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Geheime Verständigung

Von Otto Hausmann

Reflexionen
Gaunerzinken von heute - eine Zeichensprache mit schlimmen Folgen.
© Illustration: WZ/Philipp Aufner

Seit Jahrhunderten nutzen soziale Randgruppen einen eigenen Wort- und Zeichenschatz: Die Rätsel des Rotwelsch und der Gaunerzinken.


Wie jede Subkultur haben die Kriminellen bestimmte Erkennungszeichen und ihre eigene Sprache, das Rotwelsch, entwickelt. Nebenbei sei erwähnt, dass auch die "feinen Leute" mitunter Anleihen aus der Gaunersprache nehmen, wobei sie sich besonders originell und witzig vorkommen, wenngleich sie nicht selten auf die Unterschicht herabblicken.

Zum Thema Gaunerzeichen gibt es eine Reihe fundierter Publikationen: Wer sich mit kriminalistischen Fragen beschäftigt, stößt auf Hans Groß (1847-1915), den Vater der modernen Kriminologie, dessen zweibändiges Werk "Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik" mehrfach aufgelegt und in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt worden ist.

Auch das von ihm herausgegebene "Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik" (später "Archiv für Kriminologie") besteht seit mehr als hundert Jahren als angesehene Fachzeitschrift. Caesario Lombroso wiederum, dessen Spezialgebiet die Kriminalbiologie war, hat sich in seinem Hauptwerk "Der geborene Verbrecher" mit den Gaunerzinken befasst. Auch der Buchtitel "Bettlerzinken in den österreichischen Alpenländern" von H. Schukowitz sei genannt.

Das Wort "Zinke"

Unter Zinkenist nach H. Groß "jede geheime Verständigung zu verstehen, die jemand zur Belehrung oder Anweisung irgendwo an einem Haus, an einem Wegkreuz, auf Felsen, selbst im Sand oder Schnee für seinesgleichen anbringt". Zinken heißen aber auch Markierungen zum Zwecke des Falschspielens, man spricht von "gezinkten Karten". Früher wurden außerdem noch amtliche Stempel auf Ausweispapieren, Pässen, Urteilen, Vorladungen u.s.w. Zinken genannt. Nicht geklärt ist die Etymologie des Wortes. Nach Auffassung einiger Fachleute bedeutet Zinke nichts anderes als Spitze, Zacke (wie Zacke der Gabel), womit das Zackige des Zeichens zum Ausdruck kommen sollte. Mittelhochdeutsch bedeutete die Zinke die Fünf auf dem Würfel. Große Bedeutung hatten diese Zeichen für die Verständigung unter Verbrechern - auch in den Gefängnissen.

Während das Wort "Zinke" kaum älter als 200 Jahre ist, reichen die Zeichen selbst viel weiter zurück. Der Germanist Anton E. Schönbach hat die Annahme widerlegt, die Zeichen seien eine Eigentümlichkeit der "Zigeuner", die sie aus ihrer indischen Heimat mitgebracht hätten. Berthold von Regensburg wiederum, einer der größten Kanzelredner des Mittelalters, sagt, "der Teufel mache es so wie die Räuber, welche an den Wegen gewisse Zeichen anbringen, damit die Wanderer glauben, sie seien auf dem richtigen Weg, während sie durch diese Zeichen geradewegs zu den Höhlen der Räuber gelockt werden." Es gebe dieser Zeichen drei: gekreuzte Ästchen, zusammengelegte Sterne und verknüpfte Ruten oder Dornensträucher. Es sind also genau die drei Wegezeichen des fahrenden Volks, die vor gut einem halben Jahrtausend vermutlich allgemein gebräuchlich waren, während sie jetzt nur mehr bei sehr konservativen Mitgliedern der Gruppe erhalten sind.

In seinem Standardwerk hat Groß verschiedene Arten von Zinken genannt: graphische Zinken, Jad- und Kenzinken (Hand- bzw. Fingerzeichen, Anm.) und akustische Zinken. Die graphischen Zinken, die sicher die interessantesten sind, werden auf die alten Mordbrennerzeichen zurückgeführt: Diese dienten ursprünglich dazu, einer weitverzweigten Bande das Haus zu bezeichnen, das überfallen, ausgeraubt und allenfalls, nach Ermordung der Bewohner, niedergebrannt werden sollte.

