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Rationalität gegen Reizüberflutung

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Vor 100 Jahren starb Georg Simmel. Zeit seines Lebens blieb der deutsche Philosoph und Soziologe ein Querdenker.


Unkonventioneller Gelehrter, der eine umfangreiche "Philosophie des Geldes" entwarf: Georg Simmel (1858-1918).
© ullstein bild/Granger, NYC

"Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren".

Dieses Plädoyer für die individuelle Selbstbestimmung, die in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Formationen und der historischen Faktizität erfolgen soll, ist programmatisch für das Werk des Soziologen und Philosophen Georg Simmel. Die Wertschätzung der Individualität bedeutete jedoch keine Verabsolutierung. Simmel betonte ausdrücklich, dass der Einzelne keineswegs - im Sinne des deutschen Idealismus - als solipsistische Selbst-
setzung zu verstehen ist, sondern sich durchaus in einem sozialen Netzwerk bewegt; in einem Netzwerk, das "all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen widerspiegelt".

Der Querdenker war ein unkonventioneller Gelehrter, der die traditionelle Spezialisierung der akademischen Welt nicht akzeptierte. Er wandte sich gegen jede dogmatische Strömung der Soziologie oder der Philosophie und verfasste neben umfangreichen Studien wie "Einleitung in die Moralwissenschaft", "Die Probleme der Geschichtsphilosophie" und "Philosophie des Geldes" Essays über die Großstädte und das Geistesleben, den Fremden, die Freundschaft, die Geselligkeit und die Mode sowie Studien über Rembrandt, Leonardo da Vinci, Auguste Rodin, Goethe und Stefan George.

Professor mit 56

Georg Simmel wurde am 1. März 1858 als Sohn einer jüdischen, zum Christentum konvertierten Kaufmannsfamilie in Berlin geboren. Als sein Vater im Jahr 1874 starb, wurde der Musikverleger Julius Friedländer - ein Freund der Familie - zu seinem Vormund bestimmt. Er adoptierte Simmel und hinterließ ihm ein beträchtliches Vermögen, das ihn wirtschaftlich unabhängig machte.

Dieses Erbe war die Basis für ein materiell sorgenfreies Leben, das es dem Gelehrten ermöglichte, sein theoretisches Werk ohne Rücksicht auf akademische Institutionen zu entfalten. Simmels akademische Laufbahn verlief keineswegs in geordneten Bahnen. Sein erster Promotionsversuch scheiterte ebenso wie seine angestrebte Habilitation. Er heiratete 1890 die Malerin und Schriftstellerin Gertrud Kinel, die auch philosophische Bücher schrieb.

Ihr gemeinsames Haus wurde zu einem Ort der intellektuellen Diskussionen, an denen Rainer Maria Rilke, Edmund Husserl, Marianne und Max Weber oder der junge Ernst Bloch teilnahmen. 1900 erhielt Simmel eine unbezahlte außerordentliche Professur für Philosophie in Berlin. Erst im Alter von 56 Jahren wurde er zum Ordentlichen Professor für Philosophie in Straßburg berufen, wo er am 26. September 1918 an Leberkrebs verstarb.

Simmels gesamtes theoretisches Werk war von der Intention geprägt, eine Phänomenologie der Moderne zu entwerfen. Als Leitsatz diente ihm eine Formulierung des französischen Schriftstellers Charles Baudelaire: "Die Modernität, das ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Kontingente".

Die Moderne war für Simmel der Ausdruck einer Zersplitterung, die sich im Geistes- und Alltagsleben manifestierte. Den Schauplatz des modernen Lebens ortete Simmel in der lärmenden Großstadt Berlin, die um die Jahrhundertwende stark expandierte.

"Die Entwicklung Berlins von der Großstadt zur Weltstadt fällt zusammen mit der Periode meiner eigenen stärksten und weitesten Entwicklung", notierte Simmel. Der Moloch Großstadt wies eine bis dahin nicht vorstellbare Fülle an verschiedenen Sinneseindrücken auf: "Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder!", schrieb der expressionistische Schriftsteller Kurt Pinthus.

Die Stadt stand gleichsam unter Starkstrom. Die explosionsartige Entwicklung des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die auf technischen Innovationen wie der Erfindung der Glühbirne, der Konstruktion eines Verbrennungsmotors, dem Ausbau von Eisenbahnen und Straßenbahnen beruhte, war die wesentliche Ursache für die Beschleunigung des alltäglichen Lebens. Sie erzeugten eine "prickelnde Hochspannung". Die Folge war eine weitverbreitete Neu-rasthenie; man sprach von einem Zeitalter der Nervosität, das sich laut Simmel durch "ein Gefühl von Spannung, heimliche Unruhe und ungelöstem Drängen" auszeichnete.

Intellektualisierung

Das "Trommelfeuer der Großstadt" bewirkte durch das Tempo der industriellen und urbanen Entwicklung eine Reizüberflutung, die den Wahrnehmungsapparat der Großstadtbewohner massiv überforderte. Die Folge war eine Intellektualisierung, die als Schutzschild gegen den permanenten Terror der Reizüberflutung ausgebildet wurde. Diese Rationalisierung des menschlichen Sinnesapparates setzte Simmel in Beziehung zur kapitalistischen Geldwirtschaft. "Verstandesherrschaft und Geldwirtschaft stehen im tiefsten Zusammenhang", postulierte der Soziologe.

