"Wiener Zeitung": Für viele Menschen ist die Vorstellung, als Einzelner sein Leben zu führen, mit Unbehagen verbunden. Woher kommt diese negativ besetzte Haltung?

Rüdiger Safranski: Das Problem beginnt damit, dass es ein großes Verlangen danach gibt, nicht nur einzeln zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehören, in ein Kollektiv einzutauchen. Wir bewegen uns in diesem Spannungsverhältnis, dass wir unsere Einzelheit annehmen müssen - und nicht versuchen, sie loszuwerden. Einzeln-Sein bedeutet, daraus eine Aufgabe für das Leben und für das Denken zu machen.

Das Spannungsfeld Individualismus-Kollektivismus findet sich nicht nur im individuellen Leben, sondern taucht auch immer wieder im kulturhistorischen Kontext auf. Sie beginnen Ihr Buch mit der Renaissance, also der paradigmatischen Epoche des Individualismus.

Montaigne (1533-1592) auf einem Gemälde von Thomas de Leu, 1578. 
- © gemeinfrei, via Wikimedia

Montaigne (1533-1592) auf einem Gemälde von Thomas de Leu, 1578.

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In der Renaissance erhielt der Kult des Einzelnen in bestimmten Regionen Europas auf einmal einen großen Stellenwert. Hier setzte man nicht auf das Format des Kollektivismus, in dem der Einzelne keine große Rolle spielte, sondern schuf günstige Bedingungen für das Individuum, die es ihm ermöglichten, einzeln zu sein und zu bleiben. Für meine Darstellung des Einzel-Seins war dies ein glücklicher Umstand, zu sehen, wie in einer Gesellschaft der Individualismus zum Durchbruch kommt. So etwas wird immer wieder von Entwicklungen verschluckt, in denen das Kollektivistische gesiegt hat. Es ist ein ständiger Kampf. Diesen Raumgewinn, der mit dem Einzeln-Sein verbunden ist, zu beschreiben, das ist die eigentliche Aufgabe, die ich mir gestellt habe.

Der Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola vergleicht den Menschen mit einem "schöpferischen Bildhauer, der sich selbst zu der Gestalt ausformen kann, die er bevorzugt". Für Sie ist das ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte des Individualismus...

Bei Pico della Mirandola findet sich die Idee des menschlichen Halbfabrikats, die mit der Vorstellung verbunden ist, dass der Mensch die Fähigkeit hat, sich selbst zu perfektionieren. Gott hat den Menschen halbfertig entlassen und ihm die Chance gegeben, sein jeweiliges Lebensprojekt zu entfalten. Heute spricht man von der autoplastischen Fähigkeit des Einzelnen, dass wir uns selbst modellieren. Das ist ein kühner Gedanke, dem Einzelnen die Zielbestimmtheit zu überlassen, in welche Richtung er sich entwickeln möchte. Hier eröffnet sich ein Horizont, der dem Einzelnen die Möglichkeit bietet, sich für ein selbstbestimmtes Leben zu entscheiden.

Der Philosoph Michel de Montaigne plädiert ebenfalls für ein selbstbestimmtes Leben. Wie lautet seine Empfehlung?

Für Montaigne ist das eigene Selbst eine Zuflucht. Das Faszinierende bei ihm ist der Vorschlag, dass es unsere Aufgabe sei, das gesellschaftliche Rollenspiel - den Herdentrieb in uns - zu bekämpfen. Das Herdenmäßige, das später Heidegger als das "Man" bezeichnete, sitzt in uns selbst und wir müssen versuchen, die innere Herde loszuwerden und uns zu uns selbst verhalten. Zwar müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir ein Teil der Herde sind; wir sollten aber versuchen, die innere Herde loszuwerden und ein Bewusstsein jenseits der Herde zu entfalten.

Sören Kierkegaard (1813-1855) auf einem Porträt von Luplau Janssen, 1902. 
- © gemeinfrei, via Wikimedia

Sören Kierkegaard (1813-1855) auf einem Porträt von Luplau Janssen, 1902.

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Sie stellen die Überlegungen von Montaigne den Reflexionen von Martin Luther gegenüber. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Paarbildung?

Der Blick auf die beiden ist eine Pointe des Buches. Das Interessante ist, dass jemand wie Luther, den wir gar nicht so sehr als Einzelnen wahrnehmen, weil er die Bewegung des Protestantismus ausgelöst hat, doch ein Einzelner war, der seine einzelne Affäre mit Gott haben wollte. Da hat ihm die Stammesreligion der Amtskirche nicht genügt. Nun kommt jemand wie Montaigne, für den das Gottesverhältnis nicht das Primäre in der Frage der Einzelheit ist, sondern er lässt das auf sich beruhen. Er sagt, der Mensch hat die Chance, wenn er sein "Hinterstübchen" aufsucht, nicht Gott zu begegnen, wie es bei Luther der Fall ist, sondern sich selbst.

Der Transformation vom Herdendasein zum Einzeln-Sein steht ein spezielles Hindernis im Weg; worin besteht dieses?

