"Wiener Zeitung": Frau Regen, als wir Sie gefragt haben, wen Sie sich als seelenverwandten Gesprächspartner wünschen, haben Sie sich für Violetta Parisini entschieden, das hat sicher gute Gründe ...
Ina Regen: Das hat nur gute Gründe! Als Künstlerin war Violetta immer schon auf meinem Radar. Persönlich kennengelernt haben wir einander vor rund zwei Jahren auf einer Party, bei der wir sofort auf einer sehr tiefen Ebene miteinander ins Gespräch kamen. Dann war sie mein erster Podcast-Gast und hat meine Aufregung wunderbar abgefangen und es war ein sehr schönes, seelenverwandtes Gespräch. Von dieser Seelenverwandtschaft finde ich auch sehr viel in ihrer Musik wieder - ich könnte ihr jetzt die ganze Zeit Rosen streuen ...
Von außen betrachtet, gibt es einige Parallelen: Beispielsweise haben Sie beide sehr einprägsame Namen. Ist Violetta Parisini ein Künstlername?
Violetta Parisini: Nein, das ist mein bürgerlicher Name. Mein Urgroßvater war Italiener und meine Eltern haben dankenswerterweise beschlossen, dass sie dem Nachnamen einen passenden Vornamen zur Seite stellen. Pures Glück!
Regen: Wie kannst du mit diesem Namen nicht Künstlerin werden!?
Ihr bürgerlicher Name ist Regina Mallinger. Wieso entschieden Sie sich für einen Künstlernamen?
Regen: Aus dem Bedürfnis heraus, dass dieser Schritt zugleich ein Neuanfang sein sollte. Ehe ich mein erstes im Dialekt komponiertes Lied, "Wie a Kind", veröffentlichte, war ich über viele Jahre hinweg unter meinem bürgerlichen Namen in unterschiedlichen Projekten und Formationen auf der Bühne. Ich habe sicher ein Jahr lang Listen geführt mit Namen - und irgendwie hat es mich immer wieder zu Ina Regen hingezogen. Ich musste nur noch mit mir verhandeln, ob ich "Regen" gut mit meinem Gemüt vereinbaren kann. Aber im Grunde erinnert mich dieser Name immer wieder daran, dass ich aus dem Regen, also aus Tiefen, manchmal auch aus Wunden die Kraft schöpfe, überhaupt Musik machen zu wollen. Das gehört nicht nur zum Leben dazu, sondern setzt mich in eine Balance. Seit mir bewusst geworden ist, wie wichtig mir der Regen ist, besteht kein Zweifel mehr an diesem Namen.

Ina Regen: "Im Grunde erinnert mich dieser Name immer wieder daran, dass ich aus dem Regen, also aus Tiefen, manchmal auch aus Wunden die Kraft schöpfe, Musik machen zu wollen."
- © Robert WimmerEine weitere Gemeinsamkeit ist, dass Sie beide zunächst auf Englisch gesungen haben und nun Ihre Lieder auf Deutsch texten. Was war dafür ausschlaggebend?
Parisini: Für mich war es ganz klar die Entscheidung für meine Muttersprache. Es ist die Sprache, in der ich das, was ich fühle und denke, am genauesten ausdrücken kann. Diese Genauigkeit hat Vor- und Nachteile: Im Englischen kann man atmosphärischer texten, auf Deutsch habe ich hingegen das Bedürfnis, sehr genau zu sein und mir jedes Wort nicht zuletzt dahingehend von allen Seiten anzuschauen, was ich damit bei anderen auslöse und bewirke. Das kann man in der Muttersprache am besten überblicken.
Regen: Weil die Muttersprache so viele Ebenen hat, auch so viele Erinnerungsebenen, die mit jedem Mal, wenn man ein bestimmtes Wort benutzt, dazukommen. Das macht es gleichzeitig so viel schwieriger zu dichten.