Die Mordbrennerzeichen lassen sich mindestens bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Ihre starke Verbreitung erreichten sie während des Dreißigjährigen Krieges und danach. Noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts gab es eine blühende Raub- und Mordkriminalität, wie schon dem "Simplizissimus" zu entnehmen ist.

In den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts erlebten die Gaunerzinken eine Renaissance. Das mag mit dem vermehrten Auftreten von Bettlern, Hausierern, Zettelverteilern und anderen Bittstellern zusammenhängen, die speziell in den Großstädten von Tür zu Tür marschierten, um ihre Waren oder Ideen zu "verkaufen".

Das Rotwelsch

Oft werden nur ein oder mehrere Punkte neben die Namensschilder an Klingelanlagen gesetzt, manchmal auch Einzelbuchstaben oder Kreuzvarianten. Neben den Hausierern üben auch Einbrecher oder organisierte Banden ihr "Handwerk" mit Hilfe von Zinken aus. Abschließend sei noch auf die handschriftliche Sammlung des Amtsphysikus Kajetan Kormayr der Stadt Fraystadt (Freistadt/Mühlviertel) verwiesen. Er hat in den 1820er-40er Jahren 1700 Zinken zu Papier gebracht.

Wie die Zinken ist auch die Gaunersprache eine Lebensäußerung der Verbrecher, Vagabunden und Dirnen. Hans Groß hat "jedem Jünger der Justiz" geraten, sich mit dieser Sprache zu befassen, um einen besseren Zugang zur Subkultur der Kriminellen zu bekommen.

Der älteste Beleg für die Bezeichnung Rotwelsch soll sich in einem liturgischen Buch aus dem 13. Jahrhundert finden, wo darunter ganz allgemein geheime, arglistige Wörter verstanden werden. Das Wort "rot" weist eine tiefe Symbolik auf: Farbe des Blutes und Farbe der Revolution, es hat etwas mit Geheimnis und Umstürzlertum zu tun. Roter Bart und rote Haare galten dereinst als Zeichen der Falschheit; ihre Träger wurden als Betrüger abgestempelt, bzw. die Frauen als "Hexen" verfolgt und am Scheiterhaufen verbrannt. Das Wörterbuch der Brüder Grimm vertritt die Auffassung, dass rot mit "Rotte" zusammenhängt (Gruppe von wilden, bösgesinnten und verbrecherischen Leuten, die als Landstreicher, Fahrende oder Räuber herumziehen).

Die deutsche Gaunersprache, aus der viele Ausdrücke in die Wiener Gaunersprache eingeflossen sind - etwa Fleppe für Ausweis oder Polente für Polizei - hat seit je das Interesse all jener geweckt, die sich aus beruflichen Gründen oder aus wissenschaftlichem Interesse mit dem Milieu befassen. So hat etwa der deutsche Philologe Friedrich Kluge um 1900 eine Sammlung von Rotwelsch herausgegeben. Interesse an dieser Sprache zeigten auch der Dichter des Deutschlandliedes, Hoffmann von Fallersleben, der Heidelberger Dichter von Studentenliedern, Viktor von Scheffel, die Gebrüder Grimm, der Arzt Paracelsus - und der profilierte Wiener Kulturwissenschafter Roland Girtler, Autor von Büchern wie "Polizeialltag", "Randkulturen" oder "Rotwelsch".

Die Sprache der Ganoven und Fahrenden wird auch noch als das "Jenische" bezeichnet, womit die "kluge Sprache" gemeint war. Andere bildhafte Ausdrücke für die Gaunersprache sind u.a.: Schleifersprache, Spitzbubenlatein, Schinder-, Dirnen- oder Stromersprache (Stromer = Vagabund).

Der Konzipist der Polizeidirek-tion Wien, Albert Petrikovits, hat 1922 eine Broschüre über die Wiener Gauner-, Zuhälter- und Dirnensprache herausgegeben. Auch Ave- Lallement, Polizeipräsident von Lübeck und ein Stützpfeiler in der Entwicklung der Kriminologie zur selbstständigen Wissenschaft, hat mit seinem zweiteiligen Wörterbuch "Das deutsche Gaunertum" (1858) gute Arbeit geleistet.

