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"Eine Mutter schafft alles"

Von Manfred Rebhandl

Reflexionen
"Ich wollte die Anerkennung": Gabriele Schneider auf ihrer Parkbank im 15. Bezirk.
© Rebhandl

Jeden Tag, so bald es schön ist, sitzen Maria Schneider und ihre Tochter Gabriele in der Allee vor dem Büro unseres Autors. Eine Begegnung.


Maria Schneider, 80-jährige Pensionistin aus Rudolfsheim-Fünfhaus, erzählt: "Ich habe Arthrose in den Fingern und kann oft in der Früh nicht mehr aufstehen, weil ich so Schmerzen habe." Manchmal ist ihr in der Früh so schwindelig, dass sie sich wie betrunken fühlt. Dann setzt sie sich auf eine Bank in der Allee hinter dem Stadthallenbad, weil "drinnen ist es mir zu heiß, zu ungut. Ich kann daheim nicht sitzen." In der Allee sehe sie wenigstens ein paar Leute, "manchmal reden wir". Daheim: Das ist ihre 60-Quadratmeter-Wohnung im Erdgeschoss, sechs Stufen hinauf. "Wenigstens ist der Zins niedrig."

Maria wurde in Frauenkirchen im Burgenland geboren, guter Wein, mildes Klima. Sie kam mit 16 Jahren zu ihrer Schwester "rauf" in die Stadt, zehn Jahre lang war sie Hausgehilfin bei den Fürsten Schwarzenberg in der Jacquingasse im 3. Bezirk. Alle Jahre fuhren die Herrschaften für sechs Wochen auf Sommerfrische an den Wolfgangsee.

Maria trug eine weiße Bluse und eine weiße Schürze. Sie servierte geschossenes Wild, Rebhuhn, Enten, ein eigener Jäger sorgte jeden Tag für das Fleisch. "Es war eine schöne Zeit", sagt sie, auch wenn sie wenig Freizeit hatte. Die beiden HohenloheBuben hat sie gekannt, "wie sie so klein waren. Der eine ist ja jetzt beim Opernball", erzählt sie stolz. "Der andere ist der Fotograf." Glückliche Kinder beide. Erfolgreiche Kinder.

Zerstörter Sehnerv

Dagegen das eigene Leben: Marias späterer Mann wohnte beim Rennweg, nicht weit von den Schwarzenbergs, "geboren am 20. April, ein Hitlerkind. Der hat damals ein Geld gekriegt zum Geburtstag. Ja, das war so!" Maria heiratet, sie ziehen in eine gemeinsame Wohnung, sie beginnt in einer Herrenmaßhemdenerzeugung zu arbeiten. Im März 1965 kommt ihr erstes Kind zur Welt, es ist ein Sohn.

Drei Monate später ist Maria schon wieder schwanger, sechs Monate später schon wieder Mutter. Es ist eine Tochter. Die Ärzte nennen das Kind Gabriele, ohne die Mutter zu fragen, denn es war ein Frühchen mit 94 Deka, nur 39 Zentimeter lang. Sie legen Gabi ein halbes Jahr lang in den Brutkasten, die Mutter kann "nur beim Guckerl hineinschauen, dann wieder nach Hause gehen, eine Woche später wieder beim Guckerl hineinschauen. Zu sehen, wie sie da drinnen liegt, das war furchtbar", erzählt sie.

Maria hat ihr Kind nie gespürt, nie gestreichelt, nie getragen. Ihr blindes Kind Gabriele. Das Fruchtwasser hatte ihre Sehnerven zerstört, haben sie ihr gesagt. "Na selbstverständlich war das ein Schock", sagt die Mutter. "Es war bitter. Es war immer bitter. Aber was soll man machen? Eine Mutter schafft alles."

Gabriele wog 1,8 Kilo, als sie nach Hause durfte. Wenn die Mutter ihr etwas zu spielen gab, dann griff sie nicht danach. Wenn sie ihr Kind anlachte, dann lachte es nicht zurück. Gabis Welt blieb dunkel. Woran sie, die Tochter, sich erinnert: "Ich habe kaum Spielzeug gehabt. Ich habe gerne Nüsse gehabt. Und ich habe es gerne gehabt, wenn etwas gescheppert hat." Die Mutter: "Einen Lärm halt, eine Musik." Gabi: "Und ich habe mich vor Aufzügen gefürchtet. Ich wollte in den Aufzug nicht einsteigen." Angst blieb das prägende Gefühl auch für die Mutter: "Ich kann nie wie andere Leute sagen: Ich mach, was ich will. Ich freu mich auf etwas oder über etwas, das geht nicht."