Parisini: Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich ein Lied so getextet hatte, dass ich damit an die Öffentlichkeit gehen konnte, ohne Angst zu haben, in Klischees zu fallen oder zu kompliziert zu sein.
Regen: Man ist ein bisschen schutzloser in der Muttersprache ...
Sie sprechen da etwas an, das ebenfalls signifikant für Sie beide ist: nämlich keine Scheu davor zu haben, die eigene Verletzlichkeit und Sensibilität in der Öffentlichkeit zu thematisieren. In Ihrem Blog, Frau Parisini, gibt es beispielsweise das Zitat: "Man muss nicht unverwundbar sein, um stark zu sein. Ganz im Gegenteil."
Parisini: Ich denke, das ist eine ganz wesentliche Facette unserer Seelenverwandtschaft. Wir sind auf der Bühne ganz wir selbst - mit allen Höhen und Tiefen. Auch in unseren Texten sind wir intim, was gleichzeitig aber nicht zwingend bedeuten muss, das eigene Privatleben preiszugeben.

Violetta Parisini: "Ich habe ein Thema, das mich beschäftigt und wie ein Hintergrundrauschen da ist. Dann passiert es oft ganz unvermutet, ich sitze am Fahrrad und plötzlich kommt ein Satz, oft schon gemeinsam mit einer Melodie..."
- © Robert WimmerMan holt nur die Gefühle aus sich heraus, nicht die konkreten Umstände. Dass wir beide das so radikal und kompromisslos machen - wenn auch in unterschiedlichen Genres -, ist unsere größte Gemeinsamkeit. Bei mir hat es sehr lange gedauert, bis ich mich das getraut habe. Man macht sich dadurch sehr angreifbar - das ist auch etwas, das wir teilen. Aber damit zu leben ist letztlich gar nicht so schlimm.
Regen: Nicht ausführende, sondern kreierende Künstlerin zu sein, das war für mich auch eine Befreiung. Zu sagen, jetzt bin ich "all in". Das ist ein Riesenunterschied, in den man hineinwachsen muss.
Wie darf man sich den Prozess bei der Entstehung eines neuen Liedes vorstellen: Was ist zuerst da, eine bestimmte Melodie oder eine Textzeile?
Parisini: Bei mir ist es immer das Inhaltliche. Ich habe ein Thema, das mich beschäftigt und das wie ein Hintergrundrauschen da ist. Dann passiert es oft ganz unvermutet, ich sitze am Fahrrad und plötzlich kommt ein Satz, oft schon gemeinsam mit einer Melodie. Ganz so, als würde sich aus dieser Ebene der Beschäftigung ein in Musik gefasster Gedanke herausschälen. Wenn ich bewusst ein Lied schreibe, setze ich mich ans Klavier und spiele Akkorde und denke sozusagen singend nach. Aus diesem singenden Nachdenken entsteht dann das Lied.
Regen: Bei mir ist dieser Entstehungsprozess sehr offen in alle Richtungen. Ich kann immer noch kein Rezept für mich feststellen. Manchmal gehts mir ähnlich wie dir - nicht am Fahrrad, sondern unter der Dusche, dass Gedanken förmlich in mich hinein regnen, die bereits etwas Verdichtetes haben, wie ein wechselwirkendes Energiefeld, in das man eintaucht. Derzeit begebe ich mich in den Prozess für mein drittes Album und spüre, wie viel offener und feinfühliger ich plötzlich bin.

"Man holt nur die Gefühle aus sich heraus, nicht die konkreten Umstände: Dass wir beide das so radikal und kompromisslos machen, ist unsere größte Gemeinsamkeit".
- © SchmicklDer Mythos, man sitzt am Klavier, erlebt eine kreative Sternstunde und schreibt innerhalb kürzester Zeit einen Hit, passiert also höchstes in Ausnahmefällen?
