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Auf der Suche nach Unsterblichkeit

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Ein Leben ohne Ende gilt als utopische Idee, an deren Umsetzung im Silicon Valley aber schon gearbeitet wird.


Von Abraham Lincoln ist der Satz überliefert: "Nur zwei Dinge auf dieser Welt sind uns sicher: der Tod und die Steuer." Doch die Utopisten aus dem Silicon Valley wollen sich mit diesen Gewissheiten nicht abfinden. In den kalifornischen Gentechnik-Schmieden tüfteln Forscher an der Betriebsanleitung zum ewigen Leben. Mit Millionen Forschungsgeldern wollen sie den menschlichen Quellcode entschlüsseln und den Menschen unsterblich machen.

Im Jahr 2013 gründete Google seine Gesundheitssparte Calico, deren erklärtes Ziel es ist, "den Tod zu beseitigen". Für die Sozialingenieure ist der Tod ein mathematisches Rätsel, das sich mit der richtigen Formel "lösen" lässt. Wenn man weiß, wo die Bugs im Quellcode liegen, kann man den Organismus hacken und neu programmieren. Calico-Gründer Bill Marris sagte im Jänner 2015 in einem Interview mit CNN: "Wenn Sie mich heute fragen, ob es möglich ist, 500 Jahre zu leben, so lautet die Antwort: Ja!"

Die Mensch-Maschine

Die Bewegung des Transhumanismus ist von der Idee beseelt, die Grenzen der Conditio humana zu sprengen und den Menschen auf eine neue Evolutionsstufe zu heben. Der Körper wird trainiert, modelliert, optimiert, Defizite und Verschleißerscheinungen werden mit Implantaten und Prothesen korrigiert; das Gehirn wird mit leistungssteigernden Substanzen gedopt und mit Nanobots, also autonomen Maschinen im Miniaturformat, verdrahtet. Irgendwann wird das Gehirn in die Cloud hochgeladen. Am Ende dieses Optimierungsprozesses steht die Vision eines perfekten, gottgleichen Wesens, das sich als Mensch-Maschinen-Hybrid reibungslos in die Roboterwelt einpasst.

Der Traum vom ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit. Der Transhumanismus, der mit einem Transzendenz- und Heilsversprechen daherkommt, bespielt die anthropologisch tief sitzende Angst vor dem Tod, indem er ihn zu etwas Optionalem erklärt und dem Leib-Seele-Problem einen radikal materialistischen Software-Hardware-Dualismus entgegensetzt. Die Technik-Jünger rufen ihrer Glaubensgemeinde zu: Fürchtet euch nicht, die Technik wird euch von den irdischen Leiden erlösen!

Karsten Weber und Thomas Zoglauer schreiben in ihrem Buch "Verbesserte Menschen: Ethische und technikwissenschaftliche Überlegungen", dass die Transhumanisten eine eigene Eschatologie entwickelt haben: "Der Mensch könne seine körperlichen Fesseln überwinden, gleichsam entmaterialisieren und als virtuelles Wesen im Cyberspace wiederaufstehen." Der Geist könnte im Datenkörper weiterleben.

Auch wenn ewiges Leben wohl für immer eine Utopie bleiben wird, könnten die Fortschritte in der Biomedizin zu einer signifikanten Erhöhung der Lebenserwartung führen. Doch die Frage ist, ob diese Entwicklung überhaupt mit der Komplexität einer modernen Gesellschaft kompatibel ist. Wollen wir so lange leben? Und vor allem: Was wären die Implikationen?

Einmal angenommen, der Mensch würde 500 Jahre alt werden, wie Marris prophezeit. Es gäbe ein menschliches Ersatzteillager, wo man sich eine neue Leber oder Niere im 3D-Druck-Verfahren ausdrucken könnte. Die Gesellschaft bestünde aus jugendlichen Mitthundertern, verrenteten Zweihundertjährigen und greisen Dreihundert- und Vierthundertjährigen. Wie müsste der Arbeitsmarkt organisiert werden? Würden Maschinen die Renten erwirtschaften? Bräuchte es einen neuen Sozialvertrag zwischen Mensch und Maschine?

Zerstörte Hierarchien

Wie würde eine demokratische Wissens- und Erinnerungsgesellschaft aussehen, in der Computer alles speichern? Bedeutete lebenslanges Lernen automatisch maschinelles Lernen? Wie funktional wären Institutionen wie Parlamente, Wahlen, Vereine? Welche Bedeutung würde eine Ehe haben, wenn sich Menschen bereits in 80 Jahren fünfmal scheiden lassen?

Wie würde sich der Wertewandel, nach dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann ein konstitutives Merkmal sozialer Systeme, vollziehen, wenn der Generationenwechsel nicht mehr alle 30, sondern nur noch alle 300 Jahre stattfinden würde? Wäre eine Gesellschaft imstande, sich und ihre Wertesysteme zu erneuern? Oder würde sie geistig stillstehen und sich über Jahrzehnte um die eigene Achse drehen? Der US-amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama schreibt in seinem 2002 erschienenen Buch "Das Ende des Menschen", dass die Verlängerung des menschlichen Lebens dramatische Folgen für die innere Struktur der Gesellschaften haben werde. Sie werde die nach Alter gestuften Hierarchien zerstören.

