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Volker Klotz und Helmut Lethen: Goldsucher und Zeichendeuter

Von Hermann Schlösser

Reflexionen
Anerkannte Forscher, brillante Schreiber: Volker Klotz (l.) und Helmut Lethen.
© Horst Rudel (l.); Anna Weise

Die beiden Literatur- und Kulturwissenschafter berichten aus ihren Leben. Dabei zeigen sich Nachbarschaften - nicht nur im Sozialcharakter des "linken Professors".


Zwei Professoren haben unlängst ihre Lebensrückblicke veröffentlicht: Der Stuttgarter Germanist Volker Klotz, der im Dezember 2020 neunzig Jahre alt geworden ist, und der in Wien lebende, neun Jahre jüngere Kulturwissenschafter Helmut Lethen. Beide sind anerkannte Forscher und brillante Schreiber, deren Bücher nicht nur für Spezialisten von Interesse sind. Klotz hat mit seinen Arbeiten (u.a. "Dramaturgie des Publikums", "Erzählen") das Verständnis der Kunstformen und ihrer Wirkungen vertieft. Lethen hat in scharfsichtigen Studien (u.a. "Verhaltenslehren der Kälte", "Der Sound der Väter") die Haltungen der linken und der rechten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts verglichen. Er ist dabei auf faszinierende Übereinstimmungen gestoßen, die er als "unheimliche Nachbarschaften" bezeichnet hat.

Nachbarschaften - aber keineswegs "unheimliche" - zeigen sich auch in den zwei Erinnerungsbüchern. Die banalste: Die Verfasser kennen einander. Klotz berichtet, dass sein Buch bei Gesprächen mit Lethen im Wiener Restaurant Oliva Verde erste Konturen annahm. Darüber hinaus haben sie viel Generationsspezifisches gemeinsam: Beide sind in katholischen Familien aufgewachsen, beide erinnern sich an die Schrecken der Bombennächte im Zweiten Weltkrieg, beide sind ihren provinziellen Heimatorten samt deren nationalsozialistischer Erblast entflohen.

Klotz, geboren 1930 in Darmstadt, fand in dem Germanisten und Dichter Walter Höllerer einen anregenden Mentor. Lethen, geboren 1939 in Mönchengladbach, berichtet, dass Max Frischs Roman "Stiller" von entscheidender Bedeutung für ihn gewesen sei. Dort sah er seinen dringlichsten Wunsch formuliert: "anders zu sein, als man erschaffen ist".

Im studentenbewegten Jahr 1968 war Volker Klotz Dozent an der Technischen Universität West-Berlin. Als Linker teilte er mit den rebellierenden Studenten einen gemeinsamen Feind: die Bundesrepublik Deutschland, die er als Nachfolgestaat des Dritten Reichs und als Kolonie des US-Imperialismus ansah (ein Urteil, das sich für ihn 1989 durch die "Annektion" der DDR bestätigen sollte). Zugleich schreckte Klotz, der als Kind noch die "Hitlerjugend" erlebt hat, vor Massenaufmärschen zurück. Wenn die Demonstranten sangen: "Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist", dann störte den Theaterkenner das verlogene Rollenspiel entlaufener Bürgerkinder. Trotzdem empfindet er noch immer ein "bübisches Vergnügen" daran, dass auch er einst einen Stein auf die Fensterscheiben des Axel-Springer-Hauses geworfen hat.

Intellektuell animierend

Helmut Lethen gehörte 1968 zu den Studenten, die den Berliner Germanistentag sprengten, um Vertreter der "bürgerlichen Wissenschaft" mundtot zu machen (was er heute bedauert), und er trug einmal für kurze Zeit Rudi Dutschkes Lederjacke (was ihn belustigt). Subtil analysiert er, wie der Entgrenzungsrausch der Revolte vom geordneten Marsch in den Dogmatismus abgelöst wurde. Als Gründungsmitglied der maoistischen KPD-AO weiß er deren disziplinierende Kraft noch immer zu würdigen. Wie er berichtet, erwarb er schon vor dem Studium als Reserveoffizier der Bundeswehr ein Gespür für die Faszination straff geführter Verbände. Das unterscheidet ihn vom strikten Anti-Militaristen Klotz, der als "weißer Jahrgang" weder mit der Wehrmacht noch mit der Bundeswehr zu tun hatte.

