Zum Hauptinhalt springen

Gestörte Blicke

Von Thomas Hofmann

Reflexionen
Ab 1907 von einem Museumsbau bedroht: Die Karlskirche (hier im Jahr 1913).

Die freie Sicht auf die (und in der) Stadt war den Wienern schon immer wichtig. Eine historische Betrachtung abseits von "Canaletto".


Die legendären Worte Franz Grillparzers - "Hast du vom Kahlenberg das Land dir rings besehn, so wirst du, was ich schrieb und was ich bin, verstehn" - verlieren nie an Aktualität. Täglich ändert sich der Blick vom Kahlenberg ein klein wenig. Täglich wird irgendwo etwas abgerissen, täglich sprießt da oder dort ein Bauwerk in die Höhe.

Freilich, zu Grillparzers Zeiten - der Schriftsteller verstarb am 21. Jänner 1872 - waren die Änderungen im Weichbild der Stadt noch überschaubar. Im wahrsten Sinn des Wortes. Damals waren es fast ausschließlich Kirchtürme, die aus dem Häusermeer ragten und zur Orientierung dienten. Das hatte auch der kritische "Kikeriki", ein humoristisches Wochenblatt, erkannt:

"Wenn man Wien von einer Anhöhe betrachtet, so bemerkt man auf den ersten Blick, daß in Wien auf das religiöse Bedürfniß besonders Rücksicht genommen, und daß wahrhaftig an Kirchen kein Mangel ist. So religiös nun auch der Gedanke sein mag, neue Kirchen zu bauen, erlaubt sich Kikeriki doch darauf hinzuweisen, - welchen Weg die Krankenträger oft zurücklegen müssen, um in ein Spital zu gelangen. Nachdem nun die Barmherzigkeit auch eine religiöse Pflicht und in unseren Kirchen noch Platz für Hunderttausende von Frommen erübrigt, während im Allgemeinen Krankenhause kein Raum für Kranke mehr Vorhanden sein soll - fragt Kikeriki nochmals: Was brauchen wir jetzt nothwendiger: Neue Kirchen oder neue Spitäler?" (1. Februar 1866).

Orientierungspunkte

Aber seit am 29. August 1872 die Kuppel der Rotunde auf ihre endgültige Höhe in 84 Metern gehievt worden war, hatte Wien eine neue, weltliche Landmarke. Sie sollte bis zum 17. September 1937 bestehen, als sie ein Raub der Flammen wurde. Ab November 1932 besaß Wien mit dem Hochhaus in der Herrengasse einen weiteren, profanen Orientierungspunkt.

Ob der Blick vom Kahlenberg oder der Blick vom Belvedere auf Wien, jener legendäre "Canaletto-Blick", der heute wieder für heiße Diskussionen sorgt, der Blick auf die Stadt oder auch nur auf einzelne Gebäude - das warvielen Wienern jedenfalls ein Anliegen. Kopfschüttelnd betrachten wir einige Fälle, die - weil heute ohnehin schon alles verbaut ist und wir die Orte der Erregung gar nicht anders kennen - einst für Entrüstung sorgten.

Bleiben wir noch bei den humoristischen Wochenblättern. Der "Figaro" war eines dieser leider längst ausgestorbenen Medien. Doch zu seinen Lebzeiten hatte er auch "Nützliche Vorschläge" parat und stellt im Juni 1860 die nicht unberechtigte Frage: "Warum läßt man ferner den schönen grünen Höhenzug vom Kahlenberg bis gegen Hütteldorf so unerquicklich für das Auge des Beschauers durch den Steinbruch bei Sievering unterbrochen werden? Könnte man diesen Steinbruch nicht hinter die Berge verlegen und an dessen Stelle einen kleinen Park mit Seen u. dgl. anlegen?"

Freilich hätte man das beleidigte Auge schon damals durch Rekultivierung versöhnlich stimmen und die Steine auch auf der nördlichen Seite des Höhenzuges gewinnen können. Doch auf der Sieveringer Seite waren sie allemal näher. Dies war nicht unwichtig, denn der Bedarf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war enorm. Otto Wagner realisierte seine großen Infrastrukturprojekte, die Stadtbahn und die Regulierung des Wienflusses, mit riesigen Blöcken aus Flysch-Sandsteinen der Wienerwald-Steinbrüche. Neben den Sieveringer Brüchen bediente er sich auch bei den Brüchen im Rosental oder im Halterbachtal in Hütteldorf.

