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Hans Magnus Enzensberger: Lest endlich Fahrpläne!

Von Björn Hayer

Reflexionen
Universalintellektueller und Schalk im Dienst der Aufklärung: Enzensberger im Jahr 1993.
© ullstein bild - Brigitte Friedrich

Zum 90. Geburtstag des deutschen Schriftstellers und Tausendsassas am 11. November.


Bequem war er nie. Weder für die Linken noch für die Konservativen. Bis heute hat sich Hans Magnus Enzensberger auf dem ein wenig erhöhten Platz des bundesrepublikanischen Skeptikers gehalten, von wo aus er auf das politische und gesellschaftliche Treiben schaut.

Statt sich jedoch im banalen Kulturpessimismus zu üben, hat sich der am 11. November 1929 im allgäuischen Kaufbeuren geborene Zeitdiagnostiker selbst immer wieder neu erfunden. So auch in seinem aktuellen Coup, der eigentlich ein recht alter ist. Denn bei "Louisiana Story" handelt es sich um eine aus jungen Jahren stammende und wiederentdeckte Erzählung, die Enzensberger anlässlich eines Besuches in den USA verfasst hat.

Um die Begünstigten einer Lebensversicherung zu finden, begibt sich der Protagonist, ein Anwalt und Nachlassverwalter, auf eine Reise in die Südstaaten. Er trifft dort auf eine Bartänzerin, den Direktor eines verschrobenen Naturmuseums, eine Parfümherstellerin sowie eine vermeintliche Voodoo-Hexe. Mehr als die Handlung fasziniert die atmosphärische Dichte, mit welcher der Autor, alias Andreas Thalmayr, das schwüle Klima Louisianas beschreibt. Schwefel liegt in der Luft, Moskitos beherrschen die Sumpfgebiete, wo sich ein rauer Menschenschlag mit Whisky auf den Beinen hält. Und mittendurch bahnt sich der Mississippi, ein "tückischer alter Bursche", seinen Weg.

Fast schon leise

"Er wäscht Amerika langsam aus und schmeißt uns den gelben Dreck vor den Bug." Solche Sätze erweisen sich als so hoch konzentriert wie ein destillierter Zuckerrohrschnaps und transportieren das Bild einer vielschichtigen und zugleich gebrochenen großnationalen Seele. Der american way of life scheitert an der Spaltung zwischen den Weißen und der "Mulattengesellschaft", am Fortschritt, der ganze Regionen und Milieus zurücklässt: "Den Pflanzern", muss der Erzähler erfahren, "geht es nicht mehr so glänzend (. . .). Wer kauft schon noch baumwollene Hemden? (. . .) Schluß mit der Zupferei auf den Feldern, ist doch antiquiert. Baumwolle, Reis und Zucker: das war einmal."

Obgleich er sich in diesem - mit passenden Illustrationen von Hannes Binder versehenen - Werk recht brav, ja, fast schon leise gibt, spürt man in den kritischen Sätzen doch ein wenig die Verve des frühen, aufmüpfigen Enzensberger. Begonnen hat sein Aufstieg in den schriftstellerischen Olymp in den 1950er Jahren mit einer Dagegen-Haltung.

Während manch ein Lyriker sich nach dem Krieg in wohlige Idyllenschreiberei und romantisches Epigonentum flüchtet, steckt Enzensberger bereits mit seinem Debütband "verteidigung der wölfe" (1957) den Finger tief in die Wunde. "Lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: sie sind genauer", ruft er in einem Gedicht all jenen sarkastisch entgegen, die noch immer an dem unverbrüchlich reinen und pathosverklebten Ton der Dichtung vor dem Dritten Reich, verbunden mit Namen wie Gottfried Benn, Stefan George oder Rainer Maria Rilke, festhalten wollen.

Enzensberger strebt stattdessen die Irritation an. Mit seinen Gedichten, Essays und Dramen versucht er die Leser wachzurütteln, sie zu ermahnen, sich der Realität zu stellen. Um die komplexen und selten auf einen klaren Nenner zu bringenden öffentlichen Debatten aufzugreifen, bedient er sich in den kommenden Jahrzehnten gern des Stilmittels der Collage.

Gleich einem Sammler klaubt er Begriffe wie "staatsgefährdende umtriebe" sowie "nacht- und nebelland" auf, zitiert Werbesprüche und Schlagzeilen und fügt die Schnipsel zu Gedichten über die Gegenwart zusammen. Vom "Weiße(n) Rauschen im Kopfhörer / meiner Zeitmaschine" ist im ersten Gesang seines vielleicht berühmtesten epischen Gedichts, "Der Untergang der Titanic" (1978), die Rede - ein Bild, das Enzensbergers unabänderliches Bemühen darstellt, die diffusen Ereignisse eines bewegten 20. Jahrhunderts einzufangen und zu bündeln.

Er erlebt alle Wege und Umwege dieser langen Zeitspanne mit, ist ein Vielreisender, den es mitunter nach Norwegen, Rom und Kuba verschlägt. Dem geografischen Erkunden der Welt gleicht das geistige Durchdringen der großen Weltanschauungen und Philosophien. Früh liest er Marx, lässt später die "Kommune I" zeitweise bei sich wohnen, prägt die "Gruppe 47" - also jenes lose Bündnis aus Schriftstellern, das die zwischen Heimatfilm und glitzerndem Wirtschaftswunder schlaftaumelnde BRD literarisch zu politisieren sucht - und gründet 1965 die kritische Zeitschrift "Kursbuch".