In seiner über 600 Seiten umfassenden Studie "Philosophie des Geldes" entfaltete Simmel seine Gedanken über die Rolle des Geldes und dessen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Er kam zu dem Schluss, dass das Geld das Objektive ist, "an dem alles Persönliche endet". Für Simmel war das Geld "die Spinne, die das gesellschaftliche Netz webt". Das Geld - als "Generalnenner aller Werte" - ermöglicht einen Warenaustausch, in dem die jeweilige Qualität der Ware am Geldwert bemessen wird. Wertvoll ist nur, was einen Geldwert besitzt.

Die Quantität regiert über die Qualität. "Das Geld wird zum fürchterlichsten Nivellierer, der den Kern der Dinge aushöhlt". Als "Ausdruck und Äquivalent aller Werte" verwandelt es sich von einem Mittel des Tausches zum absoluten Selbstzweck.

Kriegsbegeisterung

Die Folge ist eine Verkehrung der Zweck-Mittel-Relation, die schon Karl Marx in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" als "die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten" angeprangert hat.

Eine solche Verkehrung von Mittel und Zweck beschrieb Simmel am Phänomen des Geizes. Hier wird das Geld zum absoluten Zweck, dem alle anderen individuellen Aktivitäten untergeordnet werden. "Der Geizige liebt das Geld und verzichtet bewusst darauf, das Geld als Mittel zu irgendwelchen Genüssen zu benutzen", schrieb Simmel. Alle Güter, die durch Geld erworben werden können, sind für den Geizigen bedeutungslos, denn dafür müsste er sich vom Geld trennen. Seine Gefühle zum Geld sind denen ähnlich, die er "einem sehr verehrten Menschen" entgegenbringt, der Geldbesitz verschafft ihm das Empfinden der "Seligkeit".

Im stahlharten Gehäuse der kapitalistischen Geldwirtschaft steht das Individuum nunmehr der Herrschaft ihres politischen und gesellschaftlichen Ensembles und der entfesselten Technik gegenüber, die es zu überwältigen und entmündigen droht. Angesichts dieser "Hypertrophie der objektiven Kultur" stellt sich die Frage, was das Individuum tun könne, um für sich einen bestimmten Freiraum zu schaffen.

Simmels Antwort lautete: Ästhetisierung der Existenz. Lange vor Michel Foucault plädierte er für eine ästhetische Lebensgestaltung des Subjekts, die alle Lebensbereiche umfassen sollte. Sein Ideal war der "vornehme Mensch", der - im Gegensatz zum "fremdbestimmten "Herdenmenschen" - sich einen autonomen Bereich schafft, der nach ästhetischen Kriterien gestaltet wird.

Das Ideal einer vornehmen Persönlichkeit hinderte Simmel jedoch nicht daran, sich in den Chor der Kriegsbegeisterten zu Beginn des Ersten Weltkrieges einzureihen. Der Krieg verschaffe Abhilfe gegen die sinnentleerte Massenkultur; er sei das Gegengift zum "Mammonismus" und verleihe dem Leben wieder Bedeutung, betonte Simmel. Er bezeichnete den Krieg als geistiges Erlebnis, das zur Intensitätssteigerung des Lebens beitrage: "Es scheint sicher, dass der Soldat, mindestens solange er in lebhafterer Aktion ist, eben dieses Tun als ungeheure Steigerung, in unmittelbarerer Nähe zu seiner flutenden Dynamik empfindet", schrieb Simmel.

Der Blick "von außen"

Mit seiner Verteidigung des deutschen Militarismus verstörte er unter anderen auch Georg Lukács und Ernst Bloch, die vor dem Ersten Weltkrieg an den Vorlesungen von Simmel teilnahmen. Sie waren enttäuscht von seiner Agita- tion und distanzierten sich mit deutlichen Worten. "Dass der Freund Bergsons, der Liebhaber und Bewunderer der französischen Kultur den Krieg mitmachte, das war mir unbegreiflich", notierte Bloch.

Dass Simmel trotz seiner Kriegsbegeisterung, die er mit zahlreichen Schriftstellern und Malern teilte, Gedanken entfaltete, die von höchster Aktualität sind, beweist sein "Exkurs über den Fremden". Der Fremde - heute vielfach eine ständige Quelle der Beunruhigung - ist für Simmel eine Gestalt, "die nicht heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt".

Der Soziologe interessierte sich für die Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne im "Wechselverhältnis" zwischen den Fremden und den Einheimischen. Der Fremde wird zwar ein Mitglied der Gastgesellschaft, dennoch behält er wesentliche Merkmale seiner eigenen Kultur bei, wie es das Beispiel Islam zeigt. Das macht ihn zu einem Korrektiv der Gesellschaft, in der er sich aufhält. Da er in die lokalen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht eingebunden ist, ermöglicht der Fremde einen Blick "von außen". Er ist ein ethnologischer Beobachter, der den Einheimischen bewusst macht, dass ihre Kultur nur eine unter vielen darstellt und nicht unbedingt die beste aller existierenden Kulturen sein muss.

Als Fremder inmitten einer deutsch-nationalen, antisemitischen Gesellschaft, die sich bis in akademische Kreise fortsetzte, fühlte sich Simmel während eines Großteils seines Lebens. Dass sein soziologisches und philosophisches Werk - verstanden als eine Dekonstruktion traditioneller Denkströmungen - ein reiches Potenzial enthält, wird durch eine Bemerkung von Georg Lukács deutlich: "Es gab von allen wirklich philosophisch Veranlagten der jüngeren Generation fast keinen, der nicht dem Zauber seines Denkens erlegen wäre".

Literaturhinweise:

Georg Simmel: Gesamtausgabe in 24 Bänden, Suhrkamp.

Simmel-Handbuch - Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Herausgegeben von Hans-Peter Müller und Tilman Reitz. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2018, 960 Seiten, 39,10 Euro.