Aus dem See in Sievering wurde nichts, stattdessen erklärte man 1997 die stillgelegten Sieveringer Steinbrüche per Bescheid zum Naturdenkmal. Man könnte sagen, dass sie postum geadelt wurden. Da bei Naturdenkmälern ohnehin alles Tabu ist, wachsen sie schön langsam zu - die Hoffnung auf "den schönen grünen Höhenzug vom Kahlenberg bis gegen Hütteldorf" lebt also, sprich: sie wächst Jahr für Jahr. Wer einen See sehen will, wird im Rosental fündig. Zwei winzige Gewässer, der Silbersee und ein Teich im Dehnepark, stoßen vor allem bei Fröschen und Kröten auf breiteste Akzeptanz. So gesehen wurde dem Wunsch des "Figaro" doch noch Rechnung getragen.

Doch zurück von der Peripherie der Vororte zu den wachsenden Vorstädten. Just an der gemeinsamen Grenze beider, dem heutigen Gürtel (eigentlich wäre Demarkationslinie der bessere Ausdruck, da sich hier einst der Linienwall befand), errichtete Otto Wagner eines der größten Projekte: die eben erwähnte Stadtbahn, also die heutige U4 bzw. U6.

Bereits 1852 - also fünf Jahre vor dem Befehl zum Abriss der Wiener Stadtmauer - gab es erste Ideen für eine "Wiener Stadteisenbahn". Es sollte aber noch 40 Jahre dauern, ehe man von 1892 bis 1898 die Gürtel- und auch die Vorortelinie baute. Da wie dort führen deren Trassen mal über, mal unter dem Niveau der Straße, stellenweise sogar in echten Tunnels unter der Erde. Besonders spürbar ist dieser Wechsel der Trasse entlang des Gürtels, an der heutigen U6.

Hoch- oder Tieflage

Sorgte 1896 für Aufregung: Eine Bürgerinitative wollte die Stadtbahn in Tieflage, um die Ansicht auf die Breitenfelder Kirche (hier in heutiger Sicht) nicht zu gefährden.
© Thomas Hofmann

Hoch- oder Tieflage, oben oder unten, Ausblick oder Tunnelblick, diese Fragen ließen damals niemanden kalt. Konkret ging es 1896 um den Blick zur Breitenfelder Kirche am inneren Gürtel. Am 9. Mai 1894 wurde der Grundstein zum Gotteshaus gelegt. Mehr als vier Jahre später erfolgte dessen Weihe (hl. Franz v. Assisi). Mittendrin, im April 1896, machte eine Hernalser Bürgerinitiative von sich hören. Sie forderte die "Freihaltung des Platzes vor der neuen im Bau befindlichen Breitenfelder Kirche" ("Reichspost", 10. April 1896). Konkret wollte man den Bau der Wiener Stadtbahn stoppen und am Hernalser Gürtel statt der Hoch- eine Tieflage erwirken.

Dazu hatte Oberingenieur Waldvogel eigens einen Plan entworfen. Und der renommierte Ingenieur- und Architektenverein empfahl dem Ministerium, eine Tieferlegung der Trasse in Erwägung zu ziehen. Das Ressort gestand zwar ein, dass diese Variante prinzipiell machbar sei, aber da die Durchführung eine "nicht unwesentliche Vertheuerung und auch eine namhafte Verzögerung" - so die Antwort des Eisenbahnministers - mit sich gebracht hätte, blieb alles beim Alten. Was das bedeutete, haben wir heute vor Augen. Doch den freien Breitenfelder Kirchenblick scheint in unseren Tagen niemand zu vermissen.

