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Der Zuschauer als Hauptfigur

Von Heike Hausensteiner

Reflexionen

Der Literaturwissenschafter Reiner Steinweg verbindet die Theorie der "Lehrstücke" von Bertolt Brecht mit der Praxis der Friedens- und Konfliktforschung.


Wird am 29. Juni 80 Jahre alt: Reiner Steinweg.
© Hausensteiner

"Das sind Stücke, in denen die Spieler nur für sich selbst spielen, es gibt keinen Regisseur und keine Zuschauer, und die Teilnehmer wechseln ständig die Rollen."

So lässt sich die Grundregel, die Bert Brecht ausdrücklich für seine Lehrstücke vorgegeben hatte, auf den Punkt bringen. Doch diese Intention des im Westen bis weit in die 1960er Jahre verfemten Schriftstellers blieb vielen verborgen.

Reiner Steinweg nahm diese Grundregel als Literaturwissenschafter ernst, erforschte ihre Begründungen sowie ihre literarischen und pädagogischen Konsequenzen. Der gebürtige Deutsche ist auch Friedens- und Konfliktforscher und schafft den Spagat, dank seiner Brecht-Forschungen Theater mit Friedenspädagogik zu verbinden. Seit den 1980er Jahren lebt er in Linz, wir treffen ihn in Wien zu einem ausführlichen Gespräch - am Rande eines jährlichen Musikkurses, bei dem er Viola da Gamba spielt.

Nur Fragmente

In der traditionellen Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit wurden Brechts Lehrstücke durchgehend abgewertet, etwa in den Untersuchungen des ostdeutschen Theaterwissenschafters Ernst Schumacher und des westdeutschen Germanisten Walter Hinck. Die Herren meinten, die Lehrstücke seien eine eher misslungene Übergangsphase im Werk von Brecht. Der Tenor war: Die kärgliche Gestaltung der Figuren sei eine erste Entwicklungsstufe, aber noch nicht das große epische Theater des späteren Brecht; da habe er sich nur versucht, es sei missglückt und man müsse es nicht ernst nehmen.

Reiner Steinweg sah das anders, als er 1964 begann, über Brecht zu arbeiten. "Mir fiel als erstes auf, dass in den wissenschaftlichen Äußerungen zu den Lehrstücken ihre Grundregel einfach übergangen wurde. Es wurde nicht mitgedacht, was das für Konsequenzen hat, wenn man Stücke schreibt, die nur der Selbstreflexion und der praktischen Untersuchung von alternativen Handlungsmöglichkeiten dienen sollen. In gewisser Hinsicht ist das Lehrstück die Zuspitzung des epischen Theaters. Brecht hatte immer die Vorstellung, die Hauptfigur im epischen Theater sei der Zuschauer, nicht der Schauspieler, nicht irgendeine Figur, die im Stück gezeigt wird. Das hat er mit dem Lehrstück auf die Spitze getrieben, indem er als Regel erklärte: Hier hat ein Publikum nichts verloren."

Initiiert hat Brecht 1929 seinen Lehrstück-Weg mit "Der Lind-berghflug", darauf folgten in den beiden nächsten Jahren "Das Badener Lehrstück vom Einverständnis", "Der Jasager", "Der Neinsager" und vor allem "Die Maßnahme". In diesem Stück ist bereits der Text so komponiert, dass ein Publikum keinen Platz mehr hat. Vielmehr interagieren die Spieler mit dem Chor, sie sprechen zueinander anstatt zu Zuschauern.

Die Theorie des Lehrstücks war nicht über viele Seiten ausgearbeitet. Es gibt keinen großen Essay von Brecht dazu. Er hinterließ eine Reihe von theoretischen und poetischen Fragmenten, hier ein Satz und da zwei Sätze oder eine Seite. Steinweg, der am 29. Juni 80 wird, hat sämtliche Äußerungen von Brecht und seinen Mitarbeitern dazu zusammengetragen und den Band "Brechts Modell der Lehrstücke - Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen" 1976 in der Edition Suhrkamp herausgegeben.

