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Margret Kreidl und das Archiv der Freundschaft

Von Bruno Jaschke

Reflexionen

Der Karteischrank des Literaturhauses Wien fand als Zitatkasten eine neue Funktion. Aktuell zeugt er von Wahlverwandtschaften der in Wien lebenden Autorin.


Margret Kreidl mit einer "haarigen Gabe" von Simon Scharinger. Jaschke

Keine Frage, es gibt sie, die Opfer der Digitalisierung. Zu ihnen gehören Karteikästen: jene hölzernen oder metallenen Ungetüme, in denen dazumal Daten geordnet und verwahrt zu werden pflegten. Auch die Bibliothek des Wiener Literaturhauses hatte ihre Titel in einem Karteischrank verzeichnet, ehe diese wie überall sonst auch in Computer emigrierten und das Relikt aus flammsicherem Stahlblech dem Ruhestand zu überantworten schienen.

Die Literaturwissenschafterin Evelyn Polt-Heinzl gewährte ihm jedoch ein aktives Weiterleben, indem sie den Karteikasten in einen Zitatkasten umwandelte: Von 2012 an beherbergte er jeweils ein Jahr lang in jeder seiner 60 Schubladen je ein Zitat zu einem bestimmten Thema.

2017 aber dachte sich Polt-Heinzl wieder einen neuen Verwendungszweck für den Kasten aus: Erstmals beauftragte sie eine Autorin, ihn nach persönlichem Gutdünken zu bespielen. Dabei fiel ihre Wahl auf Margret Kreidl. Die 55-jährige gebürtige Salzburgerin, die nach formativen Jahren in Graz heute in Wien lebt, ist eine Meisterin der literarischen Artenvielfalt: Ihr vielfach preisgekröntes Werk umfasst Gedichte, Essays, Aphorismen, aber auch Theaterstücke und Hörspiele.

Kreidls 2017 in der Edition Korrespondenzen erschienenes Buch "Zitat, Zikade", das als Genregrenzen überspringende Sammlung von sprachspielerischen Lyrik- und Prosa-Texten, Betrachtungen zur Literatur, protokollartigen Auflistungen, Dialogen und Selbstgesprächen ihre Vielseitigkeit unangestrengt dokumentiert, war für Polt-Heinzl ein wesentlicher Beweggrund, diese Autorin mit der Gestaltung des Zitatkastens zu betrauen.

Spezielle Gaben

Und tatsächlich ließ sich Margret Kreidl etwas Spezielles einfallen: "Was ich auf keinen Fall wollte, war, diese 60 Fächer mit eigenen Zitaten zu füllen. Das wäre mir zu langweilig gewesen", erklärt die Autorin beim "Wiener Zeitung"-Lokalaugenschein im Literaturhaus. "Vielmehr wollte ich die Gesellschaft von Menschen, die für meine Arbeit und mein Leben als Schriftstellerin wichtig waren. Da war klar, dass sich der Bogen von meinen Anfängen in Graz bis heute erstrecken würde. Und, dass es nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller sein würden, sondern Leute, deren Arbeit ich mag. Auch Leute, mit denen ich gearbeitet habe. In diesem Sinne bildet der Kasten auch dreißig Jahre Freundschaften ab."

So bat denn Kreidl 59 Zeitgenossen - Autoren, Theatermacher, Musiker, aber auch Menschen von außerhalb des Kulturbetriebs - um eine Gabe ihrer Wahl. Limitationen waren den Exponaten, die Gerhard Spring im Kasten arrangiert hat, nur durch die Physik und Vorschriften für öffentliche Räume auferlegt: Naturgemäß durften sie die Größe einer Schublade nicht übersteigen, außerdem nicht feuergefährlich sein und keine Gerüche entwickeln. Dafür dürfen sie von Besuchern durchaus angefasst werden - selbst auf die Gefahr hin, dass etwas kaputt geht (was bisher nicht passiert ist).

"Das lag mir am Herzzen": Donation der (inzwischen geheilten) Schriftstellerin Ilse Kilic.
© Jaschke

Seit Juni 2018 - und noch bis 23. Mai dieses Jahres - ist der Zitatkasten öffentlich zugängig. Geordnet (und dementsprechend beschriftet) ist er nicht nach Namen, sondern nach Geburtsdaten ohne Jahreszahlen. Damit wollte Kreidl verhindern, dass sofort in Laden mit bekannten Namen wie Gerhard Rühm oder Friederike Mayröcker gegriffen würde. Gleichwohl steht Mayröcker mit dem 28. 12. als Geburtstag an exponierter, nämlich letzter Stelle rechts unten.

