Enzensberger strebt stattdessen die Irritation an. Mit seinen Gedichten, Essays und Dramen versucht er die Leser wachzurütteln, sie zu ermahnen, sich der Realität zu stellen. Um die komplexen und selten auf einen klaren Nenner zu bringenden öffentlichen Debatten aufzugreifen, bedient er sich in den kommenden Jahrzehnten gern des Stilmittels der Collage.
Gleich einem Sammler klaubt er Begriffe wie "staatsgefährdende umtriebe" sowie "nacht- und nebelland" auf, zitiert Werbesprüche und Schlagzeilen und fügt die Schnipsel zu Gedichten über die Gegenwart zusammen. Vom "Weiße(n) Rauschen im Kopfhörer / meiner Zeitmaschine" ist im ersten Gesang seines vielleicht berühmtesten epischen Gedichts, "Der Untergang der Titanic" (1978), die Rede - ein Bild, das Enzensbergers unabänderliches Bemühen darstellt, die diffusen Ereignisse eines bewegten 20. Jahrhunderts einzufangen und zu bündeln.
Er erlebt alle Wege und Umwege dieser langen Zeitspanne mit, ist ein Vielreisender, den es mitunter nach Norwegen, Rom und Kuba verschlägt. Dem geografischen Erkunden der Welt gleicht das geistige Durchdringen der großen Weltanschauungen und Philosophien. Früh liest er Marx, lässt später die "Kommune I" zeitweise bei sich wohnen, prägt die "Gruppe 47" - also jenes lose Bündnis aus Schriftstellern, das die zwischen Heimatfilm und glitzerndem Wirtschaftswunder schlaftaumelnde BRD literarisch zu politisieren sucht - und gründet 1965 die kritische Zeitschrift "Kursbuch".
Diskurs-Flankierung
Was ihn bei all den Zäsuren und Schockmomenten während dieser Dekaden als Beobachter und Ironiker auszeichnet, ist sein Unwillen, sich gefällig auf die Seite eines Parteienlagers zu schlagen. So polemisiert er gegen die konservative Restauration und Restriktion der Adenauer-Gesellschaft genauso wie gegen den naiv revolutionären Tonfall der Neuen Linken, etwa bei den Notstandsgesetzen oder dem Vietnamkrieg.
Enzensberger bleibt sich in seiner Autonomie treu und neigt eher zur Flankierung als zur Lenkung von Diskursen. Die 80er Jahre erweisen sich für den Schriftsteller als Hochphase seines essayistischen Schreibens. In der Aufsatzsammlung "Politische Brosamen" (1982) zeigt er sich als scharfzüngiger Kommentator. Neben der Müdigkeit der Bonner Republik klagt er beständig die Vereinfachungslogik der Boulevardmedien an und wettert mit Adorno im Rücken gegen die verdummende Kulturindustrie aus Bild und Glotze.
Mithin gehört für ihn auch groteske Zuspitzung zum - oftmals im "Spiegel" - gebotenen Repertoire: Saddam Hussein bezeichnet er 1991 als Widergänger Hitlers, 1998 echauffiert er sich über die aus seiner Sicht blinde Gutmütigkeit der deutschen Steuerzahler, die für alles und jeden Abgaben zu entrichten bereit seien.
Dass Enzensberger zu nahezu allen Dingen publizieren kann und Gehör findet, gibt ihn als einen der letzten Universalintellektuellen der Moderne zu erkennen.