"Konstanzer Hanß"

Fasziniert von der Rolle des Jiddischen in der Gaunersprache begann er, Jiddisch und Hebräisch zu studieren, um sich über beide Sprachen der Gaunerkultur nähern zu können. Zudem befasste er sich mit dem rabbinischen Schrifttum und der Kabbala und stellte fest, dass manche Gaunerzeichen auf kabbalistschen Methoden beruhen.

Rund 50 Jahre zuvor hat Jakob Schäffer, der als erfolgreichster Räuberfänger seiner Zeit und erster moderner Kriminalist Württembergs galt, großes Interesse an der Gaunerwelt und deren Sprache bekundet. Sein anonym erschienenes Buch "Abriß des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben" enthält eine soziologisch hochinteressante Typologie der Gauner und Bettler und gibt einen tiefen Einblick in deren Leben.

Schäffer hat als Oberamtmann die Erhebungen gegen den "Konstanzer Hanß" geführt, der als Räuberhauptmann Schwaben unsicher machte (vergleichbar dem legendären Räuberhauptmann Grasl, der im Waldviertel sein Unwesen trieb). Konstanzer Hanß gab seine Untaten zu, und Schäffer erhielt wertvolle Informationen, auch über die Gaunersprache. Über sein Anraten verfasste Hanß ein Wörterbuch: "Wahrhafte Entdeckung der Gauner - und Jenischen Sprache, von dem ehemals berüchtigten Gauner Konstanzer Hanß - Auf Begehren von ihm selbst aufgesetzt und zum Drucke befördert".

Dieses Büchlein war für die Kriminalisten Schwabens gleichsam ein Lehrbuch, um Gaunern, Bettlern und Vaganten auf die Schliche zu kommen. Dank Schäffer vom Herzog zu dessen Hilfspolizisten ernannt, war jener Hanß durch sein Insiderwissen der Obrigkeit behilflich, Gaunern das Handwerk zu legen. Der Konstanzer Hanß hat also die Fronten gewechselt. Anders Grasl, den man gefangen nahm und zum Tode durch den Strang verurteilte. Er soll vor seiner Hinrichtung, die an einem Montag stattfand, gesagt haben: "Die Wochn fangt guat an".

Reiz der Vaganten

Bereits im 13. Jahrhundert war das Rotwelsch erwähnt worden, nachfolgend erschienen immer wieder Bücher mit Vokabularien der Gaunersprache, wie die Wiener Bettlerverordnung von 1443, deren Sinn es war, der öffentlichen Aufsicht Hilfe zu geben, Kriminelle, Bettler und Vaganten besser verstehen - und somit besser kontrollieren zu können.

Auch Sebastian Brant nutzte in seinem "Narrenschiff" zahlreiche Rotwelsch-Wörter, um das Leben der Gauner und Bettler zu schildern. Einblick in deren Sprache - und Strategien - gibt ferner der "Liber Vagatorum" (1510). Das Buch fasst den Begriff "Vagant" sehr weit und schließt selbst die herumziehenden Magistri und Studenten ein. Martin Luther, der gegen das fahrende Volk eine große Abneigung hegte, hat das Werk später unter dem Titel "Von der falschen Bettler und Büberei" veröffentlicht.

Andererseits übten die am Rande lebenden Vaganten auf Intellektuelle, Dichter und Literaten seit je eine gewisse Anziehungskraft aus. Man sah im Vagabunden ein Symbol der Freiheit. Die Vaganten des Mittelalters fühlten sich als echte Weltbürger, lebten ein Freisein von kirchlichen und weltlichen Zwängen; ihre Lieder prangerten die Bestechlichkeit der Gerichte und die Niedertracht der Reichen an. Ihr Freiheitsstreben faszinierte auch Paracelsus: Er vertrat die Meinung, dass man beim fahrenden Volk und den alten Frauen mehr lernen könne als an der Universität.

Otto Hausmann, geboren 1935, ist Rechts- und Staatswissenschafter i. R. und lebt in Wien.