Die beiden Autobiographen verkörpern also den Sozialcharakter des "linken Professors", wie er ab den mittleren 1960er Jahren in Erscheinung trat. Aber auch linke Professoren haben einen Hang zum Didaktischen. Also werden Antrittsvorlesungen und Fachbereichskonferenzen umfangreich referiert und viele Kollegennamen aufgelistet. Da darf man zuweilen vom unveräußerlichen Leserrecht des Überblätterns Gebrauch machen. Dennoch sind beide Bücher zeithistorisch interessant und intellektuell animierend. Und im Vergleich gelesen illustrieren sie, wie markant sich die Lebensentwürfe "linker Professoren" voneinander unterscheiden können.

© Königshausen & Neumann

Klotz erklärt kategorisch: "Beileibe keine Autobiographie liegt hier vor. Mit jenem publizistischen Genre für redselige Selbstsucher hat das Unternehmen ,Scheu vorm Artefakt‘ allenfalls kompositionstechnisch zu tun." Ein Selbstsucher ist Klotz wahrhaftig nicht, aber redselig ist er schon. Beschwingt und witzig erzählt er von seinem langen Leben mit der Kunst: Lehre an verschiedenen Hochschulen, Forschungsreisen in viele europäische Länder. Wie es sich für eine Autobiographie gehört, berichtet Klotz auch aus seinem Privatleben: Seine drei Töchter werden in ironisch verfremdeter Vaterliebe porträtiert, und als dauerhaft wichtigster Mensch im Leben des Neunzigjährigen erscheint seine Ehefrau Aiga. Um trotzdem nicht mit einem Trivial-Autobiographen verwechselt zu werden, schreibt sich Klotz zwei Rollen zu: Als "Gambusino" spürt er die Qualitäten der Kunstwerke auf, und als wissenschaftlicher "Wanderprediger" teilt er mit, was er beim Lesen, Reisen, Schauen und Hören gefunden hat. ("Gambusino" - so nennt man in Mexiko einen Goldsucher. Wer wie Klotz "Das Vermächtnis des Inka" von Karl May gelesen hat, weiß das.)

Dreifach bedeutsam

"Scheu vorm Artefakt?" Der Titel des Ganzen mag sperrig wirken, ist aber gut begründet. Treffend analysiert Klotz die Neigung seiner Mitmenschen, den Herausforderungen und Verführungen der Kunstwerke auszuweichen. Entweder wird das Werkinteresse durch Klatschgeschichten über die Künstler ersetzt, oder es werden abstrakte Theorien gebildet, die über die Eigenheiten der Artefakte hinweggehen. Gegen beide Befangenheiten schreibt der Autor mit dem Gewicht seiner langen Lebenserfahrung an. Er plädiert dafür, die Kunstwerke aller Zeiten, Kulturen und Genres immer wieder neu auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Diese kritische Traditionsliebe steht im Widerspruch zur digitalisierten Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts, die meist wenig Geduld zeigt mit allem, was den aktuellen moralischen Maßstäben nicht entspricht.

Helmut Lethen liebt bis heute die Popmusik seiner Jugendzeit, "Hey Jude", "Ruby Tuesday" usw., und sympathisiert mit der coolen Lässigkeit Amerikas. Aber seine Lockerheiten sind eingespannt in theoretische Konstruktionen. Ein Beispiel: 1933 schenkte Walter Benjamin seinem Freund Bertolt Brecht ein Exemplar von Balthasar Graciáns "Handorakel". In diese barocke Lebenskunstlehre schrieb der Philosoph einen Vers aus Brechts "Dreigroschenoper" als Widmung: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug." Das ist auch der Titel von Lethens Buch, der also dreifach bedeutsam ist: als Verbeugung vor Brecht und Benjamin und als Verweis auf Lethens Studie "Verhaltenslehren der Kälte". Dort wird nämlich gezeigt, dass der spanische Jesuit Gracián ein Lieblingsautor der Weimarer Intellektuellen gewesen ist.

Solche Überblendungen gibt es viele in diesen Lebenserinnerungen, und nicht immer erklärt der Autor deren Spielregeln. Autobiographische Sinnstiftungen funktionieren seiner Ansicht nach besonders gut, wenn sie nicht restlos durchschaut werden: "Nichtwissen ist ein wichtiger Faktor bei der Verbindung von Ereignissen und magisches Denken gründet darauf. In meiner Erinnerung erzeugt es Erzählmuster, die in dunkler Erkenntnis das Daseinsgefühl erhöhen." So artikuliert sich ein Kulturtheoretiker, der den wechselnden Zuständen seines Lebens auf der Spur ist. Da er als junger Mann den Wunsch verspürte, "anders zu sein, als man erschaffen ist", ist die Vorstellung einer lebenslang konstanten "Identität" für ihn weder reizvoll noch glaubwürdig.

Lethen, dessen Buch die Widmung "Meinen fünf Söhnen" trägt, kommt auch auf sein Privatleben zu sprechen. Weniger monogam als sein Kollege Klotz, erzählt er von mehreren Ehefrauen und Freundinnen. Allerdings brodelt in der Familie seit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 eine Kontroverse, die auch das Medieninteresse erregt hat.

Blick auf die Gegenwart

Während Lethen die "Willkommenskultur" unterstützte, schloss sich seine viel jüngere Ehefrau, die Philosophin Caroline Sommerfeld-Lethen, der rechtsextremen Identitären Bewegung an. Sie veröffentlichte 2017 zusammen mit Martin Lichtmesz das Buch "Mit Linken leben", in dem sie die Ansichten ihres Mannes als ideologisch verblendet kritisierte. Lethen, der sich mit "unheimlichen Nachbarschaften" auskennt, reagiert darauf zurückhaltend. Er gibt nur einiges zu bedenken, was gegen das mythologisierende Geschichtsdenken der Rechten spricht: "Im Zeitraffer entwerfen sie Zukunft und Vergangenheit. Das bringt sie dem Mythos eines Ursprungs so nah wie dem des Untergangs."

Leser und Leserinnen aus seinem Umfeld werden das überzeugend finden, seine Frau hingegen glaubt ihm nichts: "Für sie sind das keine rationalen Argumente, sondern Schuldbewusstseinsargumente, Lesefrüchte aus der Zeit der Besatzung, nicht wildes, sondern umerzogenes Denken."

© Rowohlt Berlin

Man sieht, die Denkweisen "linker Professoren" werden nicht mehr überall geteilt. Das gilt schon seit 1989, als die Rede vom "Ende der Geschichte" und von der "Alternativlosigkeit" des Kapitalismus die Oberhand gewann. Auch diese Epochenschwelle schlägt sich in den autobiographischen Rückblicken der Professoren nieder. Klotz lehnt alle neueren Entwicklungen (die Digitalisierung, das Bachelor-Studium, die Privatisierung der Kulturangebote) rundheraus ab. Auch in der aktuellen Kunst sucht der Gambusino nicht mehr nach Goldadern: Kein Buch, kein Theater- oder Musikstück des 21. Jahrhunderts wird von ihm beachtet.

Der etwas jüngere Lethen steht der Gegenwartskunst näher. In resignativer Wachheit zitiert er zum Beispiel ein Lied der Wiener Band 5/8erl in Ehr’n, das auch hier das letzte Wort haben soll: "Badeschluss, es is vorbei / Wo da Tag die Nacht begrüßt / Badeschluss, es is vorbei / Weu da Andere kan Andern vermisst."

Volker Klotz: Scheu vorm Artefakt? Abenteuer eines kunstbedachten Gambusinos und Wanderpredigers. Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, 537 Seiten, 49,40 Euro.

Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen. Rowohlt Berlin, Berlin 2020, 382 Seiten, 24,70 Euro.