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Mythos vom goldenen Zeitalter

Von Edit Király

In Ungarn ist die Erinnerung an das Habsburgerreich von widersprüchlichen Sehnsüchten und undefinierten Nostalgien geprägt.


Die Vergangenheit wird erst durch das gemeinschaftliche Erinnern zum Teil einer Erinnerungskultur - und dies setzt nicht nur ihre Sortierung, sondern oft auch ihre Neuanordnung, ihre Ergänzung, manchmal sogar das Weglassen von Vorhandenem voraus. Erinnerungen an die Vergangenheit werden daher immer von der jeweiligen Gegenwart geschrieben - und gerade das verbindet sie auch mit Zukunftsvisionen.

Als der ungarische Romancier Mór Jókai sich in seinem "Roman des zukünftigen Jahrhunderts" eine in vielerlei Hinsicht verbesserte Version seiner Gegenwart - der Jahre nach dem Ausgleich - vorstellte, setzte er einen Habsburger auf Ungarns Thron, der in einer um die Mitte des 20. Jahrhunderts angesetzten Zukunft allen Wünschen der ungarischen Reichshälfte entgegenkommt: Er trägt in direkter Anspielung auf das erste ungarische Königshaus den Vornamen Arpád und schlägt morgens in der Burg von Buda seine majestätischen Augen auf.

Angesichts dieser äußeren Requisiten des Nationalen scheint selbst seine letzte "Macke", der Name Habsburg, verzeihlich zu sein. Damit zeigt Jókais Zukunftsroman plastisch, wie viel die k.u.k. Monarchie in der Frage der nationalen Selbstbestimmung für ungarische Befürworter des Ausgleichs zu wünschen übrig ließ. Als einstiger 48er und als Vertreter des nationalen Liberalismus hat Jókai in seinen anderen Romanen freilich auch andere historische Choreografien der nationalen Selbstbestätigung entworfen.

Zerfall als Trauma

Wie das Werk vieler populärer Autoren des 19. Jahrhunderts war auch das seine wie ein Warenhaus eingerichtet, in dem jeder Leser das ihm Passende auswählen konnte. Gerade durch ihre vielfältigen Identitätsangebote dokumentieren Jókais Romane die weitverbreiteten Vorstellungen seiner Zeit. Auch der nationale Habsburg-Kaiser ist den widersprüchlichen Sehnsüchten des Ausgleichs verpflichtet und könnte von den Sehnsüchten unserer Zeit nicht verschiedener sein. Er mutet einem heute kaum als Traum, wenn dann eher als Albtraum an.

Immerhin weist diese imaginäre Figur auf jene Stelle hin, wo die k.u.k. Monarchie im ungarischen politischen Denken tatsächlich verhandelt wurde, nämlich seine Nützlichkeit (oder Schädlichkeit) für das Fortbestehen des historischen Ungarn. Obwohl die ungarische politische Tradition seit Jahrhunderten von dem Gegensatz einer katholisch-aristokratischen, den Habsburgern gegenüber loyalen ("labanc") und einer protestantisch-kleinadligen, rebellischen ("kuruc") Linie geprägt war, näherten sich selbst diese Positionen an, als mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht nur die Monarchie, sondern auch das Königreich Ungarn unterging.

Bedeutete der Zerfall der Donaumonarchie für andere sich neu etablierende Nationalstaaten die Selbstständigkeit und einen Neubeginn, wurde sie für Ungarn das nationale Trauma schlechthin. Das Land verlor infolge des Friedensvertrags von Trianon im Jahre 1920 zwei Drittel seines historischen Gebietes und ein Drittel seiner ungarischsprachigen Bevölkerung. Der Verlust und vor allem die Erinnerung an den Verlust stellen im nationalen Erinnerungskanon womöglich sogar die Erinnerung an die Niederlage von Mohács in den Schatten, obwohl jene Schlacht, die Ungarn im Jahre 1526 gegen Soliman I. verlor und in deren Folge es für Jahrhunderte seine territoriale Einheit und Selbstständigkeit einbüßte, bisher als das schwerste Trauma der ungarischen Geschichte galt.

Donau-Konföderation

In dieser inversen Form - durch ihren Untergang und deren Folgen - ist das Habsburgerreich durchaus Teil der ungarischen Erinnerungskultur. Es war den ungarischen politischen Reformern des 19. Jahrhunderts schon im Vorfeld als Gefahr und Bedrohung bewusst. Sie wussten, dass das Königreich Ungarn, das in seiner historischen Form kein Nationalstaat war, mit dem nationalen Erwachen der Ungarn und der anderen auf seinem Gebiet lebenden Völker potenziell seinem Zerfall entgegendriftete, und sie gaben auf diese Herausforderung verschiedene Antworten.

Zu diesen gehörte u. a. auch Lajos Kossuths (1862 in der italienischen Emigration publik gewordener) Plan einer Donau-Konföderation. So groß die realpolitischen Unterschiede zwischen ihm und dem "Vater des Ausgleichs", Ferenc Deák, auch waren - ihre gegensätzlichen politischen Positionen waren tatsächlich Antworten auf dieselben Dilemmata. In den 1860er Jahren erschien Vertretern der ungarischen politischen Klasse immerhin die k.u.k. Monarchie und die damit einhergehende partielle Selbstständigkeit Ungarns als die realpolitische Lösung, um u.a. den Zerfall des historischen Staatsgebildes zu vermeiden, dessen Bevölkerung in jenem Jahrzehnt zu über 50 Prozent aus Nicht-Ungarn bestand.