Hinterließ eine Reihe von Fragmenten zur Theorie des Lehrstücks: Bertolt Brecht, 1954.
© Archiv

Seine Pionierarbeit besteht einerseits darin, das Lehrstück als Typus sowie das zugrunde liegende Theorem überhaupt erst sichtbar gemacht zu haben, und nachzuweisen, dass es wirklich ein eigenes Genre ist.

"Bei ‚Mutter Courage und ihre Kinder‘ (1938) oder ‚Leben des Galilei‘ (1939) bemerkt man schon beim Lesen eine eindrucksvolle Gestaltung der Personen. Das fällt im Lehrstück völlig weg, weil es zwar Rollen gibt, aber die Hauptfigur ist der Spieler - und in jedem Spielversuch entsteht eine völlig anders geartete Hauptfigur. Damit das möglich wird, sind die Umrisse der Figuren in der literarischen Vorlage mit Absicht karg gehalten, nicht fein ausgemalt, sie weisen kein reiches psychisches Innenleben auf. Sie sind beschränkt auf einige wenige Grundzüge. Dadurch entsteht gewissermaßen Platz für die Spieler, für ihre persönlichen Erfahrungen. Weil die Grundregel nicht im Blick war, wurden die Texte meist als ,abstraktes Zeug‘ abgetan", beschreibt Steinweg das Lehrstück-Modell - und fügt hinzu: "Brecht hat als einziger Schriftsteller damals der Selbstreflexion im sozialen und politischen Kontext eine literarische Form geboten. Das ist eine beachtliche Leistung."

Andererseits hat der Brecht-Forscher offensichtlich die Literaturwissenschaft zum Umdenken bewogen. Steinweg schrieb seine Doktorarbeit über "Brechts Theorie der Lehrstücke. Ein Theorie-Praxis-Modell" und wurde 1969 promoviert. Er hatte Glück: Die Studentenbewegung war bereits in vollem Gang, sodass die Lehrstück-Grundthese auf fruchtbaren Boden fiel. 1971 widmete die Literaturwissenschafterin Hildegard Brenner, Herausgeberin der deutschen Literatur-Zeitschrift "Alternative", dem Thema ein Heft.

Revolutionäre "Diss"

Dadurch erfuhr dann auch die ein Jahr später unter dem Titel "Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung" publizierte Dissertation von Steinweg erstaunliche Aufmerksamkeit: Das Buch erschien nach vier Jahren in zweiter Auflage und blieb rund 25 Jahre auf dem Markt. Es war eine Revolution in der Brecht-Forschung und hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Theaterpädagogik. Viele Menschen haben daraufhin versucht, Brechts Lehrstücktheorie in die Praxis umzusetzen: Paul Binnerts (Amsterdam) und Hans Martin Ritter (West-Berlin) sowie Benno Besson (Ost-Berlin) gehörten zu den Vorreitern.

Die Lehrstückpraxis, die Reiner Steinweg anschließend selbst entwickelte, entstand im Kontext der Friedensforschung, für die er ab 1971 ein zweites Studium absolvierte: Sozialwissenschaften - "von der Pike auf", wie er sagt. Seinem zehn Jahre später durchgeführten Forschungsprojekt zur Umsetzung der Lehrstück-Theorie lag die Frage zugrunde: Lässt sich dieser Stücktypus für die Reflexion von Gewalt in kleinen Gruppen nutzen? "Das ist für mich eine zentrale Frage als Friedensforscher - denn es ist unbestreitbar, dass Hitler ohne die große Gewaltneigung oder geradezu Idealisierung von Gewalt in der deutschen Gesellschaft der 20er und 30er Jahre keine Chance gehabt hätte."

Reiner Steinweg suchte nach einer Methode, "wie man Gruppen von insbesondere, aber nicht nur jungen Menschen, ohne ihnen etwas überzustülpen oder sie zu belehren, dazu bewegen kann, sich mit der Frage auseinanderzusetzen: ‚Wo neige ich zur Gewalt, was sind die Folgen, und wie kann ich persönlich dazu beitragen, Gewaltstrukturen aufzulösen?‘ Und das auf lustvoll-spannende und unterhaltsame Weise - das war die Idee".

