"Wiener Zeitung": Frau Lohner, was hat Sie bewogen, ein Buch über Ihre Kindheit zu schreiben?

Chris Lohner (r.) mit Mutter und Schwester. - © privat
Chris Lohner (r.) mit Mutter und Schwester. - © privat

Chris Lohner: Über dieses Thema wollte ich im Grunde immer schon schreiben, aber dann sind mir andere Bücher dazwischengekommen.

"Ich bin ein Kind der Stadt" ist gleichzeitig ein Kapitel Zeitgeschichte. Sie sind 1943 geboren, haben also die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges ebenso miterlebt wie die Besatzungszeit. Wie ist es Ihnen innerlich dabei ergangen, sich geistig noch einmal in diese Zeit zurückzuversetzen?

Das war spannend! Ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen. Das Langzeitgedächtnis ist der Vorzug des Alters, das ich insofern unterstützt habe, indem ich ein Flip-Chart aufstellte und immer, wenn mir etwas einfiel, ein Stichwort notierte. Sobald man ein Stichwort hat, kann man sich auch die ganze Geschichte dahinter herholen.

"Letztens sagte ein Mädchen, sieben oder acht Jahre alt, zu mir: Du bistdie Stimme der Eisenbahn! So etwas finde ich dann schon lustig." - © Bubu Dujmic
"Letztens sagte ein Mädchen, sieben oder acht Jahre alt, zu mir: Du bistdie Stimme der Eisenbahn! So etwas finde ich dann schon lustig."
- © Bubu Dujmic

Das Vorwort zu Ihrem Buch hat der kürzlich verstorbene Hugo Portisch verfasst, er schrieb: "Das ist eine Chris Lohner, die wir so bisher nicht gekannt haben. Eine, die uns heute mit aufwachsen lässt, mit Zuständen, die für die heutige junge Generation kaum vorstellbar sind: echter Hunger, echte Gefahren, ein Lebensgefühl, mit dem viele von uns erst durch dieses Buch konfrontiert werden und damit ein Stück Geschichte unseres Landes und seiner Menschen kennen- und verstehen lernen." Beim Lesen hatte ich dennoch den Eindruck, dass Sie ein glückliches Kind waren.

Ja absolut! Schließlich ist es ja allen so ergangen, es hat ja niemand etwas gehabt. Deshalb kam auch kein Neid auf so wie heute. Und wenn man ein bisschen etwas hatte, hat man es mit den Nachbarn oder mit anderen geteilt, die noch weniger besaßen als man selbst.

Hatten Sie dennoch als Kind irgendeinen ganz sehnlichen Wunsch?

Ich hatte eine Fetzenpuppe, einen Kochlöffel aus Holz, auf den meine Mutter ein Gesicht gemalt hatte. Ein kleines kariertes Stofffetzerl diente als Kopftuch. Mit dieser Puppe konnte ich stundenlang spielen, wünschte mir aber trotzdem ganz sehnlich eine echte Babypuppe, die ich dann auch irgendwann bekommen habe. Solche kleinen Wünsche gab es schon, aber unser größtes Glück war, dass mein Vater unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt ist. Er war zwar halb verhungert, aber er hatte überlebt.

Ihren Schilderungen zufolge vermitteln Sie den Eindruck, dass Sie ein großes Glück mit Ihren Eltern hatten und sehr geliebt und beschützt aufgewachsen sind.

Ja, man hat sich sehr um uns gekümmert, wir waren auch keine Schlüsselkinder, weil meine Mutter zu Hause war. Meine Eltern haben sich viel mit uns beschäftigt und da mein Vater gelernter Bibliothekar war, hatte ich, sobald ich lesen konnte, immer die passenden Bücher zur Hand. Meine Schwester und ich waren ausgesprochene Leseratten und selbst wenn es abends hieß: Licht aus!, haben wir unter der Bettdecke mit Taschenlampen weitergelesen, bis uns die Augen zugefallen sind. Ich kann mir mein Leben bis heute ohne Bücher gar nicht vorstellen.

Rückblickend betrachtet: Was haben Ihnen Ihre Eltern nachhaltig mitgegeben?