Regen: Mir ist es ein einziges Mal passiert. Und das sind dann die Geschichten, die sich als Mythos halten und vielen Songwriterinnen graue Haare bescheren, weil man sich denkt, was mache ich falsch, weil mir das nicht gelingt? Darum ist es mir wichtig zu betonen, dass die Fertigstellung eines Liedes ein langer Prozess sein kann. Manchmal dauert er Tage, manchmal Wochen, manchmal Jahre. Der Titelsong auf meinem neuen Album "Rot" hat mich zwei Jahre gekostet.
Bei welchem Lied passierte dieses "Wunder" der ungewöhnlich zügigen Komposition?
Regen: Bei "Wie a Kind". Es war an einem Abend im Herbst. Ich kam von einem Spaziergang nach Hause und es war eine ganz eigene Stimmung, ein Gewitter kündigte sich an und ich fühlte mich irgendwie von einer eher schweren Stimmung umarmt. In dieser Traurigkeit habe ich mich ans Klavier gesetzt - und dann ging alles unglaublich schnell und ich hatte auf Anhieb die Akkorde von "Wie a Kind".
Am 11. November 2017 veröffentlichten Sie dieses Lied auf Youtube und das Video verbreitete sich wie ein Lauffeuer. "Wie a Kind" wurde in kürzester Zeit ein Hit. Wie haben Sie das geschafft?
Regen: Ich weiß es nicht. Wenn ich es reproduzieren könnte, würde ich es sofort tun! Vielleicht lag es an dieser Kombination: Da ist dieses Lied, das viele berührt hat und in dem sich viele Menschen wiedergefunden haben. Und auf der anderen Seite dieser völlig neue Name: Wer ist Ina Regen? Ich glaube, das war ein spannender Spagat.
Frau Parisini, die Veröffentlichung Ihres ersten Albums, "Giving You My Heart To Mend", liegt mittlerweile elf Jahre zurück und war ebenfalls auf Anhieb ein Erfolg. War das für Sie damals auch verbunden mit dem Gefühl einer künstlerischen Neugeburt?
Parisini: Das erste Album ist vielleicht immer eine Neugeburt, es ändert sich dadurch viel, vor allem, wenn es erfolgreich ist, und es ist eine erste Visitenkarte. Anders als bei Ina hatte ich aber bei meinen ersten beiden Alben nicht so klar das Gefühl gehabt: Das bin ganz ich. Es war eher ein Teil von mir, den ich neu entdeckt habe und der mein Leben auf eine neue Stufe gehoben hat. Vielleicht ist das auch eine Frage des Zeitpunktes im Leben. Inzwischen habe ich das Gefühl, in der Musik ganz ich zu sein. Mein drittes Album "Alles bleibt" ist nach einer langen Nachdenkpause entstanden, ich habe viele Jahre daran geschrieben und es mir aus meinem tiefsten Inneren geholt. Es fühlt sich an wie ein neuer, sehr solider Grundstein für alles, was noch kommen mag.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung fiel dann leider mit dem Beginn der Corona-Krise 2020 zusammen.
Parisini: Das war sehr schmerzhaft, es gab zwar gute Rezensionen, aber ich konnte keine Konzerte geben und da verpufft unheimlich viel Energie, die man eigentlich gerne geben möchte, bzw. es fehlt die Resonanz, die man sich gewünscht hätte. Aber im Nachhinein bin ich total im Frieden damit.
Wann kann man Sie in Wien demnächst live hören?
Parisini: Am 29. September im Wiener Konzerthaus.
Regen: Und am 8. März 2022 wird Violetta eine meiner GästInnen beim Konzert "SIE. ungewöhnlich. selbstverständlich" im Konzerthaus sein.
Die Veröffentlichung Ihres Albums "Rot" war ursprünglich früher geplant und wurde wegen der Corona-Pandemie dann auf 2021 verschoben. Sie nutzten diese Zeit, um noch zusätzliche Songs zu komponieren.
