
"Wiener Zeitung": Wie geht es Ihnen?
Eva Menasse: Eigentlich ganz gut. Nachdem man sich an die Panik gewöhnt hat, ist mein Leben jetzt nicht so besonders anders als vorher, etwas unwirklicher vielleicht. Mein Sohn ist gerade bei seinem Vater und ich sitze hier und schreibe.
Homeoffice ist für Sie also Standard?Naja, normalerweise gehe ich zum Schreiben in die Bibliothek. Dadurch wird mein Tag besser strukturiert. In der Bibliothek arbeite ich, zu Hause beantworte ich E-Mails und mache Büroarbeit. Jetzt rinnt das alles ineinander, und es ist schwieriger, Berufliches vom Privatleben zu trennen.
Sie sprachen eingangs von Panik. Sind Sie panisch?
Nein, jetzt nicht mehr. Mir ging es nicht gut zu der Zeit, als ich dachte, ich habe etwas begriffen, was eine Mehrzahl noch nicht begriffen hat. Seit meine Vorsicht sich mit der allgemeinen Vorsicht deckt, gehts mir besser.Aber noch Anfang März war ich bei einem Elternabend, wo die Eltern sauer waren, dass der Frankreichaustausch unserer Kinder abgesagt wurde. Da dachte ich, ich bin im falschen Film. Das war so ein Moment, wo es mir gar nicht gut ging, weil man sich dann ja fragt, wer spinnt jetzt, ich oder die anderen?!
Also halten Sie sich strikt an das Kontaktverbot?
Ja, absolut. Ich will das auf keinen Fall bekommen, schon gar nicht jetzt.
Also, Sie sehen niemanden außer Ihrer Familie?
Ja, ich sehe niemanden außer meinem Sohn und meinem Freund, gehe höchstens einmal in gebührendem Abstand mit Freundinnen spazieren.
Ist bei Ihnen eigentlich schon viel ausgefallen wegen Corona?

Nur ein paar Lesungen und Termine, und dann wäre ich natürlich Anfang März nach Wien gefahren, um den 90. Geburtstag meines Vaters (des ehemaligen Fußballers Hans Menasse, Anm.) zu feiern, der coronabedingt ausgefallen ist. Das tut mir allerdings sehr leid.
Was halten Sie denn von den Maßnahmen der deutschen Bundesregierung, gerade auch im Vergleich zu Österreich?
Ich verfolge ja immer auch die dortigen Nachrichten, und die Österreicher waren eben viel schneller mit den Ankündigungen und Maßnahmen. Ich wurde also zu Beginn der Krise geradezu wieder Österreicherin, die anfängliche Berliner Zögerlichkeit hat mich verstört. Und wie so oft, seit ich in Deutschland lebe, bin ich fast irre geworden am deutschen Föderalismus. Das ist für mich, die aus einem zentral regierten Land kommt, schon manchmal ziemlich merkwürdig. Jetzt scheint es ja zu klappen und beide Länder werden, wie es momentan aussieht, halbwegs glimpflich davonkommen.
Manches ist wirklich absurd. In Berlin dürfen etwa die Buchhandlungen öffnen, in Frankfurt müssen sie schließen.
Ja, das ist ja eben das, diese Uneinheitlichkeit der Regelungen. Das ist für die Leute sehr schwierig. Und ich halte das auch für falsch.
In Österreich gilt nunmehr in bestimmten Bereichen, beim Einkaufen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, Mundschutzpflicht. Wie halten Sie das, tragen sie einen?

Ich bin wie Millionen anderer ein glühender Fan von Christian Drosten, dem Virologen der Charité. Ich höre jeden Tag seinen Podcast. Diese ausgewogene Wissenschaftlichkeit hat etwas ungemein Beruhigendes. Man kann Ängste ja gut mit dem Verstand lindern, nicht alle, aber viele. So wie es mir geholfen hat, bei meiner Flugangst ein Seminar zu machen und zu lernen, wie ein Flugzeug eigentlich fliegt, ist es heute gut, zu wissen, wie dieses Virus funktioniert: woher es kommt und was man schon darüber weiß. Und dann kommt Drosten immer wieder zu der Frage mit dem Mundschutz. Er sagt, jeder müsse wissen, dass es einen selbst nicht schützt, aber es sei ein Gebot der Höflichkeit den anderen gegenüber. Also ja, ich habe inzwischen einen wunderschönen Mundschutz, den mir eine Freundin genäht hat und den ich aufsetze, wenn ich in den Supermarkt gehe. Als kulturelle Zukunftsvision finde ich es aber nach wie vor gruselig. Ich habe mir schon vorgestellt, falls es je wieder Lesungen gibt, dass dann da alle mit Mundschutz sitzen. Das ist im Moment noch schwer.
Apropos Drosten und Corona-News: Wie informieren Sie sich in diesen Tagen?
Ich lese noch viel mehr Zeitungen als vorher, man kann auch sagen: Ich verschwende mehr Zeit mit exzessiver Zeitungslektüre zum Thema Corona, wobei ich an manchen Tagen gemerkt habe, dass es besser ist, mal Pause zu machen. Als das so katastrophal wurde in Italien, hat mich das so mitgenommen, dass ich es mir ein paar Tage verbieten musste.
Viele gewinnen der Krise schon jetzt auch Positives ab, wie etwa der Zukunftsforscher Matthias Horx, der die Krise von ihrem Ende her betrachtet. Halten Sie das für zu optimistisch?