Mein Vater war ja ein unglaublicher Menschenfreund, seine Hilfsbereitschaft hat bis heute großen Einfluss auf mich und war sehr prägend. Ich habe von klein auf miterlebt, dass Leute mit Anliegen und Bitten zu ihm kamen, und wenn er etwas als wichtig und sinnvoll erachtete, hat er immer versucht, zu helfen oder seine Beziehungen und Kontakte anderen Menschen zugutekommen zu lassen.

Sie selbst sind als 11-Jährige in Altersheime gegangen und haben den Pensionisten zur Unterhaltung auf der Blockflöte vorgespielt. Machten Sie das aus eigenem Antrieb?

Ja, die armen Leute mussten sich das anhören! Ich habe alte Menschen immer schon sehr mögen, weil sie uns ja die Wege geebnet haben, die wir heute gehen. Man darf nicht vergessen, was die früheren Generationen für uns gemacht haben, man denke nur an viele Innovationen des Roten Wien, die heute ganz selbstverständlich genützt werden und bei denen sich kaum jemand Gedanken darüber macht, woher sie eigentlich kommen.

Woran denken Sie da zum Beispiel?

An die Gemeindebauten, als wir von unserer Bassenawohnung im fünften Bezirk in eine Gemeindewohnung am Bacherplatz übersiedelten, war das Luxus! Plötzlich gab es ein Bad mit Dusche und einer Toilette. Meine Schwester und ich hatten gemeinsam sogar ein eigenes Zimmer. Zu den Errungenschaften aus der Ersten Republik zählen sicherlich auch die Kinderfreibäder, die damals vor allem in Parkanlagen errichtet wurden. Fast alle dieser Kinderfreibäder wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, einige davon wurden Anfang der 1950er Jahre wieder aufgebaut. Anstatt am Gürtel einen Pool zu errichten, fände ich es sinnvoller, in Parkanlagen diese Idee der Freibäder zu revitalisieren.

"Ich bin ein Kind der Stadt" (Echomedia Buchverlag, 200 Seiten, 19,80 Euro)
"Ich bin ein Kind der Stadt" (Echomedia Buchverlag, 200 Seiten, 19,80 Euro)

Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter?

Sie war die Lustige und die Künstlerische, hat Mandoline gespielt und Gedichte geschrieben.

Wie man Ihrem Buch entnehmen kann, gab es von ihr aber auch des Öfteren eine "gesunde Watsche".

Das war damals üblich, wir wurden nicht verprügelt, aber eine Watsche hat man von seinen Eltern schnell eingefangen, wenn man frech war. Was Kinder sich heute leisten, hätte ich mir nie erlauben dürfen. Wenn ich mich aufgeregt habe über einen Lehrer und mich ungerecht behandelt gefühlt habe, dann haben meine Eltern nicht gesagt, der Lehrer ist schuld, unser armes Kind, sondern sie sagten, na, da wirst du dich dementsprechend benommen haben. Deshalb fürchtete ich mich immer vor dem Elternsprechtag, weil dann immer ans Licht kam, was ich alles aufgeführt habe.

Sie waren also schon in ganz jungen Jahren eher ein "Freigeist". Wie gingen Ihre Eltern damit um?

Zunächst haben sie mich in den Kindergarten gesteckt, in der Hoffnung, dass ich dann ein bisschen Ruhe geben werde. Dort hat es mir allerdings überhaupt nicht gefallen. Am meisten auf die Nerven ging mir dieses kollektive Essen und Schlafen. Warum muss ich nach dem Mittagsessen schlafen? Ich wollte viel lieber zeichnen oder andere Dinge tun. Irgendwann habe ich dann ein Kind gebissen und meine Eltern haben mich aus dem Kindergarten rausgenommen. Letztlich hatte ich das Glück, dass meine Eltern meinen Freiheitsdrang nicht unterdrückten, aber natürlich habe ich dann für meine Experimente oft eine eingefangen.

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Berufswunsch?