Die eigentliche literarische Lehrstück-Form lag mit der "Maßnahme" ab dem Winter 1930/31 in vollendeter Form vor. Zu einem Zeitpunkt also, als Sigmund Freud die Psychoanalyse und die Traumdeutung begründet hatte; dieser erörterte 1932 in einem Briefwechsel mit Albert Einstein auf Anregung des Völkerbundes die Möglichkeiten der Wissenschaft, Kriege zu verhindern: "Warum Krieg?"

War Brecht seiner Zeit voraus? Sein Lehrstück-Ansatz weist gewisse Parallelen mit dem "Psychodrama" von Jakob Levy Moreno (1889-1974) auf. "Nur dass sich Moreno auf die psychischen Komponenten konzentrierte, während Brecht die Haltungen interessierten, wie man im sozialen Kontext miteinander umgeht - und wie man das selbstbewusst und in Eigenregie optimieren kann", so Steinweg.

Bert Brecht hatte zum Lehrstück notiert: "Wenn einer am Morgen einen Verrat ausüben will, dann geht er am Morgen in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der ein Verrat ausgeübt wird." Das "Pädagogium" dachte sich Brecht als ein Haus, in dem man Menschen findet, die mit interessierten Laien - Jugendlichen, Arbeitern oder Angestellten - Lehrstück-Szenen spielen. Man probiert Gedanken praktisch aus, erkundet die eigene Haltung, experimentiert spielend damit, testet sie vorher - "vielleicht begeht der Betreffende dann ja keinen Verrat", spitzt es Steinweg zu. Man kann rechtzeitig vorab praktisch prüfen: "Was bewirke ich mit meinem Vorhaben, wenn ich es umsetze?", das war Brechts Grundidee vom Lehrstück.

Er selbst konnte mit diesem Modell nicht experimentieren, weil das der Nationalsozialismus und später die in der DDR verfolgte Linie des Kommunismus verhindert haben. Der Anlass dafür war, dass die "Maßnahme" sich mit den Methoden der kommunistischen Agitation auseinandersetzt. Aber der eigentliche Grund war wohl die Tatsache, dass das Lehrstückspiel im Sinne Brechts ohne Äußerungsfreiheit nicht möglich ist.

Protokoll eines Versuchs

Immerhin gab es 1931 einen Versuch mit dem "Jasager" an der Karl-Marx-Schule in Neukölln in Berlin. Brecht hat die dortigen Schüler nach ihren Reaktionen befragt, ein Protokoll davon angefertigt und veröffentlicht - ohne Zensur. Allemal revolutionär für die damalige Zeit, denn Schüler wurden plötzlich ernst genommen.

"Nur in einem Punkt unterscheidet sich meine Methode deutlich von Brecht: Er war immer der Meinung, zum Lehrstück gehöre Musik. Das habe ich bisher nicht organisieren können, ich würde es gerne, aber es ist ein Riesenaufwand", sagt Steinweg.

Jüngst hat er die Film-Dokumentation "Am reißenden Fluss" über die von ihm entwickelte Lehrstückspiel-Methode anhand einer Szene aus dem Lehrstück "Die Ausnahme und die Regel" herausgebracht. Darin wird anhand eines Lehrstückspiel-Kurses am Wiener "Institut angewandtes Theater" (IFANT) eindrucksvoll herausgearbeitet, dass bei dem Rollentausch jeder Spieler anderes empfindet und darstellt. Andererseits korrespondiert das mit dem Ansatz des Strukturalismus, wonach die Wirklichkeit subjektiv wahrgenommen wird.

Hinweise:

Die DVD mit dem Lehrstück-Film kann beim Schibri-Verlag bestellt werden. Trailer:
http://onlinefilm.org/de_DE/ film/64761. Auf Anfrage (www.reinersteinweg.info) bietet Steinweg etwa an Schulen Lehrstück-Kurstage an.

Am 27./28. September 2019 findet - aus Anlass des 150. Geburtstages von Mahatma Gandhi und des 80. Geburtstages von Reiner Steinweg - das internationale Gandhi-Symposium unter dem Titel "Aktive Gewaltfreiheit" in Linz statt. Nähere Infos: http://gandhi-symposium-2019.blogspot.com

Heike Hausensteiner lebt als freie Journalistin in Wien.