Dies betrifft zum einen seine lange währende Allpräsenz in der deutschen Medienlandschaft, zum anderen sein literarisches Tausendsassatum.
Jenseits der Lyrik und Essays, die letztlich den Schwerpunkt seiner Arbeit ausmachen, bewegt er sich auch in den beiden anderen Großgattungen Dramatik und Prosa. Was seine Realisierungen auf diesen künstlerischen Gebieten charakterisiert, ist immer wieder das souveräne Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion.
Minutiös recherchiert
Seinen Anfang nimmt dieses Spiel mit seinem ersten Theaterstück, "Das Verhör in Habana" (1970). Zwar greift der Autor darin auf reale Verhöre von Söldnern zurück, die bei der legendären Schweinebuchtinvasion 1961 den schließlich gescheiterten Versuch unternahmen, eine Konterrevolution gegen Castro zu erreichen.

Gleichwohl entwickelt der Dramatiker Techniken, um Identifikationen mit Agenten bzw. Rebellen hervorzurufen - und sie unmittelbar wieder zu entziehen. Geboten wird eine Frühform des dekons-truktivistischen Theaters, das Ideologien und vermeintlich unhintergehbare Wahrheiten entlarvt. Das Interesse an der Kombination aus dokumentarischem und fiktionalem Schreiben hält bei Enzensberger bis in die Gegenwart an.
Besonders zum Ausdruck kommt es im 2008 veröffentlichten Prosawerk "Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte". Setzt sich die "Biographie" einerseits aus minutiös recherchiertem Archivmaterial zusammen, nutzt Enzensberger die Lücken zur eigenen Ausfüllung. Gar ein Interview mit dem Toten findet sich darin. Es handelt sich bei dem Porträtierten um einen kaisertreuen General aus der Weimarer Republik, der später in den Widerstand gegen Hitler geht. Dass er einem eigentlich konservativen, autoritätshörigen Milieu entstammt und sich zuletzt trotzdem dem nationalsozialistischen Apparat entzieht, lässt ihn als hoch ambivalente Figur in Erscheinung treten.
Wie sie lässt sich auch ihr Autor bis heute nicht einem Lager zurechnen. Enzensberger ist und bleibt an seinem 90. Geburtstag ein Dazwischen-Denker, ein seiltänzelnder Vielschreiber, ein eigensinniger Schalk im Dienste der Aufklärung. Zu hoffen ist, dass der Autor auch das bevorstehende Jahrzehnt kritisch begleitet. Der Titel eines seiner Gedichte, "Das somnambule Ohr", gleicht einer Art Selbstbeschreibung und offenbart den Schriftsteller im Zeichen eines dauerhaften und unerschrockenen Vermessens:
"Und als es endlich still ist - /das Haus hält vor Angst die Luft an -, /vernimmst du ein Sirren, /fast jenseits des Hörbaren, /geisterhaft dünn wie der glitzernde Ring /eines unaufhaltsamen Zählers, // der sich im Dunkeln dreht."