Ich wollte Schauspielerin werden. Mit fünf Jahren stand ich auch das erste Mal auf einer Bühne. Das kam so: Mein Vater war Direktor der Volkshochschule Stöbergasse in Margareten. Dort gab es einen Kinosaal, und wenn man die Leinwand hochzog, verwandelte sich das Kino in ein schönes Theater mit einer großen Bühne. Darüber hinaus gab es noch einen Kammersaal mit einer kleineren Bühne für Vorträge und Lesungen, dort habe ich das erste Mal Theater gespielt - und ab diesem Zeitpunkt war der Wunsch geboren: Ich möchte Schauspielerin werden!

Letzten Endes hat es ja auch geklappt und Sie absolvierten später dann eine Schauspielausbildung.

Wenn ich einen echten Wunsch habe, für den ich brenne, dann verliere ich diesen nicht aus den Augen, aber ich rede nicht darüber. Auch wenn alle schon glauben, das hat sie jetzt eh schon längst vergessen, bin ich innerlich noch dran. Das war auch beim ORF so. Ich habe zwar ein ordentliches Mundwerk, aber ich bin gleichzeitig jemand, der sehr viel und sehr genau beobachtet, über vieles nachdenkt und vieles, was er vorhat, nicht rausposaunt, sondern in aller Stille seine Ziele verfolgt. Ich konnte schon oft beobachten, dass Menschen, die viel über ihre Pläne reden, diese dann gar nicht umsetzen, weil der Genuss des Redens darüber schon so befriedigend für sie ist, dass sie es dann gar nicht machen. So bin ich nicht.

Aufgrund Ihrer Programmansagen und Moderationen, Ihrer hohen Präsenz im ORF, waren Sie der erste weibliche Fernsehstar. Jeder kennt seit damals Ihr Gesicht. Darüber hinaus machten Sie als Schauspielerin, Autorin und mit Soloprogrammen eine vielseitige Karriere. Wie gehen Sie damit um, dass Sie seit bald 50 Jahren im Rampenlicht stehen?

Ja, seit 1973, das ist unfassbar, da mutiert man natürlich zu einer "öffentlichen Frau". Am Anfang fand ich es toll, wenn ich wo hinkam und die Leute sagten, schau, die Lohner. Das fand ich genau ein Jahr lang großartig, weil es neu war für mich. Dann habe ich gesehen, was die Schattenseiten und was die Vorteile sind. Ich würde sagen, es ist eine Mischung davon, wobei mittlerweile der Wunsch nach Privatsphäre schon groß ist.

Man kennt ja nicht nur Ihr Gesicht, sondern dadurch, dass Sie seit rund 40 Jahren die "Stimme der ÖBB" sind, auch Ihre Stimme.

Als ich einmal im Winter durch den Wald ging mit Wollhaube und Skianzug, sagte ich gerade etwas zu meinem Hund, als ein Mann an mir vorbeiging und meinte: Sie brauchen sich gar nicht verkleiden, ich habe Sie eh an der Stimme erkannt. Oder letztens ein Mädchen, sieben oder acht Jahre alt, das sagte: Du bist die Stimme der Eisenbahn! So etwas finde ich dann schon lustig.

Kindheitsfoto mit Eltern. - © privat
Kindheitsfoto mit Eltern. - © privat

Vor einigen Jahren wurde Ihre Stimme für die Durchsagen der ÖBB für alle Ewigkeit digitalisiert. Wie ging das vor sich?

Ich war vier Wochen lang jeden Tag im Studio und habe 15.000 Sätze auf Deutsch und 15.000 Sätze auf Englisch gesprochen. Und zwar irgendwelche Sätze, so wie "Putin frühstückt mit Merkel in Venedig". All diese Sätze können nun zerlegt und je nach Bedarf völlig neu zusammengesetzt werden.

Sie nutzen bekanntlich Ihre Popularität für Themen, die Ihnen am Herzen liegen - welches Projekt steht momentan an erster Stelle?