Die Erinnerung klammert sich jedoch nicht am Wissen und an Überlegungen, sondern an Zäsuren fest.

Trianon, Name des Schlosses in Versailles, wo die Friedensverträge 1920 "diktiert" wurden, ist der zentrale Erinnerungsort im nationalen Gedächtnis der Ungarn.
© Archiv

Während im heutigen Österreich der Name von Saint-Germain außer den historisch Gebildeten kaum jemandem mehr geläufig ist, wurde der Name von Trianon der zentrale Erinnerungsort im ungarischen nationalen Gedächtnis. Das Festhalten an dieser Wunde sorgt für eine ressentimentbeladene Beziehung nicht nur zu den Nachbarstaaten, sondern auch zu den europäischen Großmächten, die die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg diktiert haben. Sie ist zugleich ein probates Mittel, um ungarische Linke und Moderate, die ein deutlich entspannteres Verhältnis zu dieser Frage haben, zu diskreditieren.

Der Schatten der Friedensverträge ist lang, und er wird nach Möglichkeit noch länger gemacht. Trianon, eigentlich Grand-Trianon, ein Schloss in Versailles, ist im heutigen Ungarn als Zeitzäsur und als Erinnerung allgegenwärtig.

Trianon-Denkmäler

Wie durch ein geheimes Abkommen entstanden in den letzten zehn Jahren vielerorts sogenannte Trianon-Denkmäler, die das heutige Ungarn als einen Rumpf des "großen" präsentieren, und stellen dieses Bild buchstäblich ins Zentrum des gemeinschaftlichen Gedenkens. Die Tatsache, dass es dieses historische Ungarn seit 1526 nur als Teil der Habsburgermonarchie gegeben hat, wird in der populären Erinnerung freilich ausgeblendet.

Wäre die Habsburgermonarchie nur durch ihren Zerfall, ihre anderen Völker nur als Unwägbarkeiten der eigenen nationalen Befindlichkeit für die ungarische Gegenwart und ihre Erinnerungskultur von Belang? Eine solche Verkürzung würde der Vielfalt und Fragmentiertheit der ungarischen Erinnerungsgemeinschaften sicher nicht gerecht werden.

Hier sind vor allem jene Formen der Erinnerung zu erwähnen, die sich in Denkmälern und in der Populärkultur von Budapest manifestieren; etwa Ausstellungen wie jene zur Eröffnung der ungarischen Kunsthalle 2016, die mit dem Titel "Das erste goldene Zeitalter" die Verbindungen und Parallelen zwischen den beiden Reichshälften der Monarchie wie auch die Produktivität dieser Verbindung mehr als sinnfällig machte. Kulturelle Verflechtungen aus der Zeit der Doppelmonarchie im Bereich von Kunst und Kunstgewerbe wurden in den letzten Jahrzehnten in einer Reihe von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen herausgearbeitet.

Modell Zentraleuropa

Als ein Fluchtpunkt der Erinnerung erwies sich die k.u.k. Monarchie auch bei jenen Versuchen, die nach dem Fall des Kommunismus die alte Kaffeehauskultur in Budapest wieder zu neuem Leben erwecken wollten. Dieses noch heute aktuelle Projekt, das in den verschiedensten Medien begleitet und reflektiert wird, macht wie selbstverständlich die Kaffeehauskultur der Doppelmonarchie zu ihrem Ausgangspunkt. Obwohl die neuen-alten Kaffeehäuser sich nur bedingt in das Gewebe des Budapester Lebens integrieren lassen, führt allein schon dieser Umstand immer wieder zu historischen Reflexionen.

Der Mythos vom goldenen Zeitalter der k.u.k. Monarchie, einer Zeit des zivilisatorischen Fortschritts und einer Epoche der rasanten Entwicklung der Großstädte, wird nicht zuletzt auch in einer Reihe von Veranstaltungen, Symposien und Publikationen des staatlich geförderten Instituts zur Erforschung der Habsburgerzeit in Budapest geschaffen und multipliziert.

Es gibt eine undefinierte Nos-talgie nach einer Zeit, in der Ungarn eine regionale Führungsposition innehatte und zur Mitte Europas gehörte. Ihre Anfänge, die ersten Forschungen über die urbanistischen, ökonomischen und identitätspolitischen Aspekte der Monarchie, gehen noch auf jene Historiker der Vorwendezeit zurück, die wie Péter Hanák etwa Zentraleuropa auch als ein kulturelles Identitätsangebot feierten und ihre Chance darin sahen, den Lagerzwängen des Ostblocks eine historische Alternative entgegenzusetzen.

In einem neuen Licht erscheinen diese Bestrebungen gerade in diesen Tagen, als jene Universität, die das Wort "Zentraleuropa" in ihrem Namen führt (Central European University), angekündigt hat, ihren Campus von Budapest nach Wien zu verlegen.

Edit Király ist seit 2014 Dozentin am Germanistischen Institut ELTE in Budapest. Zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, zur Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts und zu kulturwissenschaftlichen Themen.