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Klassenkampf in der Theorie

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Zum 100. Geburtstag des französischen Philosophen Louis Althusser, der zentralen Figur in der geistigen Nachkriegsgeschichte des Landes.


"Von Anfang an habe ich mich hinsichtlich der Philosophie unwiderruflich in einer kritischen, ja destruktiven Position gesehen", schrieb Louis Althusser in seinem autobiografischen Text "Die Zukunft hat Zeit". Der akademischen Philosophie stand er kritisch gegenüber. In seinem vor kurzem in deutscher Sprache publizierten Werk "Einleitung in die Philosophie für Nichtphilosophen" findet sich eine heftige Anklage gegen die Meisterdenker der Philosophie - von Platon bis Hegel. Sie lebten in einer geschlossenen Welt - so Althusser - und beschränkten sich "auf ein ewiges Wiederkäuen" von zentralen Texten. Außerdem seien sie unkritisch gegenüber den herrschenden Mächten. Gegen diese Philosophie plädierte Althusser für eine "ganz andere Art des Philosophierens", für einen "Klassenkampf in der Theorie".

Kaum ein anderer Philosoph war so umstritten wie Althusser, der von namhaften Theoretikern wie Michel Foucault als zentrale Gestalt der französischen Nachkriegsphilosophie bezeichnet wurde, und der einen undogmatischen Marxismus mit strukturalistischen Elementen anreicherte.

Neue Marx-Lektüre

"Althusser ist deshalb so wichtig", schrieb Foucault, "weil er die traditionelle marxistische Interpretation vom gesamten Humanismus, Hegelianismus und auch von aller Phänomenologie, die darauf lastet, befreit und insofern aufs Neue eine Lektüre von Marx möglich gemacht hat, die nicht länger eine universitäre, sondern geradezu eine politische Lektüre war." Dagegen steht die kritische Bewertung des US-amerikanischen Historikers Toni Judt: "Althusser zerlegte Marx, nahm hier eine Passage, dort eine Textstelle, die ihm gerade in seine Interpretation passte, und konstruierte daraus die denkbar wunderlichste und unhistorischste Version der marxistischen Philosophie."

Geboren wurde Louis Althusser am 16. Oktober 1918 in der Nähe von Algier als Sohn einer bürgerlichen Familie. Seinen Vater, der eine steile Karriere als Bankdirektor absolvierte, erlebte er als autoritär - ohne geringstes Interesse an der Erziehung. Seine Mutter wurde von Phobien bedrängt; "sie hatte Angst vor allem", notierte er. Aus beruflichen Gründen zog die Familie nach Marseille, später nach Lyon.

1939 wurde Althusser zum Militärdienst eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, die fünf Jahre dauerte. Nach dem Krieg studierte er Philosophie und lernte seine spätere Frau Hélène kennen. Er trat in die Kommunistische Partei ein und lehrte bis 1980 an der École normale supérieure. In rund 30 Jahren war Althusser der Lehrer von französischen Intellektuellen wie Jacques Derrida, Michel Foucault, Alain Badiou oder Jacques Rancière. In diesen Jahren litt Althusser an schweren Depressionen, die er stationär behandeln lassen musste.

Trotz seiner Rolle als "Stardenker" des Strukturalismus, die er mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan teilte, war sein "Leitmotiv" die Einsamkeit, die er seit frühester Jugend kannte. Begleitet wurde dieses Grundgefühl von der Überzeugung einer Nichtidentität. "Da ich nicht wirklich existierte, war ich im Leben nur ein Kunstgriff-Wesen, ein Nicht-Wesen, ein Toter", notierte er in seinem autobiografischen Text "Die Zukunft hat Zeit". Althusser verstand sein Leben als einen Selbstzerstörungsprozess, der seinen Höhepunkt 1980 in der Ermordung seiner Frau Hélène fand. Er selbst konnte sich an die Tat nicht erinnern und wurde in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen und nach drei Jahren entlassen. Als bereits subjektiv Toter verstarb er 1990.

Als Hauptwerke Althussers gelten die Texte "Für Marx" und "Das Kapital lesen". Darin plädiert er für eine Neulektüre der Schriften von Karl Marx, der für ihn der erste Theoretiker war, der den Gesamtzustand des Kapitalismus wissenschaftlich interpretiert hatte. In den 60er Jahren entwickelte Althusser die These vom epistemologischen, also dem wissenschaftstheoretischen Bruch im Werk von Marx. Diese These besagt, dass sich jener um 1845 von seinen humanistischen Frühschriften abgewandt habe, um zur Wissenschaft vorzudringen.

An die Stelle von Begriffen wie "Entfremdung" oder "der Mensch" traten Begriffe wie "Produktionsmittel", "Produktionsverhältnisse" oder "Ideologie". Es war dies kein abrupter Bruch, sondern ein Einschnitt, der von der "Deutschen Ideologie" bis zu den letzten Schriften von Marx reicht. In diesem Prozess löste sich Marx von seiner These, "dass der Mensch morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren könne, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden", und wandte sich den harten Fakten der Ökonomie zu.

"Ideologisches Tier"

In seiner genauen Lektüre von Marx entfaltete Althusser eine neue Sichtweise auf die Rolle des Überbaus in der marxistischen Theorie, dem üblicherweise nur eine marginale Rolle zugedacht wird. Wesentlich ist dabei die ökonomische Basis; kulturelle und ideologische Faktoren sind dadurch determiniert. Im Gegensatz zu diesem zentralen Dogma des Marxismus betonte Althusser die Abhängigkeit des Einzelnen von den ideologischen Strukturen, die das kapitalistische System ausgebildet hat.