Mir kommt es nur wieder wie ein Beweis dafür vor, dass unsere Welt einfach grundsätzlich zu schnell läuft. Dass uns die dauernde Beschleunigung, auch durch die Globalisierung, in diese Situation gebracht hat, kann man ja nicht von der Hand weisen. Wenn man jetzt schon nach einem Monat Krise weiß, wie es danach sein wird, kommt mir das ein bisschen putzig vor. Ich verstehe den Impetus, würde mich aber mit Prophezeiungen zurückhalten.
Das andere ist die derzeitige Solidarität mit traditionell schlechtgestellten Berufsgruppen wie etwa dem Pflegepersonal. Wie nachhaltig ist diese Solidarität, glauben Sie?
Ich hoffe doch, dass sich da etwas verändern wird. Im Gesundheits- und Pflegesystem, auch für die Supermarktangestellten muss sich etwas ändern, und vielleicht ist das der Schock, den wir gebraucht haben.
Vielerorts wird aber auch die Frage laut, ob wir uns derzeit unsere Grundrechte zu leicht rauben lassen.
In einer freien Gesellschaft ist es möglich, über alles zu jeder Zeit zu reden, und also sollen wir auch in dieser Krise über die Grundrechte reden. Es ist nur im Moment gar nicht mein Thema, weil ich überhaupt nicht den Eindruck habe, dass da in Deutschland oder in Österreich etwas schiefgeht. Wo es entgleist, das sehen wir etwa in Ungarn. Aber hier wird doch nicht über unsere Köpfe hinweg regiert, und ich glaube, dass die Mehrheit der Bevölkerung das deshalb mitträgt.
Viele von denen, die sonst keine Probleme haben, genießen die zwangsverordnete Entschleunigung regelrecht. Wie ist das bei Ihnen?
Ich empfinde überhaupt keine Entschleunigung. Ich bin ängstlich und hoffe, dass es bald vorbei geht. Ich halte das auch für eine Luxusgeschichte, die nur einen ganz geringen Teil der Bevölkerung betrifft, aber eben denjenigen, der sich überproportional öffentlich äußert.
Was zurzeit überall kursiert, sind besondere Leselisten mit Seuchenliteratur, allen voran "Die Pest" von Albert Camus. Hatten Sie das Bedürfnis, diesen Roman noch einmal zu lesen?
Ich hatte vor allem das Bedürfnis, das eine Buch nicht zu lesen, das mir sofort eingefallen ist, obwohl es auf keiner dieser Leselisten steht: "Das Glück der anderen" des US-Autors Stewart ONan. Das ist ein Seuchenroman, den ich damals, als ich ihn gelesen habe, so gruselig fand, dass ich danach wochenlang beunruhigt war. Der steht hier wie radioaktives Gift im Regal und strahlt mich an. Das Buch will ich nie mehr lesen.
Aber Sie würden es dennoch empfehlen?
Ich würde es unbedingt empfehlen! Es ist ein unglaubliches Buch, das die existenzielle Not und die Beklemmung, die mit einer Seuche ausbricht, fast physisch erlebbar macht. Ich selbst könnte das nur jetzt auf keinen Fall lesen.
Und was liest Eva Menasse?
Ich lese einfach die Bücher weiter, die ich gerade zum Arbeiten brauche. Ich lese natürlich auch Neuerscheinungen, die mich interessieren. Wenigstens mein Leseverhalten hat sich durch Corona nicht verändert.
Und wie sieht Ihr sonstiges kulturelles Leben derzeit aus?
In den ersten Tagen ist mir aufgefallen, dass sämtlicher Kulturkonsum einen ja noch mehr mit der Nase auf das Dilemma stößt. In jeder Serie versammeln sich Menschen, fahren in überfüllten Verkehrsmitteln, sind auf Partys, verlieben sich und treten in Gruppen auf. Und in jedem Buch gibt es eine Tischgesellschaft oder eine Reise. All das, was das normale Leben ist, ist auch in den Serien und in den Büchern vorhanden - und wirkt jetzt wie Hohn. Ich habe mich dann mit der TV-Serie "Breaking Bad" abgelenkt, weil das so irre ist, dass man wirklich alles um sich herum vergessen kann. Aber da bin ich eben eine von den Glücklichen, die es noch immer nicht zu Ende gesehen hat.
Viele machen ja jetzt auch Sport wie verrückt.
Ja, das ist die größte Änderung meines Lebens zurzeit: Ich mache freiwillig und allein zu Hause Yoga. Das, was ich früher nie geschafft habe. Aber nach zwei Wochen ohne Bewegung habe ich gemerkt, dass ich sonst als Rosthaufen hier wieder rauskomme.
Die Berliner Philosophin Svenja Flaßpöhler hat in ihrem Corona-Tagebuch erzählt, dass sie mit der ganzen Familie in ihren Kleingarten gezogen ist. Hatten Sie auch überlegt, in Ihr Häuschen auf dem Land zu ziehen?
Ich denke täglich darüber nach, aber da hat sich wirklich etwas verändert. Normalerweise wäre ich schon dort und würde den Garten umgraben. Aber im Moment will ich nicht raus, weil ich das Eingesperrtsein in der Wohnung schon als Maximum an Einsamkeit empfinde. Aber wenn ich hier aus dem Fenster schaue, sehe ich wenigstens Großstadt und viele andere Leute. Das, was ich sonst draußen suche, nämlich die Einsamkeit und die Natur, das kommt mir jetzt geradezu bedrohlich vor.