Der Mann, der Vater, tat sich schwer mit der Tochter. "Der hat immer gesagt: Ich pack’ das nicht", sagt die Mutter. "Ich hab das gespürt", sagt die Tochter. Mit dem Bruder versteht sie sich bis heute, er kümmert sich um sie, hilft ihr, nimmt sie zum Schwimmen mit. Aber als Kind? "Er hat halt auch nicht gewusst, was er mit mir anfangen soll", lacht Gabriele. "Er hat seine Freunde gehabt und ist fortgegangen", sagt die Mutter. Freunde, wie Gabriele sie nie hatte.

Die ersten Weihnachten: Der Bub - leuchtende Augen. Das Mädchen - nichts. "Jede Weihnachten, jeder Geburtstag, jeder Feiertag ist traurig", sagt die Mutter. Die zurückliegenden Ostern, sie waren sonnig und warm, verbrachten beide im Bett. "Ich hab’ so Schmerzen gehabt, dass ich froh war, irgendwo zu liegen oder zu sitzen, wo ich mich nicht bewegen muss. Ich stehe auf und hab Schmerzen. Ich greife ein Häferl an und hab Schmerzen. Früher ist alles flott dahingegangen, jetzt brauch ich so viel Zeit, wenn ich was abwischen muss. Die Ärzte sagen: Sie sind 80, was wollen Sie?"

Mit sechs Jahren musste Gabriele eingeschult werden. In der Zinckgasse gleich neben der Wohnung gab es eine Schule für Sehbehinderte, aber dort hat man der Mutter gesagt: "Sie sieht ja gar nichts! Die können wir nicht nehmen." Also gab sie ihre Tochter in die Blindenschule mit Internat bei der Rotundenbrücke im 2. Bezirk: "Da hab ich sie am Montag hingebracht und am Samstag wieder abgeholt." Bis sie 19 war, war Gabi dort, aber an den Samstagen, Sonn- und Feiertagen war sie noch nie woanders als bei ihrer Mutter.

Ein strahlendes Wesen

Gabi lernte, sich ihre Welt zu erarbeiten: "Einer braucht dafür 40 Stunden, der andere 60. Mit dem Stock gibt es eine spezielle Technik. Man muss sich sehr konzentrieren und sich sehr viel merken. Ist der Boden glatt? Uneben? Man muss Anhaltspunkte finden." Gabi hört, ob ein Haus offen ist oder nicht. Ob es zurückversetzt ist oder nicht. "Ich habe ein gewisses Bild im Kopf", sagt sie. "Und sie hat ein sehr gutes Gehör", sagt die Mutter. "Wenn es regnet, und ich habe die Fenster zu, hört sie durch die Fenster den Regen."

Die Bäume, das Grün, die Wiesen? "Das ist das Gras. Das sind die Blumen. Greif sie an! Reiß sie aus! Riech daran! Alles hab ich ihr erklärt", sagt die Mutter. Der Schnee? "Der ist halt kalt", lacht Gabi. "Ich hab ihn ihr im Wald angreifen lassen", sagt die Mutter. "Wir haben ihr eh alles gezeigt, was möglich ist." Bis vor vier Jahren fuhren die beiden an jedem Wochenende auf die Steinhofgründe einen Kaffee trinken und eine Torte essen. "Aber es geht nicht mehr", sagt die Mutter. "Ich sage ihr, sie soll nicht so rennen. Aber kaum gehen wir drei Schritte, zieht sie schon wieder und reißt mich mit."

Gabi lacht, sie lacht oft. "Ich muss ein strahlendes Wesen sein", sagt sie, die sich selbst noch nie gesehen hat. Sie versucht, sich ihre Mobilität zu erhalten, auch, weil sie Zucker hat und eine Niere kaputt ist. "Wenn schon, denn schon", lacht sie wieder. Ihre liebste Jahreszeit ist der Sommer, weil das Anziehen nicht so lange dauert und sie besser gehen kann. "Der Winter ist für uns Blinde sehr schwer, weil der Schnee alles dämpft und wir fast nichts hören."