Regen: Ich bin froh, dass die Lieder "Wien am Meer", "Fenster", "Neon", "Fahnen" und "Was ma heut net träumen" nun auch auf diesem Album sind, was trotzdem nicht heißt, dass es leicht war, mit dieser Situation umzugehen. Ich denke, die Musik hat mich in dieser schwierigen Zeit, mit der wir alle konfrontiert waren, aufgefangen. Ich habe mich mit allen Gefühlen zum Klavier gesetzt und aus dieser Stimmung heraus ist dann eben Neues entstanden. Ich glaube, dass man in den tiefsten Krisen erst recht nach der Hoffnung suchen muss.
Parisini: Man spiegelt das ja auch. Je tiefer ich in mich hineingrabe und je persönlicher ich werde - selbst wenn der Inhalt eines Liedes dann abstrahiert ist -, desto mehr kommt vom Publikum das Feedback, "danke, dass du das sagst, weil mir geht es genauso, aber ich habe keine Worte dafür gehabt". Das ist das schönste Kompliment, das man bekommen kann, weil es dem ganzen Tun Sinn gibt. Ich glaube, dieses Phänomen teilen wir auch.

"Wien am Meer": Gespräch mit der "Wiener Zeitung" an der Alten Donau. (Dank geht an das Quartier "AJO" und Johann Wagner).
- © Robert WimmerDieses Vertrauen, das Ihnen beiden von Ihren Fans entgegengebracht wird, kann mitunter auch dazu führen, dass Ihnen fast die Rolle von Lebensberaterinnen zugeschrieben wird...
Regen: Ja, das stimmt.
Wie reagieren Sie darauf?
Regen: Dass sich Menschen zum Teil auch mit ihren privaten Problemen an uns wenden, ist einerseits ein schönes Kompliment, ein ungeheurer Vertrauensbeweis, andererseits auch eine große Verantwortung. Und in manchen Fällen muss man sich schon abgrenzen, denn wenn jemand wirklich Hilfe benötigt, sollte das auf professionellem Wege geschehen.
Parisini: Wenn solche Fragen an mich herangetragen werden, versuche ich auf liebevolle Weise zu vermitteln, dass dieser Mensch sich bitte jemanden suchen möge, der ihn stabil begleiten kann, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass das einzige Heilsame eine Therapiebeziehung ist - und die dauert Monate oder Jahre. Da kann ich mich sehr klar abgrenzen, weil mein Leben ist allein schon dadurch, dass ich zwei Kinder habe, so voll mit engen emotionalen Beziehungen, da ist kein Platz. Aber in dem Moment, wo ich auf der Bühne bin, gebe ich alles von mir her und stelle meine Gefühle für andere zur Verfügung.
Frau Regen, abschließend noch ein Wort zu Ihrem philosophischen Podcast "Rotweinplausch". Woher rührt Ihr Interesse an Philosophie?
Regen: Dieses Interesse, die Welt rational begreifen zu wollen, habe ich immer schon in mir gespürt. Ich komme aus einem Arbeiterumfeld, bin liebevoll behütet und bestens umsorgt aufgewachsen, aber dieses intellektuelle Bedürfnis hatte dort keinen Platz. Mir war ehrlicherweise auch lange nicht klar, dass ich diesen Platz gerne erobern möchte. Erst die Bekanntschaft zu meinem "philosophischen Partner" Martin Mucha hat dieses Interesse entfacht. Mein Herz lenkt mich da hin und ich bin froh, dass es diesen Ausgleich gibt. Wenn man sich als sensibler Mensch nur in der Gefühlswelt aufhält, ist man eigentlich ständig im Chaos.
Parisini: Und verliert den Halt.
Regen: Die Philosophie gibt mir die Möglichkeit, dass ich ein bisschen aus der Distanz aufs Leben und auch auf mich selbst blicken und mich an etwas festhalten kann. Ich habe schon das Gefühl, dass die Philosophie mir dabei hilft, ein ganzer Mensch zu werden.