Den Anfang macht, links oben, die feministische Publizistin Erica Fischer, die genau am 1. 1. (1943) geboren wurde. Fischer spendete eine portugiesische Sardinendose der Marke "Queen Of The Coast", dazu eine Fliese mit Fischmotiven und einen Brief als "Dokumenta-tion einer Begegnung" 1998 anlässlich der Uraufführung von Kreidls Komödie "Dankbare Frauen" im Postfuhramt Berlin-Mitte. In ironischer Anspielung auf den Titel signiert Fischer als "Die Undankbare".

Ins Schwärmen gerät Kreidl beim Präsent ihrer "geistigen Nahversorgerin", der Buchhändlerin Brigitte Salanda. Es sind dies 28 "Lebensbücher" als Streichholzschachteln: Das Äußere der Schachteln zieren die Cover von Werken wie Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt", Raymond Queneaus "Zazie in der Metro", Thomas Bernhards "Frost", André Bretons "Nadja", Peter Sloterdijks "Die Kritik der zynischen Vernunft" oder Bernhard Vespers "Die Reise" plus Porträts der Autoren; das Innere der Schachteln enthält neben Streichhölzern Informationen zum jeweiligen Buch.

Buchstabenmaterial

Auch von Gerhard Rühm bekam Kreidl eine Zündholzschachtel, diesfalls mit der Aufschrift "Hotel Schrammelhof Litschau", doch dient diese ebenso wie die Plastikschachtel daneben als Behälter für Buchstabenmaterial, aus dem Rühm seine Anagramme fertigt.

"Mich freut sein Geschenk insofern besonders, als dieses sein wirkliches Arbeitsinstrument ist, das er am Tisch verschiebt. Das mag ich an ihm so gern, seinen spielerischen Zugang zur Arbeit", erklärt Kreidl. "Ich mag auch seine Chansons, seine ordinären Lieder. Und ich verehre ihn als Autor. Als er mir das Du-Wort angeboten hat, bin ich kurz einmal rot geworden und sagte, ,das kann ich nicht!‘ Jetzt geht’s aber gut", (lacht). Gleich neben Rühm findet sich ein weiterer Pionier der österreichischen Literatur der Nachkriegzeit: Alfred Kolleritsch. Der Gründer der Zeitschrift "manuskripte", Mitbegründer und langjährige Präsident des Grazer Forums Stadtpark, transkribierte sein erstes (unbetiteltes) Gedicht aus dem Jahr 1946.

Vom Architekten und Unternehmenscoach Martin Krammer bekam die Autorin einen Bastelbogen für eine öffentliche Telefonzelle. Kreidl gehört nämlich zu jenen heute fast schon exzentrisch anmutenden Menschen, die ohne Mobiltelefon auskommen. Dabei steht hinter diesem Verzicht nicht einmal eine besondere Protesthaltung: "Ich hab einen Anrufbeantworter, ich hab E-Mail und es ist nicht so, dass ich jeden Tag 20 Anrufe kriege", argumentiert sie, wohl gewahr, dass die fortschreitende Mobilisierung aller Alltags- wie Berufs-Bereiche ihrer Handy-Abstinenz irgendwann doch ein Ende setzen könnte.

Die Bekanntschaft mit Anna Minayev verdankt Kreidl ihrem Stück "Dankbare Frauen", das die israelische Regisseurin und Dramaturgin in Tel Aviv inszeniert hat. Minayev spendete eine Bestätigung ihrer Geburt (1985 in St. Petersburg). Zu dieser Zeit, schreibt Minayew in einer Replik dazu, seien Neugeborene oft vertauscht worden. Und ihre Mutter wollte keinesfalls einen Buben statt einem Mädchen - das vor dem Hintergrund, dass orthodoxe jüdische Männer jeden Morgen im Gebet Gott preisen, dass sie nicht als Frauen geboren worden sind. "Diese Kirchen sind wirklich überall derselbe Mist", kommentiert Kreidl.

Im wahrsten Wortsinn einen Teil von sich gab Simon Scharinger. Der Reinhard-Seminarist, dessen Vor-Diplom-Inszenierung von Ernst Jandls Stück "Die Humanisten" bereits gutes Presse-Echo fand, verehrte Kreidl seine langen Haare, von denen er sich 2009 bei der Maturareise getrennt hatte. Scharinger, notabene auch Mitglied des A-capella-Ensembles Gesangskapelle Hermann, hatte bei Kreidl den Kurs "Szenisches Schreiben" besucht.