Diskurs-Flankierung

Was ihn bei all den Zäsuren und Schockmomenten während dieser Dekaden als Beobachter und Ironiker auszeichnet, ist sein Unwillen, sich gefällig auf die Seite eines Parteienlagers zu schlagen. So polemisiert er gegen die konservative Restauration und Restriktion der Adenauer-Gesellschaft genauso wie gegen den naiv revolutionären Tonfall der Neuen Linken, etwa bei den Notstandsgesetzen oder dem Vietnamkrieg.

Enzensberger bleibt sich in seiner Autonomie treu und neigt eher zur Flankierung als zur Lenkung von Diskursen. Die 80er Jahre erweisen sich für den Schriftsteller als Hochphase seines essayistischen Schreibens. In der Aufsatzsammlung "Politische Brosamen" (1982) zeigt er sich als scharfzüngiger Kommentator. Neben der Müdigkeit der Bonner Republik klagt er beständig die Vereinfachungslogik der Boulevardmedien an und wettert mit Adorno im Rücken gegen die verdummende Kulturindustrie aus Bild und Glotze.

Mithin gehört für ihn auch groteske Zuspitzung zum - oftmals im "Spiegel" - gebotenen Repertoire: Saddam Hussein bezeichnet er 1991 als Widergänger Hitlers, 1998 echauffiert er sich über die aus seiner Sicht blinde Gutmütigkeit der deutschen Steuerzahler, die für alles und jeden Abgaben zu entrichten bereit seien.

Dass Enzensberger zu nahezu allen Dingen publizieren kann und Gehör findet, gibt ihn als einen der letzten Universalintellektuellen der Moderne zu erkennen.

Dies betrifft zum einen seine lange währende Allpräsenz in der deutschen Medienlandschaft, zum anderen sein literarisches Tausendsassatum.

Jenseits der Lyrik und Essays, die letztlich den Schwerpunkt seiner Arbeit ausmachen, bewegt er sich auch in den beiden anderen Großgattungen Dramatik und Prosa. Was seine Realisierungen auf diesen künstlerischen Gebieten charakterisiert, ist immer wieder das souveräne Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion.

Minutiös recherchiert

Seinen Anfang nimmt dieses Spiel mit seinem ersten Theaterstück, "Das Verhör in Habana" (1970). Zwar greift der Autor darin auf reale Verhöre von Söldnern zurück, die bei der legendären Schweinebuchtinvasion 1961 den schließlich gescheiterten Versuch unternahmen, eine Konterrevolution gegen Castro zu erreichen.

Gleichwohl entwickelt der Dramatiker Techniken, um Identifikationen mit Agenten bzw. Rebellen hervorzurufen - und sie unmittelbar wieder zu entziehen. Geboten wird eine Frühform des dekons-truktivistischen Theaters, das Ideologien und vermeintlich unhintergehbare Wahrheiten entlarvt. Das Interesse an der Kombination aus dokumentarischem und fiktionalem Schreiben hält bei Enzensberger bis in die Gegenwart an.

Besonders zum Ausdruck kommt es im 2008 veröffentlichten Prosawerk "Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte". Setzt sich die "Biographie" einerseits aus minutiös recherchiertem Archivmaterial zusammen, nutzt Enzensberger die Lücken zur eigenen Ausfüllung. Gar ein Interview mit dem Toten findet sich darin. Es handelt sich bei dem Porträtierten um einen kaisertreuen General aus der Weimarer Republik, der später in den Widerstand gegen Hitler geht. Dass er einem eigentlich konservativen, autoritätshörigen Milieu entstammt und sich zuletzt trotzdem dem nationalsozialistischen Apparat entzieht, lässt ihn als hoch ambivalente Figur in Erscheinung treten.

Wie sie lässt sich auch ihr Autor bis heute nicht einem Lager zurechnen. Enzensberger ist und bleibt an seinem 90. Geburtstag ein Dazwischen-Denker, ein seiltänzelnder Vielschreiber, ein eigensinniger Schalk im Dienste der Aufklärung. Zu hoffen ist, dass der Autor auch das bevorstehende Jahrzehnt kritisch begleitet. Der Titel eines seiner Gedichte, "Das somnambule Ohr", gleicht einer Art Selbstbeschreibung und offenbart den Schriftsteller im Zeichen eines dauerhaften und unerschrockenen Vermessens:

"Und als es endlich still ist - /das Haus hält vor Angst die Luft an -, /vernimmst du ein Sirren, /fast jenseits des Hörbaren, /geisterhaft dünn wie der glitzernde Ring /eines unaufhaltsamen Zählers, // der sich im Dunkeln dreht."

Literaturhinweis:
Zuletzt ist unter dem von Enzensberger gelegentlich verwendeten Namen Andreas Thalmayr erschienen: Louisiana Story. Mit Illustrationen von Hannes Binder. Hanser, München 2019, 80 Seiten, 19,60 Euro.

Björn Hayer, geboren 1987 in Mannheim, ist Germanist, Universitätsdozent und Journalist.