Nach wie vor "Licht für die Welt", aber generell versuche ich zu helfen, wann immer es jemandem schlechter geht als mir. Ich würde mir wirklich wünschen, dass es unter uns Menschen wieder ein stärkeres Miteinander gibt und dass wir mit der Umwelt und allen Geschöpfen, die uns umgeben, anders umgehen. Gerade Kinder und Tiere sind die unschuldigsten Geschöpfe der Welt - und die sollten nicht leiden dürfen.

Mit fünf Jahren hatten Sie Masern einhergehend mit einer Augenerkrankung, sodass Sie einige Tage lang blind waren. Spielte diese Erfahrung eine Rolle, dass Sie seit 2011 Botschafterin für "Licht in die Welt" sind? Das muss damals ja ein Schock für Sie gewesen sein.

Für mich nicht, seltsamerweise - ich muss mit so einer Grundvergnügtheit auf die Welt gekommen sein, dass ich nur sagen kann: Danke Universum! Ich fand es damals toll, dass ich von meinen Eltern bedient wurde, weil ich ja nichts sehen konnte. Das war sozusagen das Gute im Schlechten.

Dass Sie öffentlich zu gesellschaftsrelevanten Themen Stellung beziehen, bringt Ihnen mitunter auch Anfeindungen und Kritik ein. Wie gehen Sie damit um?

Normalerweise komme ich gut damit zurecht. Ausnahme waren zuletzt die Anfeindungen im Netz, nachdem ich über meine schwere Corona-Erkrankung gesprochen hatte.

Was konkret war der Auslöser für diesen Hass?

Ich weiß es nicht, weil zunächst hatte ich ja 120.000 Genesungswünsche. Aber es gibt eben auch Menschen, die sich selbst, ihr Leben und alles um sich herum hassen. Ich glaube, dass vor allem die Coronaleugner auf mich so eine Wut bekamen, weil ich einfach vermitteln wollte: Bitte passt auf, das ist eine ganz schreckliche Krankheit! Dass man sich dann fast entschuldigen muss, dass man an dieser Krankheit nicht gestorben ist, hat mich schon schwer irritiert.

Hat die Erfahrung dieser schweren Erkrankung irgendeine neue Erkenntnis für Sie gebracht?

Ich muss sagen, wenn jemand von einer alten Normalität spricht, die man zurückhaben will, ist das meiner Meinung nach der falsche Weg, denn diese hat uns genau das beschert, was wir jetzt haben. Wenn wir nicht aufhören, ständig nur an Kapital, Wirtschaft und Gewinnmaximierung zu denken, Raubbau an der Erde betreiben und die Tiere aus ihrem Lebensraum zurückdrängen, wird diese Krise auf lange Sicht nicht aufhören.

Manchmal werden zwischen Nachkriegszeit und Corona-Krise Vergleiche gezogen. Wie sehen Sie das?

Wenn gesagt wird, nach dem Krieg war es ja auch schlimm und wir haben das geschafft, dann wehre ich mich vehement gegen solche Vergleiche. Wir haben damals nicht gewusst, wie es weitergehen wird. Wir hatten die Besatzungsmächte hier, wussten nicht, werden wir hinter dem Eisernen Vorhang verschwinden, werden wir zu Russland gehören oder zur Tschechoslowakei? Wird es uns überhaupt je wieder besser gehen? Dieser Trend hat sich erst langsam in den 1950er Jahren abgezeichnet. Jetzt haben wir alle ein Dach über dem Kopf und genug zum Essen, natürlich gibt es grauenhafte Schicksale, wo durch Corona die Existenzgrundlage verloren gegangen ist und nahe Menschen verstorben sind. Auch Familien, die zu Hause auf engstem Raum mit Homeoffice und Homeschooling zurechtkommen müssen, haben meine innigste Anteilnahme. Dass unter diesen Bedingungen häusliche Gewalt steigt, kann man sich ausrechnen. Aber alles in allem ist es in der westlichen Welt vergleichsweise eine Krise im Luxus. Man braucht nur nach Indien, Afrika oder Südamerika zu schauen, was dort los ist. Da wird nicht gejammert, dass man nicht Party machen oder in ein Restaurant gehen darf. Ein Umdenken wäre jetzt wirklich angesagt, denn die Erde braucht uns Menschen nicht.