Tasse aus Traditionscafé

Der Experimental-Musiker Michael Fischer, mit dessen Vienna Improvisers Orchestra Kreidl im vergangenen September einen gemeinsamen Auftritt im Zeichen musikalischer wie auch literarischer Improvisation absolviert hatte, beglückte sie mit einem alten Fernrohr und Beiträgen zur Sozialtheorie Max Stirners.

Mentor Halper wiederum, der mit 15 Jahren als Kriegsflüchtling aus dem Kosovo nach Wien emi-griert ist und heute das Traditionscafé Rüdigerhof führt, wählte eine naheliegende Gabe: eine Espressotasse. "Der Rüdigerhof ist mein Stammcafé, seit ich 1996 nach Wien gekommen bin", erzählt Kreidl. "Mein Lebensgefährte Lucas Cejpek (Autor, Theater- und Hörspielregisseur, Anm.) hat einmal gesagt, ,ich glaube, du bist vor allem wegen dem Rüdigerhof nach Wien gezogen’. Das ist ein Ort, der mir wichtig ist. Obwohl ich nicht dieses Klischee lebe, im Kaffeehaus zu schreiben."

Eine Lebensmittelsymposium in der Schweiz im Jahr 2011 machte Kreidl mit der Konditorin Wencke Schmid-Grell bekannt. Diese schickte ihr eine Marzipannixe: "Wencke war zum Sympo-
sium eingeladen, weil sie echte Kunstwerke mit Zuckerbäckerei macht. Am Abend machte sie einen Marzipanworkshop, wo dann alle mit fetten Fingern Rosenblätter und Ähnliches geformt haben. Das war dermaßen entspannend, dass auch die etwas steiferen Professoren reiferen Jahrgangs darin aufgegangen sind."

Botschaft der Zuversicht

Bei einer Donation musste Kreidl zunächst schwer schlucken. Es ist der zentrale Venenkatheder mit der Aufschrift "Das lag mir am Herzen", den die Schriftstellerin Ilse Kilic während ihrer Chemotherapie gegen Brustkrebs getragen hatte. Kreidl hat einige Titel im Verlag Das Fröhliche Wohnzimmer, den Kilic zusammen mit Fritz Widhalm führt, veröffentlicht. "Ilse ist meine beste Freundin in Wien. Außerdem ist sie eine solidarische Kollegin, was mir oft abgeht im Betrieb." Aber so beklemmend Kilic’ Geschenk auch sein mag, birgt es doch eine Botschaft der Zuversicht: "Ilse sagte zu mir, ,du kriegst den Katheder, denn ich brauch ihn nie wieder‘. Das heißt für mich, der Krebs ist überwunden."

Der unermüdliche Autor Gustav Ernst verehrte seiner Kollegin ein Paar rote Schuhe im Miniaturformat, das er vor Jahren in Rom erstanden hat. In ihrer Form ästhetisch durchaus anfechtbar, sind sie gleichwohl Träger persönlicher Erinnerungen. "Er hat gesagt, die haben ihn auf vielen Wegen begleitet", erzählt Kreidl, die mit Ernst eine lange Bekanntschaft verbindet. "Als er und Karin Fleischanderl die Literaturzeitschrift ,Kolik‘ gründeten, hat er mich gefragt, ob ich nicht einen Text für die erste Nummer schreiben wolle. Das war für mich eine Ehre."

Von der großen Lyrikerin Friederike Mayröcker bekam Kreidl Zettelwerk: Notizen, Vorarbeiten, Anmerkungen. "Ende 1983 habe ich Mayröcker in der Oststeiermark das erste Mal lesen gehört. Ich war schockiert, verstört und ergriffen, weil das eine so andere Literatur war. Sie ist für mich ein Vorbild in ihrer unglaublichen Konsequenz. Sie hat mich gelehrt, dass ich nicht alles sofort verstehen muss, was ich lese, und dass man auch sehr Außergewöhnliches machen darf. Und es freut mich sehr, dass sie hier dabei ist."

Ausstellung: Zettel, Zitat, Ding - Gesellschaft im Kasten. Mo-Do von 9-17 Uhr. Literaturhaus Wien, Seidengasse 13, 1070 Wien.

In der Sendung "Gesellschaft im Kasten" stellt Margret Kreidl im Rahmen des Kunstradios am 31. 3. um 23.00 Uhr in Ö1 den Zitatkasten vor.

Margret Kreidls jüngstes Buch, "Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fußnoten", ist als Band 22 der Reihe "Neue Lyrik aus Österreich" erschienen (Verlag Berger, Horn 2018, 64 Seiten).

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter in den Bereichen Pop und Literatur im "extra".