengler einhergeht, ist die Vorstellung, dass eine Kultur mit fortschreitendem Alter zur Zivilisation und dann von anderen, stärkeren Kulturen überrollt wird. Dafür bringt Spengler Beispiele aus der Geschichte, und ich nehme an, dass das ein Motiv ist, das auch die Neue Rechte interessiert: Die abendländische Kultur ist vergreist, deshalb werden andere Kulturen, die vitaler sind, diese abendländische Kultur überrennen."

Früher Ökologe

Multikulti ist bei Spengler jedenfalls nicht drin. "Das wird kriegerisch gelöst: Eine neue Kultur setzt sich auf die alte drauf, übernimmt ihre Vorteile, ihre Ideen, die Technik und macht dann alles besser", spannt Strasser einen Bogen zum aktuellen Aufstieg Chinas.

Spenglers Formulierungen klingen zwar gestrig, seine Fragestellungen sind aber oft erstaunlich gegenwartsbezogen. Der Machtkampf zwischen Politik und Wirtschaft etwa ist im Zeitalter der Globalisierung aktueller als in den 1920er Jahren. In seinem Buch "Der Mensch und die Technik" spricht Spengler von der "Tragik" der Folgen der technischen Umwandlung der Welt, vom Verschwinden der großen Wälder, der Ausrottung ganzer Tierarten - und auch schon von Veränderungen des Klimas.

Konservative und Rechte, die sich wieder vermehrt mit Spengler beschäftigen, interessieren aber vor allem dessen düstere
Visionen von einer "farbigen Weltrevolution", vom Aufstand der farbigen Welt gegen die Weißen. Spengler sah in den Wirtschaftskrisen der 1920er und 1930er Jahre bereits Anzeichen für ein Überflüssigwerden der "weißen Arbeit" - aufgrund der niedrigeren Löhne in den farbigen Ländern.

Hat Spengler also Recht gehabt, hat er sich als weitsichtig erwiesen? Strassers Antwort: "Wenn man die Perspektive der liberalen Demokratie einnimmt, dann ist alles, was Spengler sagt, falsch. Wir haben eine Verfassung, die das Prinzip einer Gleichheit aller Menschen kennt. Wir haben Grundrechte, Freiheitsrechte, einen starken Sozialstaat. Wir haben eine Gewaltenteilung, leben in einem liberalen Rechtsstaat, in einer pluralistischen Demokratie. Alles das lehnt Spengler ab."

Spengler eigne sich immer gut, um Zivilisations-, Demokratie- und EU-Verdrossenheit "aufzumascherln", meint Strasser. "Er wird benützt, ohne Recht gehabt zu haben. Das ist der entscheidende Punkt."