Das Problem, das mit dem Ausdruck Herde in uns benannt ist, besteht darin, dass wir bei dem Versuch, zu uns selbst zu kommen, merken, mit wie viel Komponenten wir mit dem Ganzen verbunden bleiben. Wenn Montaigne von der Herde spricht, dann meint er die Anwesenheit der Gesellschaft in ihm. Dahinter steht der Impuls einer Herdenvertreibung, um Raum für sich selbst zu bekommen. Das Gefühl, es wird eng, sogar wenn ich allein bin, entsteht, weil ich von all den Meinungen, Vorurteilen der Gesellschaft in mir besessen bin. Montaigne versucht, Abstand von dieser inneren Besessenheit zu gewinnen. Das ist nachvollziehbar als ein Raumschaffen, das vieles ermöglicht.

Wie dieses Raumschaffen konkret aussieht, beschreiben Sie an den Beispielen Michel de Montaigne und Max Stirner.

Es ist erhellend, sich diese beiden Denkbewegungen anzusehen. Bei dem Versuch, die innere Herde zu überwinden, stellt Montaigne fest, was geschieht, wenn ich zu mir selber komme. Ist da etwas absolut Festes, Kompaktes, auf das ich mich zurückziehen kann? Er antwortet: Nein, das zerfließt mir; ich weiß gar nicht genau, wer ich selbst bin. Das führt zur Erfahrung der inneren Beweglichkeit. Max Stirner stellt sich ebenfalls die Frage: Was bleibt mir, wenn ich alle Gespenster der Gesellschaft austreibe? Seine Antwort lautet: Ich habe meine Sache auf nichts gestellt. Ich bin nicht etwas, sondern eine schöpferische Möglichkeit.

Wie sieht das Verhältnis Einzeln-Sein versus gesellschaftliches Sein bei Jean-Jacques Rousseau aus?

Rousseau ist in diesem Kontext eine besonders spannende Figur, weil hier der Widerspruch voll aufklafft: Einerseits der Widerspruch zwischen dem Solitären, der für sich selbst sein möchte; in seiner besonders beredten Art beschrieb er das Glücksgefühl des Bei-sich-Seins; gleichzeitig beklagte er sich über den Mechanismus der Entfremdung, den er durch die Gesellschaft erfuhr. Dieser Blick auf die Gesellschaft als das Fremde, als das Entfremdete, das macht ja sein großes Thema aus.

Wie löst Rousseau diesen Widerspruch auf, unter dem er einen Großteil seines Lebens gelitten hat?

Rousseaus Antwort lautet: Man kann gar nicht mit dem Widerspruch leben. Man muss eine Entscheidung treffen. Das wird bei Rousseau gerne vergessen: Er hat ja in seinem Buch "Du contrat social" eine Vision einer totalen Vergesellschaftung entwickelt, wo er ausdrücklich sagt, wenn wir ein funktionelles Zusammenleben haben wollen, müssen wir den Einzelnen aus seinem Einzeln-Sein herausreißen und ihm eine neue Basis geben. Das ist die völlige Umgruppierung vom Selbstsein zu einem Selbstsein in der Gesellschaft, das dann kein Selbstsein mehr ist, sondern die Realisierung des Slogans "Dein Volk ist alles und du bist nur ein Teil davon".

Was hat es mit der Kategorie des Einzelnen bei Sören Kierkegaard auf sich?

Kierkegaard ist ein ästhetischer Zauberer, der großen Wert auf Originalität und Erfindungsreichtum legt. Als Ästhetiker ist er sehr auf die Bühne bezogen und braucht das Publikum: Insofern ist er zutiefst vergesellschaftet. Zugleich empfindet er diese Abhängigkeit als eine Falle, die ihm von der Gesellschaft gestellt wird. Er versucht, die innere Vergesellschaftung, die er als Ästhet hat, aufzusprengen und wagt den Sprung ins Religiöse. Kierkegaard sagt, wir müssen uns von Gott ansprechen lassen; das heißt, auf seine Stimme zu hören, die keine gesellschaftliche Stimme ist, die aber trotzdem mit mir spricht.

Für Kierkegaard ist der "Sprung" in die Sphäre des Religiösen ein gangbarer Weg zum Einzeln-Sein. Konnte er dies mit der Amtskirche vereinbaren?

Für Kierkegaard ist das Eintauchen in das Religiöse dasjenige, das uns vom Druck der Gesellschaft befreit und uns in eine ganz andere Kommunikation hineinbringt. Für den dänischen Philosophen war klar, dass der Glaubensbezug das ist, was einen einzeln machen kann. Das ist ein Religionsverständnis, das die Individualreligion gegen die Stammesreligion stellt. Kierkegaards Aufstand gegen die Kirche seiner Zeit ist der Aufstand gegen die Banalisierung des Religiösen. Er besteht darauf, dass der recht verstandene Glaube vereinzelt. So ist Kierkegaard beides: Einer, der dem Nachdenken über das Einzeln-Sein eine unnachahmliche Sprache gegeben hat - und in Tateinheit damit die Konzeption einer individualistischen, existenziellen Religion begründet hat.

Wie sieht Ihr Fazit des Projekts Einzeln-Sein aus?

Wenn man von der Vogelperspektive auf den gesamten Vorgang blickt, kann man sagen, dass ein kultureller Zusammenhang einer Gesellschaft davon lebt, dass es eine hinreichende Zahl von Perspektiven gibt, die ihre Kreativität daraus beziehen, dass sie nicht anschlussfähig, sondern etwas Besonderes sein wollen. Und außerdem zeigt sich ja in der Pandemiezeit ganz besonders, dass wir nicht nur auf gemeinschaftliches solidarisches Handeln angewiesen sind, sondern auch auf die Fähigkeit, einzeln sein zu können und daraus auch etwas Bereicherndes machen zu können.