Gabi war 35 Jahre lang Bürstenmacherin: "Ich wollte immer etwas mit der Hand machen", sagt sie. "Aber es gibt halt leider für uns Blinde sehr wenige Möglichkeiten." "Telefonistin hat sie nicht geschafft", sagt die Mutter. Jeden Tag zog Gabi Borstenbündel durch 1000 bis 1200 Löcher, Höchstleistung: 1700. Die Arbeit hat ihr Spaß gemacht, fad war ihr nicht. Aber für die Mutter war sie zu ehrgeizig: "Tu langsam!", hat sie ihr immer gesagt. "Geh aufs WC! Nimm dir Zeit!"

Aber am Abend hatte sie wieder 15 Bartwische geschafft, darum nannte man sie "Maschine". "Du kannst auch als Blinde deine Leistung bringen", beharrt die Tochter. "Aber ich habe ihre Hände gesehen!", sagt die Mutter. "Überall ganz schwarz und eingeschnitten." Immer die gleiche Bewegung, 35 Jahre lang, fünf Tage in der Woche, kein einziger Tag im Krankenstand. "Wer macht so etwas?", fragt die Mutter. "Ich wollte die Anerkennung", sagt die Tochter. "Und Blindheit soll keine Ausrede sein." Abends freilich schlief sie nach einer Viertelstunde auf der Couch ein, 35 Jahre lang. Bis auch sie nicht mehr konnte und den Antrag auf Pension stellte.

Dazwischen: "Einmal sind wir nach Chalkidiki in Griechenland geflogen, wo drüben die Klöster sind, 14 Tage am Meer, das war vor 20 Jahren." Der Mann war noch mit, der Vater, der mit Gabi geschwommen ist. "Das Meer war toll", erinnert sie sich. "Das Wasser spüren. Das Rauschen hören. Das Salz riechen." Aber wie die Sonne im Meer versinkt, wie weit der Horizont geht - das konnte sie nie sehen. Und ihren Vater, der mit 54 Jahren einfach umfiel und tot war, auch ihn hat sie nie gesehen.

Vor zehn Jahren zog Gabi in eine eigene Wohnung, nicht weit von jener der Mutter. Dort sitzt sie abends und hört die Nachrichten im Radio oder CDs mit Volksmusik, Seiler & Speer oder Andreas Gabalier, den sie liebt. Sie träumt davon, einmal ein Konzert von ihm zu besuchen. "Oder einmal einen Tag in eine Therme zu fahren. Oder Salzburger Nockerl in der Stadt zu essen."

Keine Ruhe mehr

"Sie hat so viele Träume", sagt die Mutter, bei der mit dem Auszug der Tochter die Schlafstörungen anfingen, sie hat nun keine Ruhe mehr. "Man hat die Angst da drinnen, und die bringt man nicht mehr los. Es kann ja sein, dass sie sich verfährt am Heimweg. Oder vielleicht ist sie hingeflogen? Das kommt mir alles in den Sinn. Meine Nerven sind kaputt. Erst wenn sie anruft und sagt, sie ist zu Hause, dann kann ich aufhören, Angst zu haben."

Schlafen kann sie aber auch dann nur mit Tabletten: "Nehme ich ein halbes Pulverl, bin ich um zwei wieder munter. Nehme ich keines, bleibe ich die ganze Nacht wach." "Es kann sein", sagt Gabi leise, "dass die Mama nicht loslassen kann." "Was soll ich denn tun, wenn ich so eine Angst habe?", fragt die Mutter.

Wenn Gabi im Park sitzt und die Leute reden hört, dass sie dahin gehen und dorthin und was sie alles machen, dann denkt sie oft: "Mein Gott, du selbst brauchst für jeden Schmarren jemanden, der mit dir wohin geht! Da hadert man dann schon mit dem Nicht-Sehen." Am schlimmsten aber ist es, wenn die Leute zu ihr sagen: "Sei froh, dass du nicht alles sehen musst." Da möchte sie am liebsten weinen. Oder: "Wenn die Leute nicht ausweichen!", schimpft die Mutter. "Die Rüpeln auf der Straße mit ihrem Handy vor den Augen, die gehen einfach nicht weg!"

Sie ärgert sich über die Leute, die nebeneinander auf den Bänken sitzen und auf ihre Handys starren. Keiner hat mehr ein Auge für seine Umgebung und die Schönheit der Natur. Die Leute haben sich sattgesehen an der Welt, die ihre Tochter Gabi nie sehen konnte.

Manfred Rebhandl, geb. 1966 im oberösterreichischen Roßleithen, lebt in Wien. Er schreibt Krimis um den Superschnüffler Rock Rockenschaub, die am Wiener Brunnenmarkt spielen, und Reportagen für Zeitungen.