Institutionen wie Schule, Kirche oder Familie - die sogenannten "ideologischen Apparate" - konstituieren die Identität der Menschen. Erst wenn man diesen langen Prozess der Initiation durchlaufen hat, wird man zu einem Subjekt, das die sozialen Regeln verinnerlicht hat - und diese daher für selbstverständlich hält. Die Menschen erliegen dann der Illusion, die vorgegebenen Normen selbst geschaffen zu haben, internalisieren sie und engagieren sich dafür. Im Anschluss an die psychoanalytischen Auffassungen von Sigmund Freud und Jacques Lacan nannte Althusser den Menschen "ein ideologisches Tier".

Prozess der "Anrufung"

Im Gegensatz zu Michel Foucaults Repressionsthese, die diese Institutionen als Agenten einer Disziplinierung ansah, machte Althusser eine erstaunliche Beobachtung. Er bezog sich in seinen Überlegungen auf den Philosophen Baruch de Spinoza, der von 1632 bis 1677 gelebt hatte. In seiner "Ethik" stellte Spinoza die Frage: "Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Glück?"

Althusser übernahm diesen Gedanken und fragte sich, wie es möglich sei, dass gleichsam "jedes Subjekt reibungslos funktioniere, ohne dass es einen Gendarmen um sich habe". Das Paradoxe besteht darin, dass Menschen nicht nur durch die Macht eingeschränkt werden und passiv bleiben, sondern im Gegenteil, dass gerade die Aktivität der Menschen oft ein spontaner Beitrag zu ihrer Unterdrückung ist. Gerade dort, wo die Menschen freiwillig aktiv werden, tragen sie massiv zu den Verhältnissen bei, von denen sie unterdrückt werden.

Daher fasste Althusser den Begriff des Subjekts ganz anders als marxistische Befreiungstheoretiker wie etwa Herbert Marcuse. Für ihn war das Subjekt nicht ein Zentrum freier Aktivität, sondern hatte die Doppelbedeutung, ein trügerisches Gefühl der Freiheit zu besitzen und dadurch sich den bestehenden Verhältnissen zu unterwerfen.

Die ideologische Unterwerfung des Subjekts erfolgt durch eine Prozedur, die Althusser als "Anrufung" - im Französischen "interpellation" - bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist eine alltägliche Situation, in der ein Passant von einem Polizisten mit den Worten "He - Sie da!" angerufen wird. Dem Passanten wird in dieser Situation bewusst, dass es sich nicht nur um eine verbale Anrufung handelt, der er Folge zu leisten hat. Der Anruf erfolgt in einem ideologisch-gesellschaftlichen Bezug, in dem der Polizist die Autorität der Staatsmacht verkörpert, der sich der Passant - als Individuum - zu unterwerfen hat.

Noch weiter führt ein anderes Beispiel, das Althusser erwähnt. Es betrifft die Existenz eines Säuglings, der in eine etablierte familiäre, ideologisch geformte Ordnung hineingeboren wird.

Auf Althussers Unterwerfungstheorie des Subjekts bezog sich die amerikanische Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler in ihren Ausführungen über die Bedeutung der Geschlechterrollen. "Wir alle sind seit der Geburt von Geschlechterrollen geprägt, die unser Handeln bis heute bestimmen", schrieb Butler, "unser Handeln wird immer schon von gewissen sozialen Normen konditioniert. So etwas wie Handlungsfreiheit existiert gar nicht."

"Des-Identifikation"

Im Spätwerk von Althusser finden sich jedoch Hinweise. dass man die Subjektstruktur durchbrechen könne. Die Anrufungen durch verschiedene Ideologien oder durch ideologische Staatsapparate werden nicht immer befolgt. Verschiedene rebellische Subjekte distanzieren sich von den konstituierenden Anrufen oder bekämpfen sie. Es ist dies ein Prozess einer zunehmenden "Des-Identifikation", die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden kann. Diese Des-Identifikation, wie sie Althusser propagierte, sollte keineswegs als eine individuelle Revolte erfolgen, sondern als Kulturrevolution, wie sie etwa im Pariser Mai 68 erfolgte.

Obwohl Althusser gegenüber Befreiungsversuchen innerhalb des kapitalistischen Systems skeptisch war, nahm er doch regen Anteil an diesen Ereignissen. Seine Texte, die sich mit der partiellen Befreiung des Subjekts aus ideologischen Strukturen befassen, sind in dem Band "Materialismus der Begegnung" versammelt. Diese Texte, die Althusser nicht publizierte, zeigen, wie weit er sich von Marx entfernt hatte.

Gegen dessen zentrale These von den ökonomischen und politischen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, die in der Herrschaft des Proletariats kulminieren, betont Althusser die Rolle des Zufalls, der sowohl in der individuellen Biografie als auch im politischen oder gesellschaftlichen Bereich zu Konstellationen führt, die niemand erwartet hat - wie zum Beispiel der Zerfall der UdSSR oder die Arabischen Revolutionen.

Diese Spätschriften setzen auch die Intention von Althusser fort, die er zeit seines Lebens verfolgt hat: "Unter den Losungen, die ich formuliert habe, steht an erster Stelle der Anspruch, anders zu denken, anders zu sprechen, eine andere Konzeption von Geschichte zu erarbeiten".

Literatur:

Louis Althusser: Für Marx.
Herausgegeben von Frieder Otto Wolf, edition suhrkamp 2600, Frankfurt am Main 2017.

- : Einleitung in die Philosophie für Nichtphilosophen.
Herausgegeben von G. M. Goshgarian, Passagen Verlag, Wien 2018.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.