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Roland Girtler: Der Soziologe als "Ehrenkieberer"

Von Hubert Christian Ehalt

Reflexionen

Zum 80. Geburtstag ein Loblied auf das abenteuerliche und nicht exklusive Forscherleben des höchst unkonventionellen Sozialwissenschafters.


Ich kenne Roland Girtler seit dem Sommersemester 1971, seit genau 50 Jahren, er hatte gerade eine Stelle als Universitätsassistent am Institut für Soziologie in Wien angetreten. Ich wollte mich als Geschichtsstudent interdisziplinär vertiefen.

Ende der 60er- / Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts gab es ein universitäres Kult-Fach, das war die Soziologie, die Wissenschaft zur Analyse und Erkundung der Gesellschaft. In diesem Fach wurden damals in ganz Europa die damals aktuellen und zentralen Fragen der Gesellschaftsanalyse gestellt.

Es ging um die Frage nach einer gesellschaftsgeschichtlichen Erklärung des Faschismus, um den Zusammenhang von Gesellschaft und Ökonomie, um die dunkle Seite der Aufklärung, thematisiert als "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Von der Soziologie wurde damals eine Kritik autoritärer und patriarchaler Muster gefordert, ein kritischer und emanzipatorischer Gesellschaftsumgang erwartet. Das waren die Gründe, weshalb ich 1971 das Fach im Zweitstudium inskribierte und auch Lehrveranstaltungen bei Roland Girtler belegte.

Kurze Juristerei

Ich habe miterlebt, wie aus einem jungen Mann, der die Welt erforschend und erkundend erleben wollte, "der Girtler" wurde - die Entwicklung von einem an der sozialen Welt interessierten und für Kommunikation und Selbstdarstellung begabten Forscher zum vazierenden Kulturwissenschafter, der in einer nur selten unterbrochenen Wanderung die Welt auf seinem Lebensweg durchläuft. Der Treppelweg in der Lobau, die Länden am Donaukanal, Rad- und Wanderwege im Wiener Prater, das Schweizerhaus ebendort sind Orte, wo man gute Chancen hat, Roland Girtler zu begegnen.

Curriculum vitae ist bei ihm nicht nur eine Metapher, sondern eine Beschreibung dessen, was tatsächlich geschieht. Der Kulturwissenschafter ist bei seiner teilnehmenden Beobachtung der Weltenläufte stets unterwegs. Aus dem jungen Soziologie-Assistenten wurde also der populäre Randkulturforscher Roland Girtler, "Professor in Gottes offener und weiter Weltuniversität" (Selbstbeschreibung), womit er auch sagen möchte, dass nicht die akademischen Würden - und bisweilen kleinen Bösartigkeiten ("Haxelbeißereien") - den Professor ausmachen, sondern das mit freundlicher Offenheit an der Welt interessierte Forschertum, das nicht exklusiv sein will.

Die Entscheidung für die Gesellschaftswissenschaften war - wie bei vielen bedeutenden Soziologen - auch bei Girtler nicht erste Option, sondern durch Zufälligkeiten geprägt. Nach einer kurzen Begegnung mit der Juristerei (er hatte bereits zwei juridische Staatsprüfungen absolviert) hatte er zu Soziologie und Anthropologie umgesattelt. Die Rechtswissenschaft hatte ihm deutlich gemacht, dass die Welt nicht als Ort juridischer Paragraphen, sondern als Gestaltungsfeld von Symbolen und Ritualen interessant ist.

Er wollte die sozialen Regeln daher philosophisch-anthropologisch und nicht als gültige Rechtsnormen beschreiben und interpretieren. Promoviert hatte er über Rechtsverständnis und Rechtsvorstellungen der Aborigines, der Ureinwohner Australiens; der ethnographische Blickwinkel und seine Methoden blieben für ihn seither wichtig. Das Bild, die soziale Rolle ("Wir alle spielen Theater", Erving Goffman) des abenteuerlichen, unkonventionellen Kulturwissenschafters war in den 70er Jahren noch in statu nascendi; es brauchte Rituale und Requisiten; Habitus und Gestus waren noch nicht elaboriert.