Keine zwanzig Jahre später ging es wieder um die drohende Verbauung eines freien Blicks auf eine andere Kirche. Diesmal waren die Ausmaße der Erregung und die Geschütze, die dagegen aufgefahren wurden, bedeutend größer. Es ging nicht um irgendeine Kirche am Gürtel, sondern um die barocke Kirche der Stadt: Der Blick auf die Karlskirche war gefährdet. Kaiser Karl VI. hatte sie bei Johann Bernhard Fischer von Erlach in Auftrag gegeben. Das 1739 vollendete Gotteshaus war 1907 von einem Museumsbau bedroht. Der Platz links von der Karlskirche sollte mit einem zu errichtenden städtischen Museum verbaut werden.

Zunächst zum Museum: 1887 war das Historische Museum der Stadt Wien gegründet worden, die Sammlungen befanden sich im 1883 vollendeten Rathaus. Da es dort bald zu eng wurde, beschloss der Stadtsenat 1895 einen Neubau. Namhafte Architekten wie Friedrich Ohmann und Otto Wagner legten wohl ausgefeilte Entwürfe vor, die alle nicht vollendet wurden.

Es spießte sich an der Wahl des Bauplatzes neben der Karlskirche. Dann kam der Erste Weltkrieg. In der mageren Zwischenkriegszeit überlegte man, das Museum im Palais Coburg, im Palais Auersperg oder im Alten Rathaus unterzubringen. Während des Zweiten Weltkrieges hatte man andere Sorgen, sodass erst in den 1950er Jahren der Bau von Oswald Haerdtl entstand, den wir als Wien Museum kennen.

Petition gegen Museum

Wenden wir uns der Standortdebatte im Dezember 1907 zu. Ein Personenkomitee um u. a. Hans Graf Wilczek, Großgrundbesitzer, Erbauer der Burg Kreuzenstein und Ehrenbürger der Stadt Wien, Gustav Jurie v. Lavandal, Generalchefarzt des souveränen Malteser Ritterordens, und Fürst Franz von und zu Liechtenstein legte Unterschriftenlisten auf. In der Kunsthandlung Artaria auf dem Kohlmarkt, in den Buchhandlungen Gerold (Stephansplatz), Braumüller (Graben) und Leo (Heinrichs-hof) konnte man folgende Peti-tion unterstützen:

"Die Unterzeichneten ersuchen den Bürgermeister und den Gemeinderat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, nicht zulassen zu wollen, daß an der für das neue Museum in Aussicht genommenen Stelle neben der Karlskirche überhaupt ein Bauwerk errichtet werde. Die Karlskirche, dieses herrliche Wahrzeichen Wiens, ist ursprünglich von den Erbauern als freistehend gedacht worden und daher nicht nur für den Blick von vorn, sondern auch für jenen von der Seite berechnet. Es wäre also eine schwere Versündigung gegen den Geist des Bauwerks und gegen den künstlerischen Ruf der Stadt Wien, wenn die einzige noch erhaltene Profilansicht der Kirche, die vom Schwarzenbergplatz aus, verschwände. Die Unterzeichneten sind überzeugt, daß es für den beabsichtigten Museumsbau selbst nur vorteilhaft wäre, wenn ein Platz gewählt würde, bei welchem der Architekt mehr Raum zur Verfügung hätte und in der vollen Entfaltung seiner Ideen nicht gehindert wäre, wir es auf dem Karlsplatz gerade mit Rücksicht auf die Kirche der Fall sein müßte."

Verhindert wurde der Museumsbau an dieser Stelle freilich nicht, lediglich verzögert. Vor gar nicht so langer Zeit gab es einen Wettbewerb für die Erweiterung des Wien Museums. Als Ende 2015 der Plan einer Aufstockung als Siegerprojekt hervorging, ließ im nächsten Jahr auch die benachbarte Zürich Kosmos Versicherung, deren schlichter Bürobau zwischen Karlskirche und Wien Museum steht, mit dem Plan einer Aufstockung aufhorchen. Sofort formierte sich im Internet die Plattform "rettetdie-karlskirche.at", die in wenigen Tagen hunderte Contra-Unterschriften gesammelt hatte.

Thomas Hofmann, geboren 1964, ist Leiter von Bibliothek, Verlag und Archiv der Geologischen Bundesanstalt in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen (geologische und regionale Themen). www.thomashofmann.at