Die natürliche Tendenz einer Generation, der nachfolgenden Generation Platz zu machen, werde durch die "simultane Präsenz von drei, vier und sogar fünf Generation zur gleichen Zeit" ersetzt, schreibt Fukuyama.

Der Politologe verweist auf die zerstörerischen Folgen nach Alter gestufter Hierarchien in autoritären Regimen wie Kuba oder Nordkorea, wo Diktatoren auf Lebenszeit ernannt werden und dynastische Strukturen einen politischen Wandel verhindern. Man stelle sich vor, Fidel Castro wäre nicht 90, sondern 200 Jahre alt geworden. Dies hätte den Reformprozess um Jahrzehnte verzögert.

"In einer Zukunft, in der sich die Lebenserwartung durch technische Entwicklungen noch weiter verlängert hat, werden solche Gesellschaften nicht nur für Jahre, sondern für Jahrzehnte durch ein absurdes Warten auf den Tod blockiert sein", prophezeit der Autor.

Im Wartestand

Aber nicht nur in autoritären Regimen, sondern auch in Demokratien könnte die Erhöhung der Lebenserwartung zu verknöcherten Strukturen und gesellschaftlichen Pathologien führen.

Zwar existieren in demokratischen Gesellschaften institutionelle Mechanismen zur Abberufung politischer und wirtschaftlicher Eliten. Wahlen verleihen Macht auf Zeit. Doch würden sich die Zyklen der Abwahlprozesse massiv verzerren. Womöglich wäre der Gesetzgeber gezwungen, die Legislaturperiode auf zwanzig Jahre zu erhöhen, um der höheren Lebenserwartung Rechnung zu tragen.

Eine für die Gesellschaft so vitale Funktion wie der Elitenaustausch würde sich um Jahrzehnte nach hinten verschieben. Ganze Generationen wären im Wartestand, müssten hunderte Jahre ihrer Chancen harren. Je weiter der Tod in die Zukunft verlagert wird, desto weiter werden gesellschaftliche Versprechen hinausgezögert. Das erzeugt Frust und Fliehkräfte, die eine demokratische Gesellschaft moderieren müsste. Man muss sich vor Augen führen, was eine Lebenserwartung von 150, 300 oder gar 500 Jahren angesichts des immer schneller voranschreitenden technischen Fortschritts für das Individuum bedeutete: Es gäbe Menschen, die mehrere Epochen, Kriege, Krisen und Katastrophen erlebten. Der Rucksack der Erinnerungen und traumatischen Erfahrungen würde mit der Zeit immer schwerer.

Kann man das Erlebte vergessen, wenn digitale Speichermedien jedes Ereignis archivieren? Lässt sich das Erinnerungsvermögen wie eine Festplatte fragmentieren? Ist Altern nicht eine Hypothek, weil es das Leben mit dem Vergangenen belastet?

Der Tod der Liebe

Viktor Mayer-Schönberger schreibt in seinem Buch "Delete: Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten", wie wichtig die Fähigkeit zum Vergessen für moderne Gesellschaften und Geschichte ist. Die totale Erinnerung würde uns in psychische Konflikte stürzen und uns handlungsunfähig machen. Die Halbwertszeit des Organismus lässt sich künstlich in die Länge ziehen. Aber ist der Geist für mehrere biologische Leben gemacht?

In ihrem Buch "Alle Menschen sind sterblich" erzählt Simone de Beauvoir die fiktive Geschichte des Raymond Fosca. 1279 geboren, steigt er zum Fürsten des italienischen Stadtstaats Carmona auf. Eines Tages bietet ihm ein Bettler einen Zaubertrank an. Er trinkt von dem Lebenselixier und wird unsterblich. Fosca festigt seine Macht, doch nach dem Tod seiner Familie vereinsamt er. Als Solitär durchquert er die Epochen der Weltgeschichte: Er lebt bei einem Abenteurer in Amerika, dient am Hofe Karl V. und kehrt im 18. Jahrhundert nach Frankreich zurück. Dort trifft er die bürgerliche Marianne, die die literarischen Salons frequentiert. Fosca verliebt sich in die Frau. Als sie aber von seiner Unsterblichkeit erfährt, ist Marianne konsterniert: Sie ist bloß eine kurze Episode in Foscas Leben.

Die Moral von der Geschichte ist, dass Unsterblichkeit die Liebe sterben lässt. Dabei ist es ja gerade die Vergänglichkeit, welche dem Bund fürs Leben ("Bis dass der Tod sie scheidet") seine existenzielle Bedeutung verleiht. Die Transhumanisten, die den Menschen befreien wollen, machen ihn zur Geisel seiner eigenen Geschichte.

Es sind vor allem die Allmachts- und Kontrollphantasien einer techno-autoritären Clique im Silicon Valley, den Menschen biopolitisch beherrschbar und das Humankapital auf Ewigkeiten verfügbar zu machen. Es könnte eine Art Totalitarismus der Zeit entstehen, in dem Lebensphasen mit totaler Bedeutungslosigkeit aufgeladen werden und das Individuum auf sein mechanisches Uhrwerk reduziert wird. Wer den Tod abschaffen will, schafft letztlich auch die Menschlichkeit ab.

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Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und Rechtswissenschaft in Tübingen, Heidelberg und Paris. Freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.