Geist der Nachkriegszeit

Mitte der 70er Jahre war die Entscheidung noch nicht gefallen, ob Girtlers Habilitationsschrift eine theoretisch angelegte Arbeit - etwa über Max Weber - oder eine soziologische Feldforschung werden sollte. Schließlich fiel die Entscheidung rasch und im Hinblick auf seine spätere Karriere logisch und richtig für eine Feldforschung über die Polizei.

Roland Girtlers Forschungen über die Wiener Polizei, von denen vermutlich auch der kürzlich verstorbene Regisseur Peter Patzak für die Gestaltung seiner Fernsehserie "Kottan" profitiert hat, waren der Beginn einer Serie von Kulturstudien über gesellschaftliche Gruppierungen, soziale Milieus in ihren Ausformungen und Gestaltungen, die bis zum Ende des "kurzen 20. Jahrhunderts" (1918- 1989, nach Eric J. Hobsbawm) gültig waren.

Ich rufe den Geist der Nachkriegszeit, in der Roland Girtler und ich - geboren 1941 und 1949 - aufgewachsen sind, in Erinnerung: Die Schule und der schulische Alltag waren autoritär, viele Geschichts- und andere Lehrer alte Nazis. Die Geschlechterrollen entsprachen nicht den Menschenrechten, repräsentierten nicht die Rechte der Frauen. Sexualität war schon als Begriff verpönt. Missbrauch und sexueller Missbrauch wurden nicht thematisiert, da es sich um "Alltag" handelte und Alltag und Politik nichts miteinander zu tun haben sollten. Kunstbegriff, Kunstgeschmack und Kunstwerke waren antimodernistisch geprägt.

Politik war in dieser Zeit keine öffentliche Sphäre mit einer freien Diskussion über wichtige Fragen. Politik war in Österreich in erster Linie "Proporz" und "Sozialpartnerschaft". Fazit: Politik und Kultur hatten real und metaphorisch gesprochen den Charakter einer schlechten Operette. Gesellschaft und Alltag waren häufig operettenhafte Realsatire.

In dieser Situation konnten, sollten, mussten die 70er Jahre eine Zeit der Öffnung sein. Für mich war Roland Girtler, mit einem aktuellen Begriff gesprochen, ein role model, ein Wissenschafter, der Forschung als spannende, abenteuerliche, detektivische Ermittlung auffasst. Er war - in seiner glaubwürdigen Performance - ein kollegialer und offener Universitätslehrer.

Roland Girtler erforscht die Kulturen von Randgruppen, Berufsgruppen, spezifischen Mil-
ieus, deren Sprache, Symbole, Rituale er teilnehmend beobachtet und mit den involvierten Akteurinnen und Akteuren bespricht. Das Bild, das dabei entsteht, möchte den Akteuren, ihrem Selbstverständnis, ihrer Sicht der Welt, ihrem Stolz und ihrer Ehre Raum geben.

Aus meiner Sicht war/ist es ein wichtiges Moment emanzipatorischer Forschung, die beforschten Gruppen nicht vor allem als "Datenlieferanten" zu sehen und die Ergebnisse nicht über die Köpfe der erkundeten Gruppe zu kommunizieren.

© Böhlau

"Freiherr honoris causa"

Girtler hat einen Weg gefunden, seine Informanten nicht als "Forschungsmaterial" zu gebrauchen bzw. zu behandeln. Er bezieht sie in den stets offenen und erweiterbaren Kreis seiner "liebenswürdigen", "edlen" "gütigen", "noblen" (O-Ton Girtler) Freundinnen und Freunde ein. So gesehen ist es äußerst gerecht und plausibel, dass er für seine Studie über die Wiener Polizei von der Vereinigung österreichischer Kriminalisten zum "Ehrenkieberer" ernannt wurde. Es würden ihm aus meiner Sicht auch Auszeichnungen als "Freiherr honoris causa" für sein Buch über "Die feinen Leute" oder als "Wildschütz zum goldenen Schuss" für seine Forschungen über die Wilderer gebühren.

Die Grenzen zwischen Profession, Alltag und Freizeit, die bei Wissenschaftern immer fließend sind, kommen in Girtlers Leben nicht einmal rudimentär vor: Klettern, Wandern, Radfahren und Jonglieren waren und sind für ihn immer - gleichzeitig und gleichermaßen als Anbahnungs- und Distanzierungsmittel - integrale Bestandteile seines Lebens als Feldforscher und seines vazierenden Alltags, in dem der Vagabund eben auch Professor an der Universität Wien ist.

Als Vorkämpfer für den Freiraum des Individuellen beruft sich Roland Girtler in seiner Argumentation der freien Handlungs- und Interpretationsspielräume der Menschen gerne auf klassische Autoren wie Wilhelm Busch ("Kein Ding sieht so aus, wie es ist. Am wenigsten der Mensch, dieser lederne Sack voller Pfiffe und Kniffe") oder Johann Wolfgang von Goethe. Die Philosophie von Girtlers Geboten für die Feldforschung bringt Mephistopheles in seinem ersten Auftreten in Fausts Studierstube auf den Punkt: Der Forscher muss, wie auch der Autor literarischer Schriften, "mitt in die Welt hinein! Ich sag es dir, ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier auf dürrer Heide von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt. Und rings herum liegt schöne grüne Weide."

Diese grünen Weiden waren für Roland Girtler bei seinen Forschungen die gesellschaftlichen Milieus, die Institutionen mit ihren Normen, die Kulturen mit ihren Ritualen und Symbolen, die Individuen mit ihren Strategien der Selbstdarstellung.

Alltägliches Handorakel

Girtler ist dabei weder der Schöpfer einer kritischen Gesellschaftstheorie im Sinne von Jürgen Habermas noch der einer "Soziologie der symbolischen Formen", wie sie Pierre Bourdieu entworfen hat; zuallerletzt ist er Konstrukteur einer soziologischen Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann entwickelt hat.

Girtler entwickelt in seinen Büchern auf der Basis eines großen Beobachtungsmaterials vielmehr eine differenzierte Menschenkunde. Seine Gebote der Feldforschung sind an professionelle Sozialforscherinnen und -forscher adressiert; sie sind aber auch ein Handorakel für den alltäglichen Gebrauch für Menschen, die sich für ihren persönlichen Umgang mit sozialen Situationen ein Stück Selbstreflexion wünschen.

In dem Streben nach sozialer Anerkennung gleichen einander Ganoven und Polizisten, Vagabunden und feine Leute, Gebildete und Ungebildete. Die Öffnung des Blickes auf die Strategien, mit denen unter anderen Professoren, Aristokraten, Prostituierte und Pfarrersköchinnen, Kellnerinnen ihr alltägliches Leben mit jeweils spezifischen Strategien der symbolischen Interaktion gestalten, hat eine emanzipatorische und humanistische Perspektive. Sie zeigt, dass Könige und Bettler im gesellschaftlichen Leben ähnliche Wege der Selbstbehauptung und -darstellung beschreiten.

Girtlers Perspektive ist emanzipatorisch, weil sie den Blick von sozialen und ökonomischen Unterschieden zwischen Individuen und Gruppen, die sich gerne als ontologisch ausgeben, ablenkt und auf historisch-anthropologische Gemeinsamkeiten hinweist; der Stoff, aus dem "des Kaisers neue Kleider" sind, wird in Girtlers Studien enttarnt; sie vermitteln Verständnis für die Akteurinnen und Akteure, die sich mit diesem virtuellen Stoff schmücken.

Hinweis: Die meisten Bücher von Roland Girtler sind im Böhlau Verlag erschienen. Weitere Informationen: www.univprofdrgirtler.at

Hubert Christian Ehalt ist Professor für Sozialgeschichte an der Universität Wien und für Kulturwissenschaften an der Universität für angewandte Kunst Wien.