"Wiener Zeitung": Frau Vossoughi, was kommt Ihnen momentan als Erstes in den Sinn, wenn Sie an die Zukunft denken? Die Lage für Kulturschaffende ist aufgrund der Corona-Pandemie ja nicht einfach.

Nuschin Vossoughi:Ich bin ein positiver Mensch und sehe jegliche Beeinflussung von außen, so groß diese gerade auch sein mag, als eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung. Durch die Covid-19-Bestimmungen und die wochenlangen Schließungen der Theater hatte ich Zeit zu reflektieren, die ganze Lage zu überdenken - auch was mein persönliches Leben betrifft. Plötzlich weiß man noch mehr zu schätzen, was man hat, dass man gesund ist, dass man das Glück hat, mit so vielen wunderbaren Künstlerinnen und Künstlern in Kontakt stehen zu dürfen. Das Erste, das mir in den Sinn kommt, wenn ich an die Zukunft denke, ist, dass man sich nicht fallenlassen darf, sondern aktiv bleiben muss.

Bühne frei für alle Arten von Musik im "TaS". - © TaS / Archiv
Bühne frei für alle Arten von Musik im "TaS". - © TaS / Archiv

Neue Ideen zu entwickeln und aktiv zu sein, das dürfte gleichzeitig auch eine Art Lebensmotto von Ihnen sein...

Das ist der springende Punkt, man muss Ideen haben und immer in Bewegung bleiben. Ich bin es von Beginn an in meinem Leben gewohnt gewesen, die Jobs und Projekte, denen ich mich gewidmet habe, alle selber zu erfinden. Man hat mir nichts in den Schoß gelegt. Ein Beispiel: Mir hat Gesang immer gut gefallen. Als ich zum ersten Mal A-cappella-Musik hörte, war ich so begeistert, dass ich daraufhin das A-cappella-Festival "Voice Mania" ins Leben gerufen habe, zu einem Zeitpunkt, als dieser Begriff in Österreich noch gar nicht richtig etabliert war.

Was sind Ihre nächsten Zukunftspläne?

2022 feiern wir 20 Jahre Theater am Spittelberg. Anlässlich dieses Jubiläums werden wir eine CD herausbringen, mit den Vorbereitungen dafür beginne ich schon jetzt. Wenn ich meine Zirkusfamilie anrufe, also all jene Künstlerinnen und Künstler, die gemeinsam mit mir dieses Haus aufgebaut haben, sind viele ganz erstaunt, dass ich so gut drauf bin und voller Energie in die Zukunft blicke.

Beim ersten Lockdown im Frühjahr 2020 haben Sie die Zeit genutzt und in Ihrem Theater Live-Einspielungen für das Doppelalbum "20 Jahre Wien im Rosenstolz" gemacht, das Ende letzten Jahres erschienen ist. Der Lockdown war also keine verlorene Zeit.

Nein, ganz im Gegenteil! Würde man mich fragen, was in all den vielen Jahren ein ganz besonderes Highlight für mich war, würde ich antworten: die Entstehungsgeschichte dieser CD. Alle Künstlerinnen und Künstler haben sofort zugesagt - und es gab eine hervorragende Zusammenarbeit mit den jungen Tontechnikern des Hauses. Ein Tontechniker ist jünger als das Festival!

Gibt es für einen kreativen Menschen überhaupt so etwas wie verlorene Zeit?

Für mich nicht, weil im Gegensatz zu dem, was ich früher, in jüngerem Alter, immer behauptet habe, nämlich, dass ich alles kann, bin ich nun in einem Alter, wo ich den Eindruck habe, dass ich jeden Tag unglaublich viel dazulerne. Aus jedem Gespräch, aus jeder Begegnung kann man so vieles für sich mitnehmen. Derzeit beschäftige ich mich mit der Fachsprache, die für das Aufsetzen von Verträgen verwendet wird. Das ist Neuland für mich, und je mehr ich mich damit befasse, desto mehr merke ich, das interessiert mich!

Sie haben viele Kontakte zur Wiener Musikszene. Wie war hier Ihre Beobachtung: Ist in letzter Zeit viel Neues entstanden oder war die Produktivität der Musikschaffenden coronabedingt eher rückläufig?

Am Theater am Spittelberg haben wir nach dem ersten Lockdown im Juli sofort die Bühne wieder geöffnet und bis zum zweiten Lockdown vier Monate gespielt. In dieser Zeit waren die schönsten Konzerte, die ich in diesem Haus je erlebt habe. Zum einen aufgrund der Euphorie des Publikums, die den Künstlern entgegengebracht wurde. Zum anderen der Hunger der Künstler, endlich spielen zu dürfen, diese volle Konzentration und Fokussierung auf das Wesentliche auf der Bühne. Weil nur die Hälfte des Publikums zugelassen war, waren es ganz intime und ungemein berührende Konzerte. Fast bei jedem gab es am Schluss Standing Ovations. Diese Monate waren die emotionalsten, die ich bisher erlebt habe.

Ursula Strauss und Ernst Molden bei ihrem Auftritt im Theater am Spittelberg im Sommer 2020. - © Dietmar Lipkovich
Ursula Strauss und Ernst Molden bei ihrem Auftritt im Theater am Spittelberg im Sommer 2020. - © Dietmar Lipkovich

Woher rührt generell Ihre Begeisterung für Kunst und Kultur?

Ich glaube, in meiner Familie haben alle einen gewissen Hang zur Kunst. Ein Schlüsselerlebnis war sicherlich, als ich im Alter von 13 Jahren im Theater an der Wien ein Soloprogramm von Samy Molcho gesehen haben. In einer Szene stellte er einen Vogel dar, wir saßen in der ersten Reihe und ich dachte mir: Der fliegt gleich auf mich zu! Ich selbst bin zwar nicht künstlerisch aktiv, aber ich war von jeher diejenige, die Bühne und Podium für andere anbietet und dann das Ergebnis extrem genießen kann.

Regie oder Choreographie zu führen war für Sie nie eine Option?

Nein, das war nur in der Schule immer meine Stärke: Bei allen Tanz- oder Theateraufführungen habe ich Regie geführt, aber nach der Matura entschied ich mich für ein Publizistikstudium, wobei mich im Journalismus am meisten die Fotografie gereizt hätte.

"Ich bin es von Beginn an in meinem Leben gewohnt gewesen, die Jobs und Projekte, denen ich mich gewidmet habe, alle selber zu erfinden. Man hatmir nichts in den Schoß gelegt." - © Andreas Müller
"Ich bin es von Beginn an in meinem Leben gewohnt gewesen, die Jobs und Projekte, denen ich mich gewidmet habe, alle selber zu erfinden. Man hatmir nichts in den Schoß gelegt." - © Andreas Müller

Der berufliche Weg ging dann allerdings im Wiener Metropol los, wo Sie von 1981 bis 1991 an der Seite von Alf Krauliz arbeiteten.

Alf Krauliz war nicht nur Gründer und Leiter des Wiener Metropol, sondern auch der Erfinder des Wiener Stadtfestes, das parallel zu meiner Arbeit im Metropol immer meine Agenda war. Diese zehn Jahre waren sicherlich ungemein prägend für mein späteres berufliches Leben.

Weil Sie Kontakte zu den unterschiedlichsten Künstlern knüpfen konnten?

Ja, davon profitierte ich auch, als ich nach dem Metropol für das künstlerische Programm im Vorstadt Gasthaus in der Herbststraße verantwortlich war. Viele Künstlerinnen und Künstler sind sozusagen weitergezogen mit mir. Hansi Lang hat mit mir im Garten die Sessel gestrichen, es gibt ganz viele Künstler, die mir die Treue halten und zu denen ich eine ganz besondere Verbindung gibt.

An wen denken Sie da zum Beispiel?

Auf jeden Fall an Michael Heltau, Karl Hodina, Roland Neuwirth, Erika Pluhar und Georg Danzer. Diese Menschen haben mich als Perserin von Beginn an in ihre Kultur reingelassen und sehr akzeptiert. Auf der anderen Seite war ich immer kulturverbindend, unabhängig von Parteipolitik. Das Metropol war ja ein "schwarzes" Haus, das darf man nicht unterschätzen, und hat gleichzeitig aber keine Rolle für die Künstler gespielt. Nie werde ich vergessen, als Georg Danzer nach einem Fest im Metropol anlässlich seines Geburtstages zu mir kam und sagte: Danke, Nuschin. Dieses Danke war für mich die Eintrittskarte in die Wiener Kulturlandschaft. Das Gleiche gilt für Heltau, sein künstlerisches Schaffen, seine ganze Art berührt mich bis heute.

Erika Pluhar kenne ich auch bereits über 40 Jahre. Sie war die erste Künstlerin aus dem Hochkulturbereich, die auch im Theater am Spittelberg aufgetreten ist und damit den Weg für alle anderen geebnet und geöffnet hat. Sie ist ein besonderer Mensch.

Wobei ich im Grunde gar nicht bewerten möchte, weshalb ich manche Menschen besonders schätze. Ich bin ein absoluter Bauch- und Herzmensch und kann einfach nur sagen, diesen Menschen verdanke ich es, dass ich im Laufe der Zeit immer mehr in die Wiener Kulturszene hineingesunken bin.

Wie kam es, dass Sie 2003 das Theater am Spittelberg übernahmen?

Ich betreute drei Jahre am Spittelberg den Weihnachtsmarkt mit und im Zuge dessen wurde auch das Ambiente des, wie es damals noch hieß, Jura Soyfer Theaters genutzt. Ich fand es schade, dass dieses Theater seit 15 Jahren mehr oder weniger brachliegt, und rief dort spontan ein Sommerfestival ins Leben. Ab diesem Zeitpunkt habe ich angefangen, mich in das Theater zu verlieben. Es war genau das, wovon ich immer geträumt hatte: eine kleine, intime Bühne, wo man die unterschiedlichsten Veranstaltungen machen kann und nicht irgendwelchen zeitgeistigen Dingen unterworfen ist. Wo sich die Menschen wohlfühlen, man mit den Künstlern gemeinsam etwas entwickeln kann und wo man politisch unabhängig ist, aber doch kulturpolitisch relevant arbeiten kann.

Anfänglich war es also eine reine Sommerbühne?

Ja, das Haus war von Beginn an renovierungsbedürftig. Ich weiß noch, wie Wolfgang Ambros aufgetreten ist und es reinregnete, weil das Dach an vielen Stellen undicht war. Das Publikum ist mit Kübeln herumgelaufen, das war richtiges Abenteuertheater! Auch Klaus Eckel hatte seinen ersten Auftritt in diesem Theater und ebenfalls das Pech, dass es an diesem Tag regnete und dauernd ein Tropfen auf seiner Nase landete. Das wird er wohl nie vergessen in seinem Leben.

Ursprünglich eine reine Sommerbühne kann das "TaS" nunmehr ganzjährig bespielt werden. - © TaS / Archiv
Ursprünglich eine reine Sommerbühne kann das "TaS" nunmehr ganzjährig bespielt werden. - © TaS / Archiv

2010 wurde das Theater generalsaniert und wird nun - im Normalfall - acht Monate im Jahr bespielt. Speziell für das Wiener Musikgeschehen ist dieses Haus zu einer bedeutenden Spielstätte geworden. Was genau reizt Sie am Wienerlied?

Das bringt mich wieder zu Hodina und Neuwirth. Ich liebe ihre Musik - und gleichzeitig wollte ich mit dem Festival "Wien im Rosenstolz" auch eine Schiene aufbauen, die dieses Genre von einer anderen Seite beleuchtet. Die Vielfältigkeit und die Emotionen, die diese Musik bewirken, faszinieren mich.

Sie haben im Laufe der Jahre schon vielen jungen und noch unbekannten Künstlern eine Chance gegeben und sind auch bekannt dafür, unkonventionelle Künstler-Kooperationen zu fördern.

Ich selbst würde mich als Initiatorin bezeichnen, die Künstlern aus verschiedenen Genres die Möglichkeit gibt, sich auf der Bühne zu entfalten. Stermann & Grissemann hatten beispielsweise im Vorstadt Gasthaus ihren allerersten Auftritt.

Auf der anderen Seite haben Sie auch keine Scheu davor, weltberühmte Künstler in Ihr Haus einzuladen. Einmal kontaktierten Sie das Management von Udo Jürgens...

... woraufhin sein Manager meinte: "Das Klavier von Udo Jürgens ist ja so groß wie Ihr ganzes Haus!" Ich gehe immer davon aus, dass mein Theater nicht dazu da ist, um zu verdienen, aber das Haus berührt viele Menschen und man fällt auf. Die Strottern einmal im Monat werden aufgrund der Nähe zum Publikum intensiver und unmittelbarer wahrgenommen als anderswo.

Abschließend noch kurz zu Ihrer Herkunft. Sie sind in Teheran geboren und im Alter von acht Jahren mit Ihrer Familie nach Wien gezogen. Was war ausschlaggebend für diese Entscheidung?

Meine Brüder wollten in Wien Medizin studieren, da das Medizinstudium in Österreich einen hervorragenden Ruf hatte - und immer noch hat. Wir sind dann nach einiger Zeit nachgezogen.

War das für Sie nicht ein Kulturschock?

Anfangs schon, vor allem deshalb, weil ich die Sprache nicht konnte. Ich kann mich erinnern, wie wir in der Volksschulzeit im Schnee gestapft sind, das war ganz schrecklich für mich. Einmal kam ich zu spät in die Schule und stand vor dem geschlossenen Schultor. Es war eisig kalt und ich traute mich nicht hinein, weil ich die Sprache nicht konnte. Über zwei Stunden stand ich vor der Tür, bis mich der Schulwart entdeckte und mir einen heißen Tee zum Aufwärmen gab. Anfangs war einfach vieles völlig fremd für mich, ich kannte keine Jausenbrote, kein Schweinefleisch etc. Es war eben die Konfrontation mit einer anderen Kultur.

Hätten Sie sich als Kind gewünscht, wieder in Ihre Heimat zurückzukehren?

Nein, auf keinen Fall! Ab der Gymnasiumzeit drehte sich das Blatt. Ich ging in die Albertgasse zur Schule, ein reines Mädchengymnasium, hier gab es eine wunderbare Klassengemeinschaft, das zeigt sich auch daran, dass wir bis heute Maturatreffen haben. Meine Kolleginnen lernten mit mir Deutsch. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten deutschen Satz.

Der da lautete?

"Ich möchte bitte eine Bensdorp Schokolade." Wobei ich sagen muss, dass ich immer eine Sprach-Ästhetin war und mir Deutsch möglichst perfekt aneignen wollte. Ich werde nie vergessen, als ich in den Ferien in Mariazell auf einem Camp war, um Deutsch zu lernen. Ich fühlte mich dort überhaupt nicht wohl, habe zu Hause angerufen und richtig gefremdelt. Dann kam mein Bruder mit einem ganzen Karton voll mit Nestlé-Kondensmilch-Tuben. Diese Tuben auszuzuzeln, beruhigte mich total. Ab diesem Zeitpunkt war es mir dann auch möglich, Freundschaften zu den anderen Kindern zu knüpfen - und das Fremdeln war weg.

Seither leben Sie in Österreich?

Mit einer kurzen Unterbrechung. Zwei Jahre vor der Matura übersiedelten meine Eltern mit mir wieder nach Teheran, wo ich eine deutsche Schule besuchte. Vor der Matura habe ich drei Tage lang durchgeheult, weil ich unbedingt wieder nach Österreich zurück wollte. Daraufhin setzte man mich in ein Flugzeug und ich machte in Wien dann per Abendschule die Roland-Matura. Seitdem lebe ich in Wien.

Und sind nie mehr auf Besuch in Ihre alte Heimat gefahren?

Nein, ich fahre nicht nach Persien. Ein Grund dafür ist, ich bin Baha’i. Diese religiöse Minderheit wird in Persien ganz streng verfolgt, es wäre nicht ratsam, zurückzukehren.