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Die Organisation von Widersprüchen

Von Martin Heintel

Reflexionen
Partizipation in Wien Neubau: Veranstaltung zum (Aus-)Bau von U2 und U5.
© BV7

Partizipation spielt in der Stadtplanung eine wichtige Rolle. Über das Management räumlicher Verhältnisse - oder wie man verschiedene Interessen möglichst gleichzeitig unter einen Hut bringt.


Wenn von Partizipation oder Beteiligung gesprochen wird, sind wir als Gesellschaft immer öfter damit konfrontiert - gewollt oder auch ungewollt -, Widersprüche zu organisieren. Eignet sich Partizipation somit als Tool zur Organisation von Widersprüchen, was sind Widersprüche überhaupt und welche Voraussetzungen für partizipative Verfahren werden in der Regel als notwendig erachtet?

Der Begriff Widerspruch wird aus der Hegelschen Dialektik abgeleitet. Gemeint sind dabei Gegensätze, beispielsweise Vorstellungen oder Ideen, die sich gegenüberstehen, vielfach auch in Konkurrenz zueinander, oder die unterschiedliche Diskurse beeinflussen. Geleitet sind die jeweiligen Diskurse mitunter durch Geschichte und Geschichten, und sie sind motiviert und moderiert durch Lobbys, (Interessens-)Vertretungen, unterschiedliche (politische) Parteien und Bürger in ihrer Vielfalt.

Die jeweiligen Diskursstränge sind häufig normativ bestimmt und bisweilen emotional aufgeladen. Die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen zur Partizipation gestalten sich unterschiedlich, ausdifferenziert allein schon aufgrund vorherrschender politischer Regime, Gesetzeslagen oder zivilgesellschaftlicher Prägung.

Beteiligungskulturen

Stadtplanung in den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in China, vielfach am Reißbrett entworfen, organisiert sich anders als Stadtplanung in Berlin oder Wien, wo selbst im dichtverbauten innerstädtischen Gebiet große Flächen lange Zeit über zur Disposition stehen, wie das Beispiel Berlin Tempelhof zeigt. Totalitäre Regime haben für Bürgerinteressen und Mitgestaltung selten Gefäße (und noch seltener Verständnis), auch werden diese Möglichkeits- und Teilhabeformen vielfach als Bedrohung, Kritik und Widerstand gegenüber den regimekonformen Vorstellungen verstanden.

In Demokratien hingegen verselbstständigen sich mitunter partizipative Verfahren, die wiederum schon manch lange geplantes Projekt städtischer Entwicklung verzögert oder gar zu Fall gebracht haben, wie aktuell die Debatte um die Gestaltungsmöglichkeiten am Heumarkt in Wien verdeutlicht. Gleichwohl sind hier in städtischen Verwaltungen partizipative Verfahren, zum Teil sogar standardisiert, vorgesehen und fixer Baustein einer kommunalen Planungskultur.

Demnach unterscheiden sich auch die Beteiligungskulturen und die Möglichkeiten zur Beteiligung im globalen Vergleich. Zivilgesellschaftliche Organisation sowie Partizipation gestaltet sich in den USA anders als in den postsozialistischen Ländern. Die Teilhabefähigkeit an Gestaltungsprozessen, Formen und auch das Verständnis von Freiwilligkeit, hier wiederum in einer historischen Prägung, lassen Partizipation unterschiedlich aussehen.

Differenzen liegen nicht nur in Gestaltungsfragen von top down und bottom up, sondern schlicht in der Selbstermächtigung, an Gestaltungsfragen überhaupt teilhaben zu können. Auch Inklusion und Exklusion im Rahmen solcher Beteiligungsverfahren müssen daher entlang gesellschaftlicher Differenzen immer kritisch bewertet werden. Geschlecht, Segregation, Altersgruppe usw. sind in Beteiligungsprozessen entsprechend zu berücksichtigen.

Die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen an Regime sind ebenso unterschiedlich. Werden Probleme tendenziell "von der Politik" gelöst, bedarf es eines zivilgesellschaftlichen Engagements, um Ideen überhaupt in die Gänge zu bringen, oder geht beides Hand in Hand?

Wille zur Kooperation

Ist Partizipation aus legitimatorischen Gründen angelegt, ist sie ein Widerspruch in sich, wenn es zum Beispiel darum geht, Beharrung zu sichern oder Veränderung "durchzupeitschen". Ebenso ist Obacht angebracht, wenn partizipative Prozesse "gekapert" werden, indem Mehrheiten sich einen Prozess selektiv aneignen.

Partizipation ist gleichzeitig ein gewisser Gradmesser für gesellschaftlichen Zusammenhalt - und das im doppelten Sinn. Zum einen das widersprüchliche Verhältnis zwischen Solidarität und Individualität betreffend, zum anderen dient Partizipation mitunter dazu, Problemstellungen sichtbar zu machen, die im gesellschaftlichen Mainstream unterzugehen drohen.

Partizipation bedingt auch eine gewisse Fähigkeit und einen Willen zur Kooperation. Die Teilhabe, Beteiligung und Mitbestimmung bedingt Kommunikation und Austausch mit Gleich- und Andersgesinnten. Mitbestimmung, die bewusste Miteinbeziehung von Stakeholdern in Entscheidungs- oder Ideenfindungsprozesse, kann nicht nur effektiv sein, sie kann auch zur Vertrauensbildung beitragen und dadurch das Ergebnis oder einen Konsens abstützen sowie soziales Kapital binden.

In westlichen Gesellschaften leben heute viele Menschen multilokal - oder einfach gesagt: zur selben Zeit an unterschiedlichen Orten "gleichzeitig". Es wird gelebt, gearbeitet, gependelt, Familienmodelle sind vielgestaltig, das individuelle Freizeitverhalten hat sich an viele Orte verlagert. Diese Verhaltensweisen führen zwangsweise zur Notwendigkeit einer Organisation von Gleichzeitigkeit.

Und das bedeutet zweierlei: erstens wird es zunehmend schwieriger, Individuen an Orte bzw. Fragestellungen zu binden, und zweitens ist Teilhabe vielfach kleinteilig, situativ und an die unmittelbaren individuellen Bedürfnisse gebunden, wie etwa die Nahversorgung vor dem eigenen Haus. Um soziale Systeme aktiv zu gestalten, bedarf es häufig auch einer gewissen physischen Präsenz - trotz sozialer Medien. Diese zu gewährleisten ist nicht immer einfach, beziehungsweise setzt es Zeit als Ressource voraus.

Zudem ist die zeitliche Dimension in Partizipationsprozessen häufig lebenszyklisch zu verstehen. Ist ein Problem gelöst, hat sich Partizipation vielfach erledigt. Partizipative Prozesse in der Stadtentwicklung haben daher häufig Projektcharakter, sind also anlassbezogen, räumlich bezogen - und sie haben einen Anfang und ein Ende. Die Qualität partizipativer Prozesse lässt sich weniger an einer zeitlichen Dimension als mehr an aufgebauten Kommunikations- oder Vernetzungsstrukturen sowie an erreichten Ergebnissen darstellen.

In der Stadtentwicklung, auch in der Architektur, kommt Partizipation schon lange eine große Bedeutung zu. Alleine im Wohnungsbau oder auch im Rahmen der Gestaltung öffentlicher Räume ist sie fixer Bestandteil der Planungskultur westlicher Gesellschaften. Neben den schon erwähnten normativen Grundhaltungen, die in partizipativen Verfahren der Stadtplanung vielfach sichtbar werden, treten zudem viele Widersprüche auf, die in hohem Ausmaß emotional aufgeladen sind.

Aufgeladene Diskurse

Nehmen wir nur das Beispiel "Straße" als öffentlicher Raum: Öffentlicher Personennah-, Individual- und Lieferverkehr, Ampelphasen, (selektives) Tempolimit, Radspur, Taxispur, Rad gegen die Einbahn, Einbahnumdrehungen zur Verkehrsberuhigung, Gehsteigverbreiterung, Fahrspurreduktion, Rückbau, Parkplatz, Anrainerparken, Parkraumbewirtschaftung, Radabstellplatz, Schanigarten, temporäre Nutzung (Veranstaltungen), Grätzloasen, Begrünung und und und . . .

Alle diese Bereiche und noch viele mehr sind Grundlagen emotional aufgeladener Diskurse in der Öffentlichkeit, in Stadtparlamenten sowie Beteiligungsverfahren. Gestalterische wie planerische Entscheidungen sind in diesen Fällen selten entkoppelt von Befindlichkeiten und subjektiven Interessen. Partizipation wirft daher zusätzlich auch immer die Frage nach den Beteiligungsmotiven oder etwaigen Befangenheiten auf.

Auf weitere Widersprüche, die im Rahmen der Stadtentwicklung Wiens in den vergangenen Jahren aufgetreten sind, sei hingewiesen: Wohnbau (kommunale versus privatwirtschaftliche Interessen), Geschoßbau (materielles versus immaterielles Erbe), Quartiersentwicklung (Gentrifizierung versus Bestandswahrung), Dritte Piste (Wirtschaft versus Umwelt), Verkehrsplanung (Auto versus Fahrrad), Widmung (Denkmalschutz versus Neubau) - die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Auch gibt es viele Planungsbereiche, deren Widersprüche nicht sofort greifbar sind und die sich erst im Umsetzungsprozess in ihrer Tragweite erschließen. Als Beispiel dient der geplante (Aus-)Bau von U2 und U5 und die damit verbundene Baustellenlogistik im dicht verbauten Stadtgebiet über Jahre. Weitgehender Konsens zwischen Stadt Wien, Bezirk, Anrainern, Wiener Linien und Geschäftsleuten besteht bisher darin, dass die Erschließung von Stadtteilen durch direkte U-Bahn-Anbindung diese Gebiete nach Fertigstellung aufwertet. Dies ist ein tragfähiger Grundkonsens. Die Interessen, die es hinsichtlich der mehrjährigen Bauphase zu verwalten gilt, sind in der Argumentationslogik jedoch sehr verschieden.

Wechselverhältnis

Einfach gesagt, geht es etwa den Wiener Linien darum, die Baustelle (Tiefbau) gut abzuwickeln und den Wirtschaftstreibenden die Oberfläche (Aushub, Sperren etc.) gut zu verwalten, damit sich der zu erwartende Umsatzeinbruch in Grenzen hält. Es geht somit auch hier um die Organisation von Gleichzeitigkeit, ohne die bestehenden Konkurrenzen auflösen zu können. Je besser das in kooperativer Abstimmung gelingen kann, desto gedeihlicher ist das Nebeneinander während der Bauphase. Partizipative Verfahren, die das Zusammenbringen unterschiedlicher Interessensgruppen fördern, können stabilisierend in der Sache wirken.

Letztendlich geht es in all den hier angeführten Widersprüchen um die Organisation von räumlichen Verhältnissen im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen. Dieses komplexe Wechselverhältnis zu organisieren ist der wichtigste Bestandteil partizipativer Prozesse. Die Maßstabsebenen variieren dabei ebenso wie die Komplexität und Summe der beteiligten Akteure. Die Gestaltung eines Schanigartens in der Parkspur ist kleinräumig - verglichen etwa mit der zukünftigen Neugestaltung des Areals Sophienspital.

Martin Heintel, Professor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Regionalforschung